HOWL
nach Allen Ginsberg
Regie: David Marton
Volksbühne Berlin
Geheul im Endzeit-Amerika
08:04 Minuten

"Howl" nach Allen Ginsbergs berühmtem Langgedicht ist ein unerwartet verspieltes Daseinsballett an der Volksbühne in Berlin. Nach einem eindringlichen Start verliert sich der Abend aber in chaotischer Beliebigkeit.
"Moloch!", brüllt Volksbühnen-Veteranin Silvia Rieger immer wieder mit vernuschelter, aggressiver Verbitterung. Man muss schon sehr genau hinhören, um den Rest der Verse zu verstehen, die sie mit funkelnden Augen ins Publikum zischt, stößt, weggurgelt. Aber das ist eben die eigentliche, die wirkliche Überraschung dieser Berliner Premiere, die angekündigt hatte, Allen Ginsbergs legendäres Langgedicht "Howl" auf die Bühne zu bringen: Gesprochen wird hier fast gar nicht. Hinzu kommt: Nur die allerletzten Abschnitte des gewaltigen Poems werden dargebracht – und dann auch noch in umgekehrter Reihenfolge.
Es ist immer noch ein ungeheurer Text, Ginsbergs Mitte der 50er-Jahre entstandenes "Geheul", das mit den berühmten Worten beginnt: "Ich sah die besten Köpfe meiner Generation zerstört vom Wahnsinn…" Ein Skandalgedicht voller homoerotischer Obszönitäten und gesellschaftskritischem Furor, ein Befreiungsschlag der Beat-Generation als langer Fluss von fiebrigen Assoziationen, Bilderräuschen, aus Wut und Übermut, Schwärmerei und Weltekel.
Abstrakt und überzeitlich ist diese Welt
Regisseur David Marton aber nimmt "Howl" nur als Sprungbrett, um wieder einmal in seine ganz eigene, sehr spezifische Musiktheaterwelt zu gelangen. Und die schaut ebenfalls nicht zurück auf die 50er-Jahre und das, was danach kam. Kaum Jazz, kein Bob Dylan, keine Patty Smith (die sich von Ginsberg haben inspirieren lassen), stattdessen furios insistierende Minimal-Music-Blöcke und immer wieder traurige Abstürze in die Kompositionen des Barock.
Das Ensemble musiziert und singt mit Feuereifer live auf der Bühne, spielt Klavier, Kontrabass, Cembalo, Trompete und schlägt die Trommel mit ungeheurer Wucht. Angesiedelt ist dieser Gefühlsjahrmarkt in einer Art melancholischem Endzeit-Amerika.
Vor stimmungsvollen Dämmerhorizonten tut sich ein Trümmerhaufen mit Vergnügungspark-Reliquien auf, ein Springbrunnen, dazu Mauer- und Holzbankreste, zwischen denen sich die Darstellerinnen und Darsteller tummeln, lieben, verlassen, in denen sie abgeschmackte Albernheiten aufführen und tiefe Verzweiflungsgesten zelebrieren. Abstrakt und überzeitlich ist diese Welt und öffnet doch immer wieder Wunden des Nicht-Dazugehörens, des Nicht-Hineinpassens, des Nicht-Zueinanderkommens.

Abstrakt und überzeitlich ist diese Welt in dämmrigem Licht.© Archiv Agentur Zenit/david baltzer/bildbuehne.de
Marton versucht gar nicht erst, Ginsbergs Poem zu illustrieren
Ginsbergs Gedichtspersonal ist ahnbar: erotische Matrosen, Kinderwagenmütter, sich entziehende Liebhaber. Vor allem aber seine Mutter, die in einer psychiatrischen Klinik starb und ebenfalls im Gedicht vorkommt, wird immer wieder über die Drehbühne in ihrem Leidenszustand ins Bild gerückt. Entsprechend endet der Abend dann auch mit einem schmerzlichen, absichtlich unsauber vorgetragenen "Stabat Mater".
Es ist grundsätzlich durchaus bewundernswert, dass David Marton gar nicht erst den Versuch unternimmt, Ginsbergs Meisterstück zu illustrieren, nachzuerzählen, sprachlich möglichst originell deklamieren zu lassen. Die wenigen Momente, in denen es dann doch passiert, beweisen schon, dass man es lieber lassen sollte.
Stattdessen baut er einen eigenen, subtil an die Vorlage angelehnten Kosmos, ein unerwartet verspieltes Daseinsballett, das sich nach einer eindringlichen ersten Hälfte zunehmend in chaotischer Beliebigkeit verliert. Es fehlt dann eben doch der Inhalt am Ende dieser aufmüpfigen Adaptionsverweigerung, es fehlen Aussage und begründeter, nachvollziehbarer Schmerz. Der Moloch ist weit weg, der Beat verklungen, das Fieber leider abgekühlt.