Land der grünen Naturtunnel
Mecklenburg-Vorpommern ist neben Brandenburg das alleenreichste Bundesland. Die Baumreihen entlang seiner Straßen bis hoch an die Ostseeküste könnten die Entfernung von Lissabon nach Moskau überbrücken: 4.374 km. Warum und wie das Land seine Alleen schützt, hat Silke Hasselmann recherchiert.
Vorigen Samstag in Klütz in Nordwestmecklenburg nahe der Ostseeküste. Hier steht Norddeutschlands größtes Barockschloss Bothmer, umsäumt von Wassergräben und Alleen mit hochgewachsenen, schlanken Linden. Die Kulisse ist wie geschaffen für ein Picknick samt Freiluftkonzert der "Festspiele Mecklenburg-Vorpommern". Auch das aus Schleswig-Holstein stammende Ehepaar Meinz ist dafür angereist.
"Wir wandern gerade auf das Schloss Bothmer zu, hier in Klütz, und Sie beide haben gerade schon bemerkt: 'Was für eine wunderschöne Allee!' Man geht nicht mehr. Man schreitet, oder?"
"Ja. Also mich erinnert es eigentlich immer an Dome, an Kirchen. Kirchenschiffe. Es ist irgendwie so ein bisschen ehrfürchtig. Man stellt sich vor, wie das wohl über all die Jahrhunderte so war."
"Eine Allee ist wie geronnene Geschichte, und es zeigt ja, was unsere Vorfahren alles so angelegt haben. Insofern ist die Allee auch ein Zugang zu Geschichte, und es ist völlig uninteressant, welche Bäume das sind. Hauptsache, die Allee ist hübsch."
Eine 270 Meter lange Reihe von Linden
Noch einige Schritte bis zu einer Wegkreuzung. Rechterhand erhebt sich das frisch sanierte rote Backsteinschloss. Zur Linken wird ein gelbleuchtendes Getreidefeld von einer weiteren Allee durchschnitten. Was von weitem zweiköpfigen Weiden ähnelt, stellt sich als eine 270 Meter lange Reihe kleiner holländischer Linden heraus, deren Stämme einst gespalten worden waren, so dass sich daraus fortan zwei Kronen entwickelten.
Die seitlich daraus sprießenden Äste und Zweige wurden so geschnitten, dass sie den Eindruck einer langen Girlande erzeugen. Girlande auf Französisch: "Feston", weiß Markus Fein.
"Ja, die Feston-Allee, die auf so einen Hügel hochführt, so dass sie auch weithin sichtbar ist. Rechts und links sind die wunderschönen Felder. Die hat ja Kultcharakter."
"Herzlich willkommen, meine sehr verehrten Damen und Herren, zu diesem wunderbaren Open Air im Schlosspark von Klütz ..."
Seit zwei Jahren leitet Markus Fein die Musikfestspiele Mecklenburg-Vorpommern, die sich stets von Mitte Juni bis Mitte September erstrecken. Das Besondere: Egal, wo die über einhundert Festspielkonzerte stattfinden – der Weg dorthin führt immer auch durch grüne Naturtunnel.
"Wenn Sie nach Ulrichshusen fahren zum Konzert, dann fahren Sie ein Stück auf der Deutschen Alleenstraße. Wenn Sie zum alten Gutshaus in Stolpe bei Anklam fahren, sozusagen der Vorort der Insel Usedom, dann fahren Sie die letzten Kilometer auf dieses Gutshaus zu, indem Sie durch eine wunderschöne alte Eichenallee fahren mit einem alten Kopfsteinpflaster. Als Veranstalter freue ich mich und nehme das so ein bisschen als Schützenhilfe, dass die Menschen irgendwie poetisiert werden. Vielleicht waren sie im Büro oder wo auch immer, dann kommen sie an, und durch so einen Natureindruck kann eine kleine Verwandlung stattfinden. Man streift das irgendwie ab und kann sich dann auf die Kultur einlassen."
In Schlossgärten gab es die ersten Alleen
Alles beginnt im 18. Jahrhundert in den Schlossgärten, wo die Bäume zur Abgrenzung der Wege und zur verspielten Zierde dienen – siehe noch heute Ludwigslust, in Klütz und in Putbus auf Rügen. Die landschaftsgärtnerische Mode kam - was sonst - aus Frankreich. Genau wie die Bezeichnung, die von dem französischen Wort "aller" für "gehen" abgeleitet ist.
Ende des 19. Jahrhunderts sind in ganz Deutschland auch die Überlandwege und Chausseen bepflanzt - mit schnellwachsenden Pappeln, mit Kastanien, Linden, Eichen, Buchen, Lärchen, Ulmen. Sie grenzen die Äcker ab, bieten den Reisenden Orientierung sowie Schutz vor Sonne, Wind und Staub.
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg hätten sich Ost und West auch im Bereich Alleen auseinanderentwickelt, erklärt die Alleen-Beauftragte vom Bund Umwelt und Naturschutz in Mecklenburg-Vorpommern. Wirtschaftswunder - Drang nach Mobilität - "Freie Fahrt für freie Bürger" – Straßenverbreiterungen, so Katharina Brückmann: In der Bundesrepublik werden rund 50.000 Kilometer Alleen gefällt. Nicht so in der DDR:
"Während ja bei uns der Straßenausbau eher eine untergeordnete Rolle spielte und auch der Verkehr, konnten sich die Alleebäume eben prächtig entwickeln. Sie wurden auch im Winter nicht so besalzen, wie das heute der Fall ist. Es wurde allerdings auch in diesen vierzig Jahren kaum gepflanzt. Deswegen fehlt uns heute eine Generation, kann man sagen. Aber wir haben noch diesen schönen alten Alleebaum-Bestand."
Unter anderem auf der Insel Rügen. Katharina Brückmann, gelernte Baumpflegerin, ist an diesem Tag in Klein Kubitz unterwegs. Sie schaut sich an, wie es den 21 Linden geht, die vor sieben Jahren in der sturmzerstörten Alle ersatzweise gepflanzt worden waren.
Sturmschäden und Baumkrankheiten
Dabei gehen ihre Erinnerungen noch weiter zurück. 1990 - Wiedervereinigung. Auch im wiedergegründeten Land Mecklenburg-Vorpommern gilt es, das Versorgungsnetz zu erneuern, Straßen zu verbreitern, Radwege zu schaffen. Oft müssen die Straßenbäume weichen oder werden beschädigt.
Dann sind da Sturmschäden oder Baumkrankheiten, die mal die Eschen, mal die Ulmen befallen. Oder - wie derzeit - die Rosskastanie. Alles in allem wurden in den letzten 25 Jahren in MV rund 2300 Straßenkilometer Alleebäume gefällt. Doch in MV habe relativ rasch Umdenken eingesetzt - bei den Bürgern und bei der Politik, meint Katharina Brückmann.
"Das war die Geburtsstunde der Deutschen Alleenstraße, der Gedanke dahinter: `Passt auf! Hier ist ein ganz wertvolles Kulturgut, das die neuen Länder eingebracht haben in Gesamtdeutschland und das es zu schützen gilt. 1993 hat die damalige Bundestagspräsidentin, Frau Rita Süßmuth, hier in Sellin die Deutsche Alleenstraße eingeweiht, und es ist ja heute die längste Kulturstraße."
Die Deutsche Alleenstraße – ein Projekt des ADAC sowie einiger Tourismus- und Naturschutzverbände. Rund 2900 km lang ist das Band aus Bäumen, das Ost und West verbinden soll, und das seinen Anfang auf Rügen nimmt.
Dessen Antlitz ist seit über 250 Jahren von Alleen geprägt. Obwohl in ganz Mecklenburg-Vorpommern 10.000 Alleebäume mehr gepflanzt wurden als alte abgeholzt worden sind, ist der Bestand auf der vorpommerschen Ostseeinsel um vier Prozent zurückgegangen. Schade, findet auch Fabian Kajahn aus Poseritz:
Rügen ohne Alleen ist nicht mehr Rügen
"Rügen ohne Alleen ist kein Rügen mehr. Wenn man durchfährt, wie ein Tunnel halt. Und teilweise jetzt, wenn man von Garz nach Poseritz fährt - so ein bisschen zwischendurch sind da ab und zu richtig kahle Bäume. Und das sieht einfach nicht mehr schön aus."
Die Kajahns leben seit 20 Jahren auf der Insel Rügen in dem Mini-Dorf Poseritz. Weit ab von den noblen Ostseebädern führen sie einen Landgasthof mit Pension. Auch ihre Gäste würden immer wieder von den Alleen schwärmen, sagt Claudia Kajahn.
Ihr Geheimtipp: die Stecke auf der Landesstraße 29 zwischen Prusewitz und Podemin. Dieser Teil der Deutschen Alleenstraße sei noch "so richtig urig", während das grüne Dach anderenorts immer lichter werde.
Kürzlich fuhr Claudia Kajahn nach Schwerin und übergab dem Energie- und Verkehrsminister Unterschriften von über 30 Unternehmern und 1700 Privatpersonen. Die Politik möge sich stärker für den Erhalt und Schutz des alten Baumbestandes einsetzen.
"Ja, wir haben hier in Kombination mit der Gemeinde Gustow das Thema aufgegriffen, weil uns über zwanzig Jahre hinweg aufgefallen ist, dass an der Deutschen Alleenstraße immer weniger Bäume Bestand haben. Jedes Jahr werden Bäume gefällt und es werden keine nachgepflanzt. Und somit haben wir uns dann zusammengeschlossen als Unternehmerinitiative und haben versucht, über das Energieministerium uns Gehör zu verschaffen, damit man diese Problematik erstmal angeht."
Kultur versus Verkehrssicherheit
Warum werden die Lücken nicht geschlossen? Und warum müssen es bei größeren Neupflanzungen immer mindestens 3 - 4,5 Meter Abstand zur Fahrbahnkante sein, während die alten Bäume oft viel näher stehen? Diese Nähe zur Fahrbahn sei eben bei Verkehrsunfällen oft das Problem, argumentiert Verkehrsminister Christian Pegel.
"Dass Menschen überleben, ist die erste Prämisse, der wir in der Verkehrssicherheitsarbeit folgen."
Alleebäume töten nicht. Sie stehen nur da, weiß auch Christian Pegel. Doch gerade auf engen Strecken könnten selbst kleinste Fahrfehler tragisch enden, weil es kaum Platz zum Ausweichen gibt. Auch, aber nicht nur deshalb schreibe der neue Alleen-Erlass in MV diesen Mindestabstand für neue Alleebäume vor.
"Wenn wir drei bis 4,50 Meter hinbekommen, dann sind wir in einem Abstand, der den Wurzeln sehr viel mehr Leben ermöglicht, der den Salzeintrag im Winter deutlich verringert. Auch unsere Vorfahren haben kluge Distanzen zwischen dem Ende der Straße bzw. des damaligen Weges und dem Baumbeginn gehabt. Die sind bloß zwischenzeitlich so dicht rangewachsen; unsere Fahrzeuge sind nun mal so breit, wie sie sind. Und ich glaube nicht, dass wir schmalere Fahrzeuge hinkriegen."
Einen jungen Baum an dieselbe Stelle zu pflanzen, wo gerade ein einzelner alter Alleebaum abgestorben oder gefällt worden ist, würde die Probleme nur fortschreiben. Ersatz drei bis vier Meter von der Fahrbahnkante weg zu setzen, sei aber auch schwierig, so der zuständige Minister. Oft müsse man sich aufwendig mit den Grundeigentümern auseinandersetzen. Außerdem sei der Reihencharakter beschädigt, wenn einzelne Bäume aus der Reihe springen.
Viele Alleen haben ihr Höchstalter erreicht
Zwar hat Christian Pegel den Rüganern zugesagt, ab Herbst nach sinnvollen Ausnahmemöglichkeiten entlang der Deutschen Alleenstraße suchen zu lassen. Doch grundsätzlich beweist er Mut zur Lücke und zu langfristigem Denken.
"Denn eines steht auch fest: Viele Alleen haben von ihrem Alter und von der Baumart her sowieso in den nächsten Jahren eher das Ende ihrer Lebenszeit erreicht. Es ist ja auch nicht so, als ob die für die Ewigkeit da wachsen und alle sich vorstellen, wir nehmen da jetzt 600 Jahre alte Eichen raus. Von daher schauen wir immer, dass wir gleich eine ganze lange Allee pflanzen. Auf Rügen gibt´s da mehrere Beispiele, die in diesem und in den nächsten Jahren passieren. Da reden wir oft von 100, 150 Bäumen, die am Stück gepflanzt werden."
So auch entlang der neuen Parallelstrecke zur B 96 auf Rügen. Gestern: Großer Bahnhof mit Kanzlerin und Ministerpräsident beim ersten Spatenstich für den sieben Kilometer langen Schlussabschnitt zwischen Samtens und Bergen. 122 alte, gesunde Alleebäume müssen dafür weichen.
Neue sollen gepflanzt werden. Deren Kronen werden sich über der dann dreispurigen Bundesstraße sicher nie zu einem grünen Tunnel zusammenschließen. Doch ein schattenspendender Hain kann daraus allemal werden - zum Wohle künftiger Reisegenerationen.