Alltäglich und zugleich himmlisch
Ingo Schulze hat in "Orangen und Engel" neun Geschichten verfasst, in denen er den Leser ins Italien von heute führt. Es ist eine Art Anti-Baedeker, der eher zu aufmerksamer Gleitsicht einlädt als zum gezielten Blick.
Lange Zeit galt es dem Gebildeten - oder dem, der als solcher gelten wollte - als selbstverständliche Pflicht, nach Italien zu reisen. Der Höhepunkt der Grand Tour, der adeligen, dann bürgerlichen Bildungsreise, bestand darin, die Orte der klassischen Altertümer aufzusuchen, sich des abendländischen Erbes zu versichern und auch, sich von ihm inspirieren zu lassen.
In Architektur, Musik, Malerei und Literatur haben Italienreisen deutscher Künstler ihre Spuren hinterlassen. Was sie dort sahen und hörten, wurde reflektiert. Winkelmann, Goethe, Seume, Mendelssohn-Bartholdy, um nur wenige zu nennen, brachten den Daheimgebliebenen in ihren Werken die erhaben imaginierte Ferne nah. Jeder, der nach ihnen den idyllischen Sehnsuchtsort Italien aufsuchte, hatte seine Vorgänger studiert.
Nun ist auch Ingo Schulze nach Italien gereist. Ein Jahr lang war der Autor Stipendiat der Villa Massimo in Rom. In neun Geschichten – er selbst nennt sie "italienische Skizzen" - führt er, unterstützt vom Fotografen Matthias Hoch, den Leser ins Italien von heute. "Orangen und Engel" heißt der Anti-Baedeker – ein schönes Buch, in Leinen gebunden und mit knapp 50 Farbfotos ausgestattet, das eher zu aufmerksamer Gleitsicht einlädt als zum gezielten Blick.
Schulze berührt in jeder der Geschichten historischen Boden. Seinem Ich-Erzähler – wie Schulze ein Stipendiat der Villa Massimo – ist bei jedem Schritt bewusst, dass er sich in geschichtlichen und literarischen Traditionslinien bewegt. Geschickt, fast tänzerisch aber geht der Autor mit dieser Bürde um. Er stellt seinem neugierigen und aufmerksamen Erzähler noch eine Ehefrau und zwei Töchter zur Seite.
Gemeinsam mit ihnen muss dieser nun die Spuren der Vergangenheit entdecken. Trocken kann das so nicht werden, erhaben auch nicht, denn die Ehefrau hat ihren eigenen Kopf und spricht obendrein, anders als der Erzähler, auch noch die Landessprache. Die Kinder werden irgendwann müde, und eine Maschine, die mit einem Greifarm Süßigkeiten verteilt, interessiert sie stärker als das Fischgrätenmuster römischer Ziegel in der Basilika S. Clemente.
Durch diesen Kunstgriff holt der Erzähler Ingo Schulze die Gegenwart in seine Geschichten, ohne die Historie zu verraten. Staunend und offen für Präsenz und Sinnlichkeit der Kultur vergangener Epochen besucht sein Protagonist mit Familie Schlachtfelder, Kirchen und Museen. Er trifft in Neapel auf Krippenschnitzer, entwirft eine Tour durch Sizilien. Er studiert Reiseführer, doziert aus Thukydides‘ "Geschichte des Peleponnesischen Krieges", liest Seumes "Reise nach Syrakus" und weiß, was Vergil, Nietzsche und Wagner mit dem Golf von Neapel verbindet.
Doch zugleich ereignet sich Alltag: das Ehedrama in einer Bar, ein Streik, der Defekt eines Navigationsgerätes, Regenwetter. Weil der Ich-Erzähler Menschen begegnet, die ihm ihre Geschichten erzählen, kann er dem Leser von der märchenhaften Existenz eines Tütenpackers im Supermarkt erzählen, von der Einsamkeit eines remigrierten, ehemaligen Gastarbeiters, vom Schicksal eines Flüchtlings aus Darfour. Italien ist bei Ingo Schulze vor allem Schauplatz: Ort vielfältiger Eindrücke, an dem in jedem Winkel Geschichte und Geschichten darauf warten, erzählt zu werden. Ein Resonanzraum für Stimmen aus verschiedenen Epochen.
Der Autor verbindet in seinen scheinbar flüchtigen Skizzen höchst durchdacht innere und äußere Zustande, die Jahrhunderte und die Gegenwart, das Schicksal von Menschen und Kulturen. Und bildet ein dichtes, beglückendes, zuweilen auch bedrückendes Gewebe, das uns am Leib haftet und spüren lässt, dass wir leben.
"Die Orangen waren Orangen, und zugleich waren sie die Äpfel der Hesperiden und die Paradiesfrucht", heißt es in der Titelerzählung. So sind alle diese Geschichten: alltäglich und zugleich himmlisch.
Besprochen von Carsten Hueck
Ingo Schulze: Orangen und Engel. Italienische Skizzen
Mit 48 Farbfotografien von Matthias Hoch,
Berlin Verlag, Berlin 2010, 188 Seiten, 22 Euro
In Architektur, Musik, Malerei und Literatur haben Italienreisen deutscher Künstler ihre Spuren hinterlassen. Was sie dort sahen und hörten, wurde reflektiert. Winkelmann, Goethe, Seume, Mendelssohn-Bartholdy, um nur wenige zu nennen, brachten den Daheimgebliebenen in ihren Werken die erhaben imaginierte Ferne nah. Jeder, der nach ihnen den idyllischen Sehnsuchtsort Italien aufsuchte, hatte seine Vorgänger studiert.
Nun ist auch Ingo Schulze nach Italien gereist. Ein Jahr lang war der Autor Stipendiat der Villa Massimo in Rom. In neun Geschichten – er selbst nennt sie "italienische Skizzen" - führt er, unterstützt vom Fotografen Matthias Hoch, den Leser ins Italien von heute. "Orangen und Engel" heißt der Anti-Baedeker – ein schönes Buch, in Leinen gebunden und mit knapp 50 Farbfotos ausgestattet, das eher zu aufmerksamer Gleitsicht einlädt als zum gezielten Blick.
Schulze berührt in jeder der Geschichten historischen Boden. Seinem Ich-Erzähler – wie Schulze ein Stipendiat der Villa Massimo – ist bei jedem Schritt bewusst, dass er sich in geschichtlichen und literarischen Traditionslinien bewegt. Geschickt, fast tänzerisch aber geht der Autor mit dieser Bürde um. Er stellt seinem neugierigen und aufmerksamen Erzähler noch eine Ehefrau und zwei Töchter zur Seite.
Gemeinsam mit ihnen muss dieser nun die Spuren der Vergangenheit entdecken. Trocken kann das so nicht werden, erhaben auch nicht, denn die Ehefrau hat ihren eigenen Kopf und spricht obendrein, anders als der Erzähler, auch noch die Landessprache. Die Kinder werden irgendwann müde, und eine Maschine, die mit einem Greifarm Süßigkeiten verteilt, interessiert sie stärker als das Fischgrätenmuster römischer Ziegel in der Basilika S. Clemente.
Durch diesen Kunstgriff holt der Erzähler Ingo Schulze die Gegenwart in seine Geschichten, ohne die Historie zu verraten. Staunend und offen für Präsenz und Sinnlichkeit der Kultur vergangener Epochen besucht sein Protagonist mit Familie Schlachtfelder, Kirchen und Museen. Er trifft in Neapel auf Krippenschnitzer, entwirft eine Tour durch Sizilien. Er studiert Reiseführer, doziert aus Thukydides‘ "Geschichte des Peleponnesischen Krieges", liest Seumes "Reise nach Syrakus" und weiß, was Vergil, Nietzsche und Wagner mit dem Golf von Neapel verbindet.
Doch zugleich ereignet sich Alltag: das Ehedrama in einer Bar, ein Streik, der Defekt eines Navigationsgerätes, Regenwetter. Weil der Ich-Erzähler Menschen begegnet, die ihm ihre Geschichten erzählen, kann er dem Leser von der märchenhaften Existenz eines Tütenpackers im Supermarkt erzählen, von der Einsamkeit eines remigrierten, ehemaligen Gastarbeiters, vom Schicksal eines Flüchtlings aus Darfour. Italien ist bei Ingo Schulze vor allem Schauplatz: Ort vielfältiger Eindrücke, an dem in jedem Winkel Geschichte und Geschichten darauf warten, erzählt zu werden. Ein Resonanzraum für Stimmen aus verschiedenen Epochen.
Der Autor verbindet in seinen scheinbar flüchtigen Skizzen höchst durchdacht innere und äußere Zustande, die Jahrhunderte und die Gegenwart, das Schicksal von Menschen und Kulturen. Und bildet ein dichtes, beglückendes, zuweilen auch bedrückendes Gewebe, das uns am Leib haftet und spüren lässt, dass wir leben.
"Die Orangen waren Orangen, und zugleich waren sie die Äpfel der Hesperiden und die Paradiesfrucht", heißt es in der Titelerzählung. So sind alle diese Geschichten: alltäglich und zugleich himmlisch.
Besprochen von Carsten Hueck
Ingo Schulze: Orangen und Engel. Italienische Skizzen
Mit 48 Farbfotografien von Matthias Hoch,
Berlin Verlag, Berlin 2010, 188 Seiten, 22 Euro