Alle unter einem Dach

Von Karl-Heinz Heinemann |
Unter vielen Namen wird heute an Schulsystemen gearbeitet, die die alte Dreigliederung in Gymnasium, Real- und Hauptschule überwinden sollen. Am 27. November 1969 unterzeichneten die Kultusminister aller Länder die Empfehlung, mindestens 40 Gesamtschulmodelle einzurichten.
"Es ist uns nicht gelungen, gewisse Bildungsbarrieren zu überwinden. Es ist uns auch nicht gelungen, mehr Arbeiterkinder zur Universität, also zum Abitur zu bringen und zum Studium zu bringen",

stellte der Berliner Schulsenator Carl-Heinz Evers 1966 fest. Mit einer sogenannten Schule für alle wollte er das Bildungssystem grundlegend reformieren. Im gleichen Jahr eröffnete er in West-Berlin die erste deutsche Gesamtschule mit dem Ziel, vor allem Kinder aus bildungsfernen Schichten besser zu fördern, als dies bisher möglich war.

"Und aus dieser Kenntnisnahme der Wirklichkeit des Bestehenden haben wir dann die neuen Ansätze: Gesamtschule, stärkerer Ausbau der vorschulischen Erziehung, zehntes Schuljahr für die Hauptschule entwickelt."

An seiner Gesamtschule konnten Schüler das Abitur erreichen, die es sonst nur bis zum Hauptschulabschluss geschafft hätten. Die Neugründung hatte großen Zulauf, und so folgten bald weitere Schulen dieses Typs. Es gab keine festen Jahrgangsklassen mehr, sondern Leistungskurse, die altersgemischt zusammengesetzt waren, keine Hausaufgaben, sondern individuelle Arbeitsstunden in der Schule. Die Ganztagsschule bot zudem Mittagessen und viele Möglichkeiten der Freizeitgestaltung. Schulleiter Horst Mastmann erklärte damals einem Reporter:

"Mir scheint wichtig zu sein, dass hier mehr Eltern ihren Kindern die Möglichkeit geben, zumindest erst einmal bis zur zehnten Klasse eine Schule zu besuchen. Und das ist ja eine der wichtigen Aufgaben der Gesamtschule, dass man heute eben nicht mehr doch noch unreife Kinder letztlich am Ende der achten Jahrgangsstufe in die Berufswelt entlässt."

Zu Beginn der 60er-Jahre hatten Politiker aller Parteien vor einer Bildungskatastrophe gewarnt: Das dreigliedrige Schulsystem produziere zu wenig Fachkräfte und Akademiker. Am 27. November 1969 beschlossen die Kultusminister, versuchsweise mindestens 40 Schulen dieses Typs zu errichten. Und es sollte geprüft werden, ob das ganze deutsche Schulsystem nach diesem Muster organisiert werden könnte. In den folgenden Jahren wurden unterschiedliche Modellschulen gegründet, die alle eines gemeinsam hatten: Vom Hauptschulzeugnis bis zum Abitur konnten die Schüler alle Abschlüsse erreichen. Die Begabungen der einzelnen Schüler, so die herrschende Meinung, waren nicht vorgegeben, sondern konnten durch entsprechende Förderung entwickelt werden. Der erste Schulleiter der Gesamtschule Dortmund-Scharnhorst Jürgen Theis:

"Man hatte sehr wohl die Absicht mit den Gesamtschulen, die gemeinsam in einem Haus zu unterrichten, aber es wurde dann eigentlich am Anfang immer vorgestellt, dass man für jede Sorte von Begabungen oder Fähigkeiten dann auch eine besondere Gruppe haben muss."

Um möglichst viele Kurse für die unterschiedlichen Fähigkeiten und Interessen einrichten zu können, brauchte man besonders große Schulen, glaubte man damals. In den Vorstädten wie in Dortmund-Scharnhorst wurden dafür riesige Lernfabriken gebaut.

"Das war zum Teil sehr extrem. In Dortmund bedauerte man es, dass man maximal nur acht Parallelklassen bilden konnte, weil sonst nicht genügend Platz für ein Riesengebäude gewesen wäre."

Doch diese Mammutschulen konnten ihren Anspruch nicht erfüllen. Die Kinder aus den sogenannten bildungsfernen Schichten blieben meist unter sich, die Unwirtlichkeit der Bauten und die hohen Schülerzahlen führten zu weiteren sozialen Problemen. In den 70er-Jahren spitzte sich die Debatte um die Umgestaltung der Schullandschaft heftig zu. Jürgen Theis:

"Das hängt sicherlich mit Widerständen von Kreisen der Bevölkerung zusammen, die für ihre Kinder sich eine Ausbildung wünschen, die nicht mit anderen zusammen sind, also die Vorstellung, dass man gemeinsam Schüler mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Neigungen gemeinsam in einer Lerngruppe unterrichten könnte, an sich eine uralte Geschichte der Reformpädagogik, die hat aber in der Bevölkerung nie große Resonanz gefunden."

Und so besuchen heute bundesweit etwa zehn Prozent aller Schüler Gesamtschulen, in Bayern und Baden-Württemberg sind es nicht einmal ein Prozent. Die Befürworter eines einheitlichen Schulsystems wollen nicht mehr die Lernfabriken der 70er-Jahre, sondern lieber feste Klassenverbände, in denen Schüler zwar gemeinsam, aber in unterschiedlichem Tempo und auf unterschiedlichen Niveaus arbeiten können. Und um die alten Glaubenskriege zu vermeiden, sprechen sie lieber von Gemeinschaftsschule als von Gesamtschule.