Alles wegsperren?

Von Florian Felix Weyh |
Wenn Emotionen hohe Wogen schlagen, hilft es, in die Abstraktion zu schweifen. Stellen wir uns folgendes Gedankenexperiment vor: 100 Männer sind wegen schwerer Straftaten, nicht wenige wegen Kindermordes, zu langen Haftstrafen verurteilt worden. Irgendwann haben sie die Strafe abgesessen und kommen wieder frei.
Wir wissen zugleich, dass diese Männer eine unveränderliche Disposition für diese Taten aufweisen und sich im Gefängnis keine tatsächliche Besserung einstellen konnte. Bestenfalls ist es Ihnen möglich, fortan ihre pathologischen Neigungen zu unterdrücken, was 80 der 100 Männer gelingt. Doch 20 der Freigekommenen begehen wiederum schreckliche Straftaten, einige davon enden abermals mit Kindermord.

Am Stammtisch scheint die Sache klar: Ein Kinderleben zählt mehr als das Recht ehemals Verurteilter, sich wieder in Freiheit bewegen zu dürfen. Mit einem abstrahierenden Blick kommt etwas anderes heraus: Die Grundregel aller Moralphilosophie lautet neminem laedere – zu deutsch: Niemandem schaden! Anwendbar ist die Regel nur dort, wo Wissen um den Schaden besteht; Wahrscheinlichkeiten sind mathematische und keine ethischen Faktoren, auf sie kann sich das neminem laedere nicht beziehen. Dem vermeintlichen Schädiger zu schaden, indem man ihm die Freiheit nimmt, um potentiellen Schaden an anderen zu verhindern, ist schwer begründbar. Unser Recht funktioniert individuell, nicht statistisch, und selbst wenn es eine statistische Komponente enthielte, wäre die Relation 20:80 zu gering, um zur allgemeinen Gefahrenabwehr vier Fünftel der Männer wegzusperren. Ergo müssen alle 100 freikommen.

Das ist die liberale Position, und sie ist richtig. Andererseits ist sie unerträglich, denn sie kalkuliert ermordete Kinder mit ein. Die antiliberale Position macht es sich da einfacher und sagt: "Alle wegsperren, für immer!" Schon bei der Relation von einem Rückfalltäter auf 99 Nichtrückfällige wöge der absolute Wert des menschlichen Lebens mehr als der relative Wert menschlicher Freiheit von Vorbestraften. Der Bevölkerung scheint diese Position weniger unerträglich zu sein, was daran liegt, dass sie von derartigem Freiheitsentzug nie bedroht sein wird, da es ihr an barbarischen Disposition mangelt. Aber auch hier erhellt eine vielleicht verblüffende Gedankenkonstruktion das emotionale Dunkel: Unsere Gesellschaft tut viel, um die Talente ihrer Mitglieder zu fördern. Talente entziehen sich dem menschlichen Allmachtsanspruch: Man hat sie – oder hat sie nicht. Sie können verkümmern oder erblühen, das hängt von biographischen Faktoren ab, und dass sie überhaupt zum Ausdruck kommen, ließe sich selbst dann nicht zu Beginn eines Lebens vorhersagen, wenn man von ihnen durch eine Genanalyse erführe. Wo es solche positiven Begabungen gibt, existieren aber auch negative Talente: ebenso unveränderliche, dem menschlichen Willen kaum zugängliche, schwer beherrschbare Neigungen, deren Ausbruch weder zwingend, noch vorhersehbar ist, sondern von mannigfaltigen Umständen abhängt. So wie die Gesellschaft positives Talent belohnt, muss sie negatives Talent … bestrafen?

Nein - da liegt der Denkfehler des Stammtischs! Sie muss es würdigen. Das bedeutet etwas anderes als die Psychiatrisierung wie im Maßregelvollzug, wo negativ Talentierte als Patienten – freilich meist unheilbare - betrachtet werden. Es bedeutet aber auch etwas ganz anderes als die bezeichnenderweise aus dem Dritten Reich stammende Sicherheitsverwahrung, die sich nur unwesentlich von der Situation im Strafvollzug unterscheidet. Beide Positionen, die liberale und die antiliberale, lassen sich mit der Hilfskonstruktion des negativen Talents zusammenführen. Ja, es ist angemessen, allen 100 negativ Talentierten unseres Beispiels ohne Ansicht ihrer Individualität die Freiheit zu verwehren. Aber man schadet ihnen damit, und der Strafgedanke kann keine Begründung fürs Wegsperren mehr liefern.

Nach verbüßter Strafe herrscht moralisch tabula rasa. Die Bringschuld liegt damit bei der Gesellschaft, die auf anderen Feldern – denken wir an Enteignungen zugunsten des Gemeinwohls – seit langem das Mittel der Kompensation kennt: Wer Lebenszeit komplett enteignet, hat allerwenigstens für eine materielle Kompensation zu sorgen. Wenn diese 100 Männer ihr Leben lang nicht mehr freikommen, dann müssen sie es in Verhältnissen verbringen können, die mindestens denen des auskömmlichen Mittelstands entsprechen. Nimmt man die Kompensation wirklich ernst, darf es noch mehr Luxus sein – aber eben abzüglich der Bewegungsfreiheit. Das ist eben nicht, wie der Stammtisch behaupten würde, eine groteske Belohnung für schwere Straftaten, sondern die angemessene Würdigung des negativen Talents. Finanziell kann sich die Gesellschaft das leisten, denn es handelt sich um eine Kleinstgruppe im Staat. Moralisch muss sie es sich leisten: Nur so ist dem neminem laedere nach allen Seiten hin Genüge getan, und Anhänger des liberalen Rechtsstaats können morgens unbeschwert in den Spiegel sehen.

Soweit die Abstraktion. Wer hat den Mut, sie in die Welt zu tragen?


Florian Felix Weyh, Schriftsteller, geboren 1963, lebt als Autor und Publizist in Berlin. Preise und Stipendien für Drama, Prosa und Essay; seit 1988 arbeitet er regelmäßig als Literaturkritiker für den Deutschlandfunk. Ein neues Buch "Vermögen - Was wir haben, was wir können, was wir sind" erschien 2006. Verstreute Texte und weitere Informationen zur Person sind auf www.weyh.info zu finden.