"Alle werden schmutzig"

Von Christian Find |
Er hat die Zauberflöte in einem Berliner U-Bahnhof präsentiert, der damals noch im Rohbau war. Immer wieder inszeniert er Opern an ungewöhnlichen Orten. Nun will Christoph Hagel die Johannes-Passion von Bach in Szene setzen, als Tanzstück im Berliner Dom.
"Der Mittelteil kommt zurück zu den fünf Acti, heißt Pilatus, der vierte Teil, etwas kürzer, heißt Crucifixus, logisch, der fünfte Sepulcro ..."

Christoph Hagel erklärt den Mitgliedern des Berliner Symphoniechors den Aufbau der Johannes-Passion. Für ihn ist das Herzstück der Passionsgeschichte die Begegnung zwischen Jesus und Pilatus. Hier, so sagt Hagel, habe der Kampf Jesu gegen das Establishment seinen dramatischen Höhepunkt erreicht, der schließlich auf die Kreuzigung hinausläuft, die brutalste Todesform, extrem erniedrigend. In der Empathie, dem Mitgefühl für das Leiden Jesu, darin liege doch die Basis für die westliche Zivilisation und die Gründung des Sozialstaats. Hagel möchte durch seine Inszenierung dieses Mitgefühl spürbar machen.

"Ich hab mich sehr schwer getan, in einer Stadt, in der Leiden und Sterben so uncool ist, so ein Thema aufzugreifen, sehr schwer getan. Und jetzt mach ich’s und bin voll Eifer dabei und wer weiß, vielleicht kann man ja die Stadt mal ganz woanders erwischen, ja?"

Als Hagel darüber nachdachte, wie er sein - eher säkulares - Publikum mit einem religiösen Werk und dazu noch in einer Kirche wie dem Berliner Dom erreichen kann, war ihm schnell klar, dass dies nur mit einer modernen Tanz-Inszenierung gelingen kann.

"Gerade ausgehend von dem dramatischen Vorgang, von der Wildheit des Mittelteiles habe ich gedacht, ja, das könnte Tanz sein. Und offen gesagt, ich habe ja ein berühmtes Popularstück gemacht, Flying Bach, und die Idee von Flying Bach war, die Fugentechnik zu visualisieren. Und wir versuchen es hier ähnlich: die Fugen, man nennt es die Turba-Chöre, die Chöre der Menschenmassen, genau zu choreografieren."

Hagel möchte der Musik Bachs durch den Tanz einen nachdrücklichen Ausdruck verleihen. Während der Chor und die Solisten singen, stellen die Tänzer auf einer großen Bühne das dramatische Geschehen dar. Dabei war der Berliner Dom mit seiner kaiserlichen Architektur Inspiration und Herausforderung zugleich. Besonders reizte Hagel daran der Widerspruch, den dieses prunkvolle Gebäude im Verhältnis zu dem einfachen Leben der Menschen von damals zum Ausdruck bringt.

"Also wir versuchen, das aufzubrechen, indem wir eine Bühne aufstellen, auf der Erde liegt. Die ist der Kontrast zu diesem Gebäude, das, ja, die Geschichte wird auf Erde passieren, und alle werden schmutzig. Es bleibt aber merkwürdig, es hängt trotzdem der Gekreuzigte da - sehr merkwürdig. Und es gibt die Loge für den Kaiser. Was soll man sagen?"

Eine große Bühne mit Erde mitten in den Altarraum zu stellen, dahinter eine Leinwand für Projektionen, das ist mehr als nur eine logistische Herausforderung. Mark Boese, der Produzent dieser Inszenierung, hat sie mit Begeisterung angenommen:

"Wir bauen natürlich hier im Berliner Dom eine relativ große bespielbare Bühne ein, die fast den gesamten Altarraum einnehmen wird und szenisch sozusagen komplett einbindet. Wir wollen Erde auf der Bühne haben, das heißt wir haben eine Staubentwicklung. Wie ist das verträglich mit dem Denkmalschutz und all diesen Aspekten? Es wird Brandenburger Erde sein, sehr schön, geruchsneutral, sehr schön zu tanzen. Wir hoffen, dass es gut funktioniert."

Und wenn es gut funktioniert, so hofft Christoph Hagel, kommt eine Geschichte dabei heraus, die allen nahe gehen wird, auch Menschen, die mit Kirche und Religion weniger am Hut haben.

"Die Geschichte ist natürlich hoch relevant für die Entwicklung der westlichen Zivilisation. Auch wenn wir nicht wissen, was davon wirklich geschehen ist, so ist es eine in sich sehr logische, zwangsläufige Geschichte eines religionspolitischen Machtkampfes, eines religionspolitischen Aufstands, in der es von den Evangelisten, von Johannes sehr genau geschildert wurde, wie die Politik war und wer welche Aktion in welchem Moment getan hat, dass es schließlich zu dieser Hinrichtung gekommen ist. Und es ist mit großer Konsequenz dargestellt sowohl in der Schrift als auch in der Musik, sogar noch verschärft durch die Wildheit der Chöre. Und der religionspolitische Mob, das haben wir die ganze Zeit. Das ist das, was mich als Geschichte interessiert hat; scharf zu trennen von der religiösen Versenkung."

Aber gibt es die auch? Gibt es neben dem politischen Machtkampf auch einen religiösen Aspekt in der Inszenierung? Christoph Hagel zögert und denkt etwas länger nach.

"Ich komm aus einem religiösen Zusammenhang, der wichtig ist für mich. Und die Künste sind ja überhaupt die Nachfolger der Religion in der Säkularisation. Da ich zuerst Musiker bin und dann Privatmann, sag ich jetzt mal, durch Bach wird Religion real."

Und das, obwohl die geistliche Musik Bachs nach seinem Tod immer mehr in Vergessenheit geriet. Bach, so sagt es Jörg Hansen, der Leiter des Bachhauses in Eisenach, galt nach seinem Tod eher als der Klavierspieler Bach, bekannt durch seine zahlreichen Etüden und das Wohltemperierte Klavier. Erst durch die Berliner Aufführung seiner Matthäus-Passion im Jahre 1829 erlebte die geistliche Musik Bachs eine Renaissance - den Durchbruch, der bis heute anhält.

"Die geistliche Musik war im Wesentlichen vergessen, und dann kam Mendelssohn, mit 19 Jahren probt er, gerade 20 geworden führt er das Ding auf vor dem preußischen König, vor Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Heinrich Heine, über tausend Berliner mussten abgewiesen werden, und die Aufführung wurde dreimal wiederholt. Das war der Siegeszug der Bach’schen geistlichen Werke, und aus diesem Ereignis haben wir eben etwas Wichtiges erwerben können, nämlich das restliche Aufführungsmaterial, was überhaupt noch in Privatbesitz war, 62 Chorstimmen, und die werden wir hier präsentieren."

Hier, das heißt in einer Sonderausstellung zu den "Passionen Bachs", die das Bachhaus Eisenach extra für die Aufführungen im Berliner Dom einrichtet. Auf vier Stationen, von denen sich auch eine in der Krypta des Doms befindet, können die Besucher Hintergrundinformationen bekommen. Kurze Animationsfilme erzählen von den wichtigsten Stationen im Leben Bachs. In Audio-Installationen kann man verschiedene Interpretationen seiner Musik nachhören und vergleichen.

"Wir zeigen Materialien aus der Entstehungsgeschichte der Passionen, die Textvorlagen, die Bach verwendet hat. Die Johannes-Passion ist sehr uneinheitlich zusammengesetzt. Eine Arie entnahm er einem Rhetoriklehrbuch, das in Leipzig gebraucht wurde. Das Herzstück der Johannes-Passion, der Choral "Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn, muss uns die Freiheit kommen", das ist kurioserweise gar kein Choral. Das ist eine Arie von einem Hamburger Operndichter namens Postel. Bach nimmt sie und erfindet dazu einen Choral. Diesen Choral hat’s noch nie gegeben. Wer in die Johannes-Passion geht und denkt, dass sind alte Lutherische Choräle, der irrt."

Was dem Erlebnis, das die Inszenierung verspricht, sicher keinen Abbruch tun dürfte. Denn die Geschichte vom Leiden Jesu und die Musik Bachs übte schon während der Proben auf die Chormitglieder eine Faszination aus, der sich wohl auch die Zuschauer während der Vorstellung nicht entziehen werden können; davon ist Christoph Hagel überzeugt.

"Die Geschichte ist das Thema und eine Gläubigkeit, die für Bach vielleicht automatisch war, aber wenn wir drauf blicken, man kann das nicht abtun. Es ist eine unglaubliche kulturelle Kraft. Bach beglaubigt das. Vielleicht gibt’s keinen Gott, aber es gibt einen Bach, das reicht."