Alltag einer Krankenschwester in der Ostukraine

Die Front in meinem Garten

28:57 Minuten
Die Krankenschwester Lilia Schwez guckt Gedanken verloren von ihrem Tisch hinaus aus dem Fenster an ihrem Arbeitsplatz.
Lilia Schwez zog im Jahr 2006 mit ihrem Mann Wowa von der Großstadt Luhansk aufs Land: Trochisbenka galt damals als Erholungsort. © Deutschlandradio/ Daniela Prugger
Von Rebecca Barth und Daniela Prugger · 07.11.2021
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Eigentlich wollte sich Lilia Schwez zur Ruhe setzen. Doch dann brach der Krieg in der Ostukraine aus. Seitdem liegt ihr Heimatdorf direkt an der Front. Doch die Krankenschwester hält die Stellung.
Die Fahrt, die Krankenschwester Lilia Schwez jeden Freitag auf sich nimmt, beginnt in ihrem Heimatdorf Trochisbenka, Region Luhansk, Ostukraine.
Frühmorgens im Juli steigt die 56-Jährige zu ihrem Ehemann Wowa in einen klapprigen Lada. Sie zündet sich eine Zigarette an, er drückt das Gaspedal durch.

"Wir sind keine Helden"

Ein Kreuz baumelt am Rückspiegel, auf der Rückbank liegt Lilias rote Arzttasche. Das Ehepaar fährt in abgelegene Dörfer an der Front, um jene zu versorgen, die zu arm, schwach oder alt sind, um das umkämpfte Gebiet zu verlassen. "Wir sind keine Helden. Aber die Menschen sind von mir abhängig. Das spornt mich an", sagt die Krankenschwester.
Die Fahrt über Sandtrassen und Feldwege ist gefährlich. Links und rechts erstrecken sich weite Felder, Steppe. Die Hügel am Horizont liegen schon in den Separatistengebieten. Die internationale Beobachtermission OSZE fährt diesen Weg seit Jahren nicht mehr – die Gefahr, auf eine Mine zu fahren, ist zu groß.
Nach sieben Jahren Krieg ist die Ostukraine eine der am stärksten mit Minen verseuchten Regionen weltweit. 720 Menschen haben laut Auswärtigem Amt durch Minen ihr Leben verloren. Wo sie liegen, weiß niemand genau. Doch Ehemann Wowa Schwez fährt seine Frau bereits seit Kriegsbeginn.

Unterwegs durchs Niemandsland

Er lenkt den Wagen um Schlaglöcher in der Größe von Gullideckeln, versucht, den Weg nicht zu verlassen. "Normalerweise ist es verboten, hierher zu fahren, aber weil wir beruflich unterwegs sind, werden wir durchgelassen", sagt Schwez.
Während ihrer Fahrt durch das Niemandsland haben die Scharfschützen beider Seiten – pro-russische Separatisten und ukrainische Armee – gute Sicht auf das Ehepaar. Aber Lilia Schwez vertraut darauf, dass sie nicht beschossen werden. Auf dem Wagen prangt der blaue Stern des Lebens, das internationale Zeichen für den Rettungsdienst.
An der Straße zum Wohnhaus von Lilia Schwez in Trochisbenka befinden sich Einschusslöcher in einer Mauer.
Die Straße zum Wohnhaus von Lilia Schwez: Nie hätte sie damit gerechnet, dass hier ein Krieg ausbrechen würde.© Deutschlandradio/ Daniela Prugger
Schwez glaubt: Wenn die Soldaten uns hätten töten wollen, dann hätten sie es schon längst getan. Ein Glaube, der die Angst verdrängt. Zudem war das vergangene Jahr unverhältnismäßig ruhig.
Seit Sommer 2020 herrscht Waffenstillstand. Die Feuerpause ist zwar brüchig, aber dennoch gingen die Opferzahlen deutlich zurück.

13.000 Tote in einem vergessenen Krieg

Seit sieben Jahren wird in der Ostukraine ein vergessener Krieg gekämpft, nachdem sich im Frühjahr 2014 die Ereignisse in der Ukraine überschlagen. Nach monatelangen und blutigen Protesten in Kiew und anderen Städten flieht der damalige Präsident Wiktor Janukowitsch nach Russland. Wenige Wochen später annektiert Russland die ukrainische Halbinsel Krim.
Auch in anderen mehrheitlich russischsprachigen Regionen heizt sich die Stimmung auf. Russland beginnt einen Informationskrieg: Desinformation und Fake News streuen Angst und Panik vor den neuen Machthabern in Kiew.
Kurz darauf kommt es bei Protesten in der Ost- und Südukraine zu tödlichen Zusammenstößen zwischen pro-russischen und pro-ukrainischen Demonstranten. Dann besetzen pro-russische Demonstranten Verwaltungsgebäude in der Ostukraine, sie werden von Russland mit Soldaten und Waffen unterstützt und übernehmen die Kontrolle über einen Teil der Ostukraine.
Seither fordern die sogenannten Separatisten Unabhängigkeit. Mehr als 13.000 Menschen sind laut UNHCR in diesem Krieg ums Leben gekommen, 1,5 Millionen sind in andere Teile des Landes geflohen.

Ausnahmezustand in Trochisbenka – seit 2014

"Wir haben die Maidanproteste im Fernsehen gesehen. Wir dachten, das sei einfach irgendein Streik. Für uns war das wie ein Film. Als das bei uns angefangen hat, haben wir das zuerst auch nicht verstanden", sagt Lilia Schwez.
Lilia Schwez kümmert sich bei einem Hausbesuch in Lobatschewe um eine Patientin.
"Die Menschen sind von mir abhängig": Lilia Schwez bei einem Hausbesuch.© Deutschlandradio/ Daniela Prugger
Als die Separatisten im Mai 2014 ein Unabhängigkeitsreferendum durchführen, stimmen die meisten in ihrem Dorf mit Ja. Weil sie glauben, sie stimmen für mehr Autonomie, für Dezentralisierung.
Der Westen und die ukrainische Regierung erkennen das Ergebnis nicht an. Ukrainische Truppen versuchen, die Gebiete zurückzuerobern. In Trochisbenka, wo das Ehepaar Schwez lebt, herrscht seitdem der Ausnahmezustand.

Abgeschnitten von der Außenwelt

Die Krankenschwester Lilia Schwez wird überlebenswichtig für die Bevölkerung, denn Ärzte kommen nicht mehr durch. Weder von ukrainischer Seite noch aus den Separatistengebieten.
Die Brücke, die über den Fluss führte und Trochisbenka mit der Kreisstadt auf der anderen Uferseite verband, ist schnell zerstört worden. Trochisbenka ist abgeschnitten von der Außenwelt.
Auch heute noch fehlen in der Ambulanz in Schwez‘ Heimatort Trochisbenka Ärzte. Viele Räume werden daher nicht mehr genutzt. Sie stehen voller Möbel und Geräte aus der Sowjetzeit: ein eiserner Behandlungsstuhl aus der Gynäkologie und ein Zahnarztstuhl. Das helle Sandsteingebäude mit rotem Ziegeldach liegt nur rund zehn Minuten Fußweg von ihrem Wohnhaus entfernt.

Hinter dem Garten liegt der Schützengraben

Das Ehepaar Schwez zog im Jahr 2006 aus der Großstadt Luhansk nach Trochisbenka und kaufte das Haus mit dem großen Garten, weil es sich hier zur Ruhe setzen wollte. Trochisbenka galt damals als Erholungsort für Städter. Lilia Schwez liebt die frische Luft, den Wald, die Felder, die Weite.
Direkt vor dem Haus ist der Bus nach Luhansk gefahren. Nie hätte sie damit gerechnet, dass hier ein Krieg ausbrechen würde. Auf der Straße vor dem Tor befindet sich heute eine Schranke, davor steht ein bewaffneter ukrainischer Soldat. Hinter ihrem Garten liegt der Schützengraben.
Im Winter kann Schwez die Helme der Soldaten sehen. Sie ragen aus den Gräben. Im Sommer lässt sie das Gras hochwachsen – dann muss sie nur noch ihre Stimmen hören. Die Armee soll die Bewohner schützen. Aber die Positionen sind so nah an den Häusern – Schwez ist überzeugt: Wenn wieder geschossen wird, dann wird ihr Haus als erstes getroffen.
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