Allein in die große Stadt

Isabel liebt ihren großen Bruder über alles. Als er weit weg in die große Stadt geht, ist die 14-Jährige so verzweifelt, dass sie beschließt, ihm zu folgen. Der US-Autor Daniel Mason erzählt in seinem Roman "Die Musik der Ferne" die Geschichte seiner brasilianischen Protagonistin mit kraftvollen Bildern.
Im modernen Märchen wird Aschenputtel nicht durch den Prinzen gerettet, sondern muss seinen eigenen Weg finden. Wie kann ein Leben aussehen, das maßgeblich vom Mangel bestimmt wird? Wo es viel weniger um die eigenen Wünsche und Vorstellungen geht, als um die Frage, wie arrangiere ich mich mit den Gegebenheiten und wie überlebe ich die Krisen?

Isabel wird im Nordosten Brasiliens in eine karge Welt hineingeboren. Ihre Eltern leben in einem kleinen Dorf, deren Bewohner Zuckerrohr anbauen. Doch immer wieder leiden die Menschen unter der Dürre. Der einzige Lichtblick in Isabels Leben ist ihr älterer Bruder Isaias. Er ist ungestüm und lebhaft und seine große Leidenschaft gilt seiner Geige

Isaias nimmt seine kleine Schwester mit, wenn er wilde Vögel beobachtet und die Umgebung erkundet. Die Verbindung zwischen den beiden Geschwistern wird nicht nur durch eine große, übernatürliche Zuneigung getragen. So findet Isabel ihren Bruder in den riesigen wogenden Zuckerrohrfeldern auch dann, wenn er dort gar nicht zu sehen ist. Ihren Eltern ist Isabels Gabe, eine Wirklichkeit auch jenseits der realen Welt wahrzunehmen, unheimlich.

Doch dann geht Isaias fort in die große Stadt im Süden, um dort mit seiner Geige Geld zu verdienen. Nur einmal kommt er zu Besuch und erzählt von seinem Erfolg, danach meldet er sich nicht mehr. Isabel ist verzweifelt. Nachdem auch die Lebensbedingungen im Dorf immer schwieriger werden, entschließen die Eltern sich schweren Herzens, Isabel in die Stadt zu schicken, wo außerdem auch ihre Cousine lebt und arbeitet.

Auf offenen Bussen, den sogenannten Papageienstangen zusammengepfercht, fahren die Menschen vom Lande der großen unbekannten und lockenden Stadt entgegen. Allein der Glaube, dass sie ihren Bruder wieder finden wird, lässt Isabel die Strapazen überstehen.

Nur langsam findet die 14-Jährige sich in der großen Stadt, die ihre eigenen Gesetze für den Überlebenskampf hat, zurecht und nimmt die Suche nach ihrem Bruder schließlich in die Hand. Es ist ein langer Weg, an dessen Ende Isabel erwachsen geworden ist und ihr Leben selbst gestalten kann.

Isabels Geschichte ist ein modernes Märchen, das Daniel Mason in anrührender Weise erzählt. Er beschreibt das entbehrungsreiche Leben auf dem Lande und die Chancen, aber auch die Gefahren in der Großstadt so plastisch, dass der Leser alle Höhen und Tiefen miterlebt.

Dabei gibt es keine Wertungen. Das Leben ist so, und es geht immer weiter. Isabel wird getragen von der Kraft der Liebe zu ihrem Bruder und dem Glauben an seine Musik. Doch sie muss lernen, dass sie auch ein eigenes Leben hat, für das sie allein die Verantwortung trägt.

Diese Botschaft vermittelt der Autor unaufdringlich, in kurzen knappen Sätzen. Schnell gerät der Leser in den Bann der Geschichte durch intensive sprachliche Bilder aus Isabels Gefühlswelt. Diese lassen den Roman nicht nur von der Handlung her in Südamerika spielen, sondern erinnern auch an dortige Autoren wie Gabriel Garcia Marquez.

Dabei ist Daniel Mason gebürtige US-Amerikaner, der in Harvard Biologie und Medizin studiert hat. Während eines Forschungsaufenthalts zur Malaria an der thailändisch-burmesischen Grenze schrieb er neben seiner Arbeit im Krankenhaus seinen ersten Roman "Der Klavierstimmer ihrer Majestät". Schnell erreichte der junge Autor damit die amerikanischen Bestsellerlisten, ebenso wie mit diesem, seinem zweiten Roman, der jetzt in zwölf weiteren Ländern erscheint.

Getragen wird die Poesie in Daniel Mansons Romanen von der Musik - diesmal durch eine Geige, während in seinem ersten Roman ein Piano die Schwingungen bestimmte.

Rezensiert von Birgit Koß

Daniel Mason: Die Musik der Ferne
Aus dem Amerikanischen von Barbara Heller
Roman, Karl Blessing Verlag, München, 2008
350 Seiten, 19,95 Euro