Alles andere als ein Märchenonkel

13.12.2011
Der englische Schriftsteller Charles Dickens war ein liebevoller Vater, aber auch ein Workaholic, der ein immenses Werk schuf und seine Frau schnöde abservierte. Die anrührenden Erinnerungen seiner Kinder sind nun erstmals auf Deutsch zu lesen.
Das Dezimalsystem ist eine segensreiche indisch-arabische Erfindung – für die Mathematik im Allgemeinen, für Handel und Wandel sowie für die Vermessung der Welt, der Wohnung und des eigenen Körpers im Besonderen. Auf den hiesigen Kulturbetrieb angewandt kann es dagegen Überdruss erzeugen. Ein Geburts- oder Todestag mit ein, zwei Nullen führt gelegentlich zur Überschwemmung mit Namen und Werken, deren Bedeutung bei Licht besehen doch eher im Null-Bereich liegt.

Nicht so im Fall Charles Dickens. Er würde im kommenden Februar 200 Jahre alt. Pünktlich vorab gibt es einzelne Werke in wohlfeiler Nachauflage und eine neue, für das deutsche Publikum geschriebene Biographie. Und das ist gut so, denn es wird Zeit, den armen Dickens vom hierzulande vorherrschenden Ruch des Märchenonkels zu befreien, der rührende Geschichten von ausgebeuteten Kindern und hartleibigen, aber in Weihnachtsseligkeit bekehrten Geizhälsen zu erzählen hat.

Und dann ist da noch ein allerliebstes, hübsch gemachtes Büchlein im praktischen Handtaschenformat. Eine Collage aus Erinnerungen einiger der zehn Kinder, die Dickens' Frau Catherine zwischen 1837 und 1852 zur Welt brachte.

Ihr "Vater Charles Dickens" ist ein erstaunlich moderner Mann: "in jeder Hinsicht ein Familienmensch", dem keine häusliche Angelegenheit "zu trivial schien", der sich aufmerksam um die Kinder kümmert und "das kleine wunde Herz" zu trösten versteht. Auch, modern gesagt, ein Workaholic, der durch die halbe Welt tourt und nebenbei noch Bühnenauftritte absolviert, wenn er nicht gerade schreibt. Aber sein Arbeitszimmer hat kein Zutrittsverbot wie etwa das von Thomas Mann. Und dabei ist jede der Familienwohnungen obendrein bevölkert von seinen literarischen Figuren. Charlie, der Älteste, ist später sicher, "dass die Kinder seines Geistes für ihn manchmal realer waren als wir."

Schluriges Laisser-faire ist das Familienleben dennoch nicht. Dickens' erzieherischer Dreisatz heißt Pünktlichkeit, Ordnung und Fleiß. Damit hat er selbst die Traumata aus bitterarmer Kindheit und Klassendünkel überlebt. An einer Überdosis davon wird er früh und jäh sterben. Die Erzählungen über seinen Tod von Kate und Mary, den Zweit- und Drittältesten, sind anrührend – allerdings auch "familientauglich" zensiert, so wie manches andere. Die Mutter Catherine kommt kaum vor, der Vater hat sie recht schnöde abserviert und eine sehr junge Schauspielerin zur – heimlichen – Muse erkoren. Das glückliche Familienleben mit Hund und Katz, Spiel und Spaß, Haus und Garten ist also nur die eine Seite.

Die andere, ebenso viktorianische, wird in diskreten Zwischentexten nachgetragen vom kenntnisreichen und sprachgewandten Alexander Pechmann. Eigentlich müsste er als Autor-Herausgeber genannt sein. Er hat nicht nur zum ersten Mal die Texte der Kinder übersetzt, er hat sie auch kommentiert und zu einem runden, grob chronologischen Ganzen komponiert. Zu einem idealen Weihnachtsgeschenk für alle, die wissen wollen, wie dieser unvorstellbar produktive, populäre und politische Weltautor wohl privatim so war.

Besprochen von Pieke Biermann

Mary Dickens und Charlie Dickens: Unser Vater Charles Dickens
Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Alexander Pechmann
Aufbau Verlag, Berlin 2011
207 Seiten, 14,99 Euro
Mehr zum Thema