Alles für den Sozialismus, nichts für die Kinder
Zwei einsame Geschwister, eine Mutter, die sich nur auf den Sozialismus konzentriert - in "Rücken an Rücken" erzählt Julia Franck eine Familiengeschichte in der DDR. Dieses Bild werfe ein Schlaglicht auf das Elternsein heutzutage, sagt sie. Das Heranwachsen sei früher weniger behütet gewesen.
Frank Meyer: Vor vier Jahren hat Julia Franck den Deutschen Buchpreis gewonnen für ihren Roman "Die Mittagsfrau". Das Buch hat sich eine Million mal verkauft, es wurde in 33 Sprachen übersetzt. Julia Franck wurde spätestens mit diesem Buch zu den wichtigsten deutschen Autorinnen gezählt. Jetzt gibt es einen neuen Roman von Julia Franck. "Rücken an Rücken" heißt der, und die Autorin selbst ist jetzt hier bei uns im Studio. Seien Sie herzlich willkommen, Frau Franck!
Julia Franck: Hallo, Frank Meyer!
Meyer: Das Unerhörte an diesem Buch, ich habe es vorhin schon einmal angedeutet: Es geht um eine Mutter, die ihre Kinder an den Sozialismus verrät, kann man vielleicht sagen. Diese Mutter, die Bildhauerin Käthe, will für eine bessere Gesellschaft kämpfen, hat deswegen aber keine Zeit, keine Liebe übrig für ihre Tochter und ihren Sohn. Ist das für Sie das Zentrum Ihres Romans, die Geschichte dieser verweigerten Liebe?
Franck: Andersrum, ich glaube, für mich ist das Zentrum des Romans viel mehr die Beziehung zwischen Ella und Thomas, zwischen diesen beiden heranwachsenden jungen Menschen, die sich im Ersatz dieser nicht vorhandenen mütterlichen Aufmerksamkeit gegenseitig versuchen, das zu sein, was ihnen fehlt. Also zwei Menschen, die im Mangel selbst sehr hehren Idealen – geradezu romantischen Idealen – verfallen, die ihnen eine Liebe verheißen und nach einer Liebe sich sehnen lassen, die sie nicht einmal annähernd und ähnlich erfahren konnten.
Meyer: Meinen Sie jetzt die Liebe auch der Geschwister zueinander, die ja fast auch in manchen Szenen etwas Inzestuöses hat?
Franck: Ja vielleicht auch die Unschuld, oder das Heile einer Liebe, das ist, glaube ich, charakteristisch zumindest auch für Thomas, der in der Liebe auch die Nähe zur Unschuld sucht und dem vielleicht in einer viel deutlicheren Klarheit bewusst wird, wie sehr er sich Kompromissen verschreiben müsste, und ein anderer werden müsste, um in einer Gesellschaft wie der seiner Mutter, einer Gesellschaft wie der sozialistischen, die sich da konstituiert, um darin zu bestehen.
Meyer: Man fragt sich natürlich auch als Leser: Was ist mit dieser Mutter eigentlich passiert, die ja etwas Monströses auch an sich hat? Das macht der Roman ja gleich ganz klar mit der ersten Sequenz: Da ist die Mutter verreist, zwei Wochen weg, ihre Kinder sind zehn, elf Jahre alt, sie lässt sie einfach alleine – schon das ist natürlich sehr überraschend. Die Kinder schlagen sich aber durch alleine, und als die Mutter wiederkehrt, freuen sie sich, schmücken das ganze Haus, putzen da, stellen Blumen hin, kochen eine Suppe, und die Mutter sieht nichts davon, die ist nur grob zu den Kindern, raunzt sie an, ist ein Ausbund an Herzlosigkeit in dieser Szene – was ist mit dieser Frau passiert?
Franck: Ich glaube, dass sie wie viele ihrer Generation auf die eine oder andere Weise diesen Nationalsozialismus überlebt hat, und natürlich nicht spurlos. Spurlos insofern nicht, als dass ich es nicht einfach nur als ein privates Unvermögen bezeichnen würde, die eigenen Kinder zu lieben, sondern als einen geradezu fatalen Idealismus, sich für eine Gesellschaft engagieren zu wollen, gerade im Nachklang der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und ihren Diskriminierungen darin, sich für eine Gesellschaft engagieren zu wollen. Und dieses Engagement überstrahlt schlicht alles und macht das Private ganz klein und kleinbürgerlich. In ihren Augen ist das eigene Kind offenbar nicht einmal so viel wert wie der Hund.
Und dieses Buch wirft natürlich anders herum auch ein Schlaglicht auf unsere zeitgenössische Ideologie einer Elternschaft oder Mutterschaft. Noch in meiner Kindheit war es relativ normal, zumindest in meiner Familie, dass wir auch mal tagelang allein waren und uns allein versorgt haben, auch in diesem Alter von elf oder zwölf Jahren. Dass die Kinder rundherum betreut sind und eine solche Eigenständigkeit, die natürlich auch Wildheit, Freiheit und dergleichen fordert, heute nicht mehr erfahren, liegt daran, dass wir uns sicher im Zuge des Jahrhunderts der Psychoanalyse und anderer Reflexionstechniken darüber glauben, klar zu sein, dass die Eltern sehr wichtig sind für den Schutz der Kinder.
Meyer: Wollen Sie damit sagen, dass wir heute quasi auf der Gegenseite der Pendelbewegung sind und die Rolle von mütterlicher, väterlicher Liebe heute überbewerten?
Franck: Na ja, wir rücken uns zumindest sehr ins Zentrum des Gedeihens eines Menschen, ins Zentrum insofern, als dass wir ja nicht nur eine physische fürsorgliche Anwesenheit für selbstverständlich halten und einfordern, sondern eine allumfassende, eine ideologische auch. Also die Kinder, wie sie heute aufwachsen, wachsen ja in einer engen Umklammerung durch ihre Eltern auf und haben überhaupt gar nicht mehr die Möglichkeit, ihre Mutter oder ihren Vater so distanziert und von außen auch so kritisch sehen zu dürfen, zu können, wie Thomas und Ella es zum Teil auch müssen.
Meyer: War das auch für Sie ein Grund mit, dieses Buch zu schreiben? Sie sind ja selbst Mutter und Autorin, also berufstätige Mutter, müssen dieses Gleichgewicht finden zwischen diesen verschiedenen Rollen, also ist das auch ein Konflikt, der sie antreibt, diese Frage, wie weit geht Mutterliebe und wo sind vielleicht auch ihre Grenzen?
Franck: Natürlich ist das auch ein Motiv oder eine Regung, die unmittelbar aus dem Alltag stammt, und wird man dieser Anforderung und den eigenen Idealen dabei nie gerecht und geschweige denn den mutmaßlichen von Kindern. Aber für mich stand bei dem Roman, wie gesagt, auch eher die Frage nach diesem freien Tod im Mittelpunkt, die Frage: Wie kommt ein Mensch dazu, sich so jung das Leben zu nehmen? Warum, und wie macht er das?
Meyer: Dazu müssen wir erklären, Thomas bringt sich am Ende um, der Sohn dieser Mutter, der Sohn von Käthe, und daran musste ich auch gerade denken, als sie von dieser Freiheit sprachen, die die Abwesenheit der Mutterliebe und des gluckenhaften Umsorgens auch schafft. Thomas gerät praktisch in eine radikale Freiheit, weil er unbehütet ist von dieser mütterlichen Liebe, und eine solche Freiheit, die ihm dann auch die Freiheit gibt, von diesem Leben Abschied zu nehmen?
Franck: Ja, zumindest ihm die Erkenntnis nahelegt, dass es sich um eine Entscheidung handelt, ob man ein Leben annehmen möchte, annehmen kann oder nicht annehmen möchte. Er hat ja die Gelegenheit, sich nicht allein das Leben zu nehmen, diese Gelegenheit hat natürlich nicht jeder Mensch, aber ich denke, dass die Freiheit darin zugleich auch Beschränkung erfährt: Beschränkung durch Notwendigkeiten, die natürlich auch in pauschale und plakative Formen gepresst wurden, Einsicht in die Notwendigkeit, die Freiheit sei die Einsicht in die Notwendigkeit, war ja eine solche plakative Formel, wie sie vom Sozialismus auch im Erziehungswesen propagiert wurde. Einsicht in die Notwendigkeit – für einen Thomas als Romantiker ist das wahrscheinlich eher die Einsicht, dass die Liebe nur eine Ewigkeit und ins Ewige weist, eine Ewigkeit erlangt, wenn er mit ihr scheidet.
Meyer: Nun müssen wir kurz erklären, er tritt mit einer Freundin oder einer ihm sehr nahestehenden Frau aus dem Leben, sie bringen sich gemeinsam um, geradezu auf kleist’sche Weise – gestern war ja der 200. Todestag Heinrichs von Kleist, der sich auch gemeinsam mit einer Frau umgebracht hat – dem begegnet man praktisch wieder in Ihrem Roman, auf eine verwandelte Form. Ihr Buch ist jetzt seit einigen Wochen auf dem Markt. Es ist in einigen Kritiken sehr harsch kritisiert worden, danach würde ich Sie gern fragen, und es wurde gesagt, Sie hätten Gut und Böse zu klar aufgeteilt in Ihrem Buch, zum Beispiel zwischen dieser bösen Mutter und diesem romantischen Sohn, Thomas. Die Sprache Ihres Romans – ihm wurde der Kitsch vorgeworfen, eine Dramaturgie des Grauens –, was fangen Sie an mit so einer Kritik?
Franck: In derselben Kritik, in der es um Kitsch und die Dramaturgie des Grauens ging, wurde ja auch befunden, dass ich die Erinnerungskultur störe, indem ein KZ-Überlebender zum Kinderschänder werde in dem Roman. Das, finde ich, ist geradezu eine Blockwart-Mentalität, die ich überraschend finde, auch überraschend, wie unwidersprochen sie in Deutschland geäußert wird, denn selbst aus einer Familie sogenannter Überlebender kommend, weiß ja nicht nur ich, wusste schon Primo Levi, wussten schon viele, auch Zeitgenossen, dass Opfer Beschädigungen erhalten. Das ist geradezu einer Leugnung der Geschichte und auch des Grauens von Konzentrationslagern des Nationalsozialismus gleichkommend, wenn man annimmt, ein Opfer sei einfach nur ein gutes armes Märtyrerwesen, sondern das Opfer ist natürlich gekennzeichnet, ist geprägt von seinen Beschädigungen. Wie soll ein Mensch aus einem Konzentrationslager herauskommen? Das erstaunt mich schon.
Aber der Furor, der darin und in solcher Kritik deutlich wird, der ruft selbst natürlich nach dem Kitsch, den er glaubt, hier erkannt zu haben, er ruft danach, dass es das gute Opfer gebe, dass es den bösen Täter gebe, es ruft nach eben jener moralistischen Unterteilung, und insofern glaube ich, dass das Buch offenbar einen Nerv trifft, und mit diesem Treffen zumindest eine Diskussion darüber in Gang kommen kann: Wie dürfen wir über Geschichte schreiben, was bedeutet Erinnern? Wird Erinnern moralistisch einer Gesellschaft als Ganzem gerecht?
Wollen wir hier wieder nationalistisch, patriotisch erinnern und … das sind Fragen, die ein solcher Roman natürlich aufwirft, und ich glaube, dass die Sprache selbst nicht kitschig ist. Da bin ich ziemlich sicher, aber ich glaube, dass das, was damit gemeint ist, nämlich das Rühren an Emotionen und das Aufrühren von Emotionen, das Mitfühlen, ich sage ja an keiner Stelle, dass die Käthe böse ist. Ich beschreibe, wie sie spricht, ich beschreibe, wie der Thomas spricht, wie er sie liebt, trotzdem sie ihn nicht schützt. Das, glaube ich, diese Wertung unterliegt der Suggestion und der Suggestionskraft des Romans auf den Kritiker.
Meyer: Der Roman "Rücken an Rücken" von Julia Franck. Erschienen ist er im S. Fischer Verlag mit 383 Seiten, und zum Preis von 19,95 Euro zu haben. Julia Franck, vielen Dank für den Besuch bei uns!
Franck: Ich danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Julia Franck: Hallo, Frank Meyer!
Meyer: Das Unerhörte an diesem Buch, ich habe es vorhin schon einmal angedeutet: Es geht um eine Mutter, die ihre Kinder an den Sozialismus verrät, kann man vielleicht sagen. Diese Mutter, die Bildhauerin Käthe, will für eine bessere Gesellschaft kämpfen, hat deswegen aber keine Zeit, keine Liebe übrig für ihre Tochter und ihren Sohn. Ist das für Sie das Zentrum Ihres Romans, die Geschichte dieser verweigerten Liebe?
Franck: Andersrum, ich glaube, für mich ist das Zentrum des Romans viel mehr die Beziehung zwischen Ella und Thomas, zwischen diesen beiden heranwachsenden jungen Menschen, die sich im Ersatz dieser nicht vorhandenen mütterlichen Aufmerksamkeit gegenseitig versuchen, das zu sein, was ihnen fehlt. Also zwei Menschen, die im Mangel selbst sehr hehren Idealen – geradezu romantischen Idealen – verfallen, die ihnen eine Liebe verheißen und nach einer Liebe sich sehnen lassen, die sie nicht einmal annähernd und ähnlich erfahren konnten.
Meyer: Meinen Sie jetzt die Liebe auch der Geschwister zueinander, die ja fast auch in manchen Szenen etwas Inzestuöses hat?
Franck: Ja vielleicht auch die Unschuld, oder das Heile einer Liebe, das ist, glaube ich, charakteristisch zumindest auch für Thomas, der in der Liebe auch die Nähe zur Unschuld sucht und dem vielleicht in einer viel deutlicheren Klarheit bewusst wird, wie sehr er sich Kompromissen verschreiben müsste, und ein anderer werden müsste, um in einer Gesellschaft wie der seiner Mutter, einer Gesellschaft wie der sozialistischen, die sich da konstituiert, um darin zu bestehen.
Meyer: Man fragt sich natürlich auch als Leser: Was ist mit dieser Mutter eigentlich passiert, die ja etwas Monströses auch an sich hat? Das macht der Roman ja gleich ganz klar mit der ersten Sequenz: Da ist die Mutter verreist, zwei Wochen weg, ihre Kinder sind zehn, elf Jahre alt, sie lässt sie einfach alleine – schon das ist natürlich sehr überraschend. Die Kinder schlagen sich aber durch alleine, und als die Mutter wiederkehrt, freuen sie sich, schmücken das ganze Haus, putzen da, stellen Blumen hin, kochen eine Suppe, und die Mutter sieht nichts davon, die ist nur grob zu den Kindern, raunzt sie an, ist ein Ausbund an Herzlosigkeit in dieser Szene – was ist mit dieser Frau passiert?
Franck: Ich glaube, dass sie wie viele ihrer Generation auf die eine oder andere Weise diesen Nationalsozialismus überlebt hat, und natürlich nicht spurlos. Spurlos insofern nicht, als dass ich es nicht einfach nur als ein privates Unvermögen bezeichnen würde, die eigenen Kinder zu lieben, sondern als einen geradezu fatalen Idealismus, sich für eine Gesellschaft engagieren zu wollen, gerade im Nachklang der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und ihren Diskriminierungen darin, sich für eine Gesellschaft engagieren zu wollen. Und dieses Engagement überstrahlt schlicht alles und macht das Private ganz klein und kleinbürgerlich. In ihren Augen ist das eigene Kind offenbar nicht einmal so viel wert wie der Hund.
Und dieses Buch wirft natürlich anders herum auch ein Schlaglicht auf unsere zeitgenössische Ideologie einer Elternschaft oder Mutterschaft. Noch in meiner Kindheit war es relativ normal, zumindest in meiner Familie, dass wir auch mal tagelang allein waren und uns allein versorgt haben, auch in diesem Alter von elf oder zwölf Jahren. Dass die Kinder rundherum betreut sind und eine solche Eigenständigkeit, die natürlich auch Wildheit, Freiheit und dergleichen fordert, heute nicht mehr erfahren, liegt daran, dass wir uns sicher im Zuge des Jahrhunderts der Psychoanalyse und anderer Reflexionstechniken darüber glauben, klar zu sein, dass die Eltern sehr wichtig sind für den Schutz der Kinder.
Meyer: Wollen Sie damit sagen, dass wir heute quasi auf der Gegenseite der Pendelbewegung sind und die Rolle von mütterlicher, väterlicher Liebe heute überbewerten?
Franck: Na ja, wir rücken uns zumindest sehr ins Zentrum des Gedeihens eines Menschen, ins Zentrum insofern, als dass wir ja nicht nur eine physische fürsorgliche Anwesenheit für selbstverständlich halten und einfordern, sondern eine allumfassende, eine ideologische auch. Also die Kinder, wie sie heute aufwachsen, wachsen ja in einer engen Umklammerung durch ihre Eltern auf und haben überhaupt gar nicht mehr die Möglichkeit, ihre Mutter oder ihren Vater so distanziert und von außen auch so kritisch sehen zu dürfen, zu können, wie Thomas und Ella es zum Teil auch müssen.
Meyer: War das auch für Sie ein Grund mit, dieses Buch zu schreiben? Sie sind ja selbst Mutter und Autorin, also berufstätige Mutter, müssen dieses Gleichgewicht finden zwischen diesen verschiedenen Rollen, also ist das auch ein Konflikt, der sie antreibt, diese Frage, wie weit geht Mutterliebe und wo sind vielleicht auch ihre Grenzen?
Franck: Natürlich ist das auch ein Motiv oder eine Regung, die unmittelbar aus dem Alltag stammt, und wird man dieser Anforderung und den eigenen Idealen dabei nie gerecht und geschweige denn den mutmaßlichen von Kindern. Aber für mich stand bei dem Roman, wie gesagt, auch eher die Frage nach diesem freien Tod im Mittelpunkt, die Frage: Wie kommt ein Mensch dazu, sich so jung das Leben zu nehmen? Warum, und wie macht er das?
Meyer: Dazu müssen wir erklären, Thomas bringt sich am Ende um, der Sohn dieser Mutter, der Sohn von Käthe, und daran musste ich auch gerade denken, als sie von dieser Freiheit sprachen, die die Abwesenheit der Mutterliebe und des gluckenhaften Umsorgens auch schafft. Thomas gerät praktisch in eine radikale Freiheit, weil er unbehütet ist von dieser mütterlichen Liebe, und eine solche Freiheit, die ihm dann auch die Freiheit gibt, von diesem Leben Abschied zu nehmen?
Franck: Ja, zumindest ihm die Erkenntnis nahelegt, dass es sich um eine Entscheidung handelt, ob man ein Leben annehmen möchte, annehmen kann oder nicht annehmen möchte. Er hat ja die Gelegenheit, sich nicht allein das Leben zu nehmen, diese Gelegenheit hat natürlich nicht jeder Mensch, aber ich denke, dass die Freiheit darin zugleich auch Beschränkung erfährt: Beschränkung durch Notwendigkeiten, die natürlich auch in pauschale und plakative Formen gepresst wurden, Einsicht in die Notwendigkeit, die Freiheit sei die Einsicht in die Notwendigkeit, war ja eine solche plakative Formel, wie sie vom Sozialismus auch im Erziehungswesen propagiert wurde. Einsicht in die Notwendigkeit – für einen Thomas als Romantiker ist das wahrscheinlich eher die Einsicht, dass die Liebe nur eine Ewigkeit und ins Ewige weist, eine Ewigkeit erlangt, wenn er mit ihr scheidet.
Meyer: Nun müssen wir kurz erklären, er tritt mit einer Freundin oder einer ihm sehr nahestehenden Frau aus dem Leben, sie bringen sich gemeinsam um, geradezu auf kleist’sche Weise – gestern war ja der 200. Todestag Heinrichs von Kleist, der sich auch gemeinsam mit einer Frau umgebracht hat – dem begegnet man praktisch wieder in Ihrem Roman, auf eine verwandelte Form. Ihr Buch ist jetzt seit einigen Wochen auf dem Markt. Es ist in einigen Kritiken sehr harsch kritisiert worden, danach würde ich Sie gern fragen, und es wurde gesagt, Sie hätten Gut und Böse zu klar aufgeteilt in Ihrem Buch, zum Beispiel zwischen dieser bösen Mutter und diesem romantischen Sohn, Thomas. Die Sprache Ihres Romans – ihm wurde der Kitsch vorgeworfen, eine Dramaturgie des Grauens –, was fangen Sie an mit so einer Kritik?
Franck: In derselben Kritik, in der es um Kitsch und die Dramaturgie des Grauens ging, wurde ja auch befunden, dass ich die Erinnerungskultur störe, indem ein KZ-Überlebender zum Kinderschänder werde in dem Roman. Das, finde ich, ist geradezu eine Blockwart-Mentalität, die ich überraschend finde, auch überraschend, wie unwidersprochen sie in Deutschland geäußert wird, denn selbst aus einer Familie sogenannter Überlebender kommend, weiß ja nicht nur ich, wusste schon Primo Levi, wussten schon viele, auch Zeitgenossen, dass Opfer Beschädigungen erhalten. Das ist geradezu einer Leugnung der Geschichte und auch des Grauens von Konzentrationslagern des Nationalsozialismus gleichkommend, wenn man annimmt, ein Opfer sei einfach nur ein gutes armes Märtyrerwesen, sondern das Opfer ist natürlich gekennzeichnet, ist geprägt von seinen Beschädigungen. Wie soll ein Mensch aus einem Konzentrationslager herauskommen? Das erstaunt mich schon.
Aber der Furor, der darin und in solcher Kritik deutlich wird, der ruft selbst natürlich nach dem Kitsch, den er glaubt, hier erkannt zu haben, er ruft danach, dass es das gute Opfer gebe, dass es den bösen Täter gebe, es ruft nach eben jener moralistischen Unterteilung, und insofern glaube ich, dass das Buch offenbar einen Nerv trifft, und mit diesem Treffen zumindest eine Diskussion darüber in Gang kommen kann: Wie dürfen wir über Geschichte schreiben, was bedeutet Erinnern? Wird Erinnern moralistisch einer Gesellschaft als Ganzem gerecht?
Wollen wir hier wieder nationalistisch, patriotisch erinnern und … das sind Fragen, die ein solcher Roman natürlich aufwirft, und ich glaube, dass die Sprache selbst nicht kitschig ist. Da bin ich ziemlich sicher, aber ich glaube, dass das, was damit gemeint ist, nämlich das Rühren an Emotionen und das Aufrühren von Emotionen, das Mitfühlen, ich sage ja an keiner Stelle, dass die Käthe böse ist. Ich beschreibe, wie sie spricht, ich beschreibe, wie der Thomas spricht, wie er sie liebt, trotzdem sie ihn nicht schützt. Das, glaube ich, diese Wertung unterliegt der Suggestion und der Suggestionskraft des Romans auf den Kritiker.
Meyer: Der Roman "Rücken an Rücken" von Julia Franck. Erschienen ist er im S. Fischer Verlag mit 383 Seiten, und zum Preis von 19,95 Euro zu haben. Julia Franck, vielen Dank für den Besuch bei uns!
Franck: Ich danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.