Alltag in einem repressiven System

Rezensiert von Felix Florian Weyh |
Ines Geipel legt zusammen mit den anderen Autoren von "Black Box DDR" den Grundstein für ein Archiv vergessener Lebensgeschichten. Im Buch rückt das Leben von 33 unbekannten DDR-Bürgern ins Rampenlicht.
"Im Februar 1965 (...) entstand der Plan, erneut nach Leningrad zu gehen, wo sie sich kennengelernt hatten. Ivanko Matteoli fuhr voraus, um die Übersiedlung vorzubereiten. Nur Stunden nach seiner Abreise wurde seiner Frau der Reisepass abgenommen, beider Post abgefangen, die Familie für zwei Jahre zwangsweise getrennt." (S. 163)

Alltag in einem repressiven System, das Herzensangelegenheiten unter den Vorbehalt der Staatsräson stellte, jedenfalls bei Liebenden über den Eisernen Vorhang hinweg. Der Mann, Italiener, galt trotz seiner Mitgliedschaft in der KPI als unsicherer Kantonist. Die Frau, DDR-Staatsbürgerin, war Angehörige der Nomenklatura. Nein, noch ein bisschen mehr als das: Sie war die Adoptivtochter von Walter Ulbricht.

Ines Geipel: "Diese DDR war ein Land der Gerüchte auch. Und man wusste: Ja, der hatte eine Tochter, was ist mit der Tochter? Wieso gibt’s plötzlich kein Foto mehr von der Tochter? Aber du konntest ja nicht recherchieren, du konntest es nicht erfahren, wenn du nicht im Inner Circle der Macht gelebt hast. Und jetzt ist es möglich, das zu recherchieren, jetzt ist es möglich, dem noch mal nachzugehen, und eigentümlicherweise gibt es genau auf diese Geschichte sehr viel Reaktion, weil viele diese Geschichte lesen mit dem Satz: 'Da steckt ja die ganze DDR drin'. Beate Matteoli – was ist für die Tochter von Walter und Lotte Ulbricht möglich, wenn sie sich entschieden hat, einen italienischen Kommunisten zu lieben?"

Genauso viel oder so wenig wie für andere DDR-Bürger in ähnlicher Lage auch. Ulbrichts Adoptivtochter – 1946 aus einem sächsischen Kinderheim geholt, um dem obersten DDR-Paar die Aureole einer gemütlichen Kleinfamilie zu verleihen – zerbrach an der unüberwindlichen Kluft zwischen offiziellem Anspruch und privaten Wünschen. Nach Zerstörung ihrer Ehe durch Eltern und Staatssicherheit verkümmerte sie als Alkoholikerin, und als sie kurz nach der Wende mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit trat, markierte das zugleich auch das Ende ihres eigenen Lebens: 1991 fiel sie einem nie aufgeklärten Gewaltverbrechen zum Opfer. Muss uns das heute noch bewegen?

Geipel: "Also die DDR hat ja 89 nicht aufgehört! Deswegen ist das Buch auch entstanden, dass ich der Meinung war: Es ist gut, wenn man heute feiert, aber dass man sagt, es gab ziemlich klare Leute, die genau diese Feier möglich gemacht haben!"

Zu jenen 33 Unbekannten, die Ines Geipel und der Schweizer Historiker Andreas Petersen als Herausgeber und Mitautoren von "Black Box DDR" ins Rampenlicht holen, zählt auch einer, dem die DDR einfach nur zu trist, zu farb- und freudlos erschien, weswegen er sich ihr ... nein, nicht über die Grenze, sondern zusammen mit einem Freund in ein fantastisches Reich entzog:

"Kiedorf und Bätz suchten sich Literatur über Barock, Rokoko, Jugendstil, liefen alle möglichen Schlösser ab und schufen sich zwei Reiche im Maßstab von 1:75, die irgendwann 'Dyonien' und 'Pelarien' hießen und den schönen Zusatz erhielten: 'nebst den Völkerschaften der Pepidinier, Rumilen, Battanapen, Murundis, Bobos sowie der krummbeinigen Murundis'. Im Ganzen eine 'gepriesene Insel', ein Mikrokosmos, eine Miniaturwelt, eine schillernde Sehnsuchtsgalaxie." (S. 221)

Geipel: "Kiedorf war in Weimar bekannt, so in der Submilieuszene, und dann gab es ihn im Prenzlauer Berg, im 'Lampion', also in der Kneipe ... und ja, es sind so Biografien, die trägst du in der DDR mit dir herum und denkst: Gibt es die oder gibt es die nicht?"

Es gab sie, doch wer sich so viel Eigensinn herausnahm, musste dafür bitter büßen. Der Bühnenbildner Manfred Kiedorf etwa, der zusammen mit Gerhard Bätz ganze Miniaturwelten des Rokoko nachbaute, wanderte für 24 Monate ins Arbeitslager, weil das, was er mit Hingabe und großem Einsatz tat, nicht als sozialistische Arbeit galt. Der Schrecken einer Diktatur, die nicht einmal die harmlosesten Abweichungen von ihrer Linie ertrug, weil jede dieser Abweichungen die Armseligkeit ihres eigenen ideologischen Konzepts entlarvte, zieht sich wie ein roter Faden durch die Biografien von "Black Box DDR", und sie sind keineswegs alle so verspielt wie die der beiden Modellbauer.

Man liest, im Gegenteil, viel von Leid und Tod, von himmelschreiendem Unrecht und manchmal dreifachem historischen Unglück. So wurde der sozialdemokratische Musterunternehmer Franz Itting aus Probstzella erst von den Nazis, dann von den Kommunisten enteignet, mitnichten aber erhielten seine Erben nach 1990 eine Entschädigung vom Freistaat Thüringen, weil der Raub auf sowjetisches Besatzungsrecht zurückging. Gut ein Drittel des Buches porträtiert ähnlich tragische Geschichtsverlierer, denen wenigstens publizistisch Gerechtigkeit widerfahren soll:

Geipel: ""Also wenn wir uns einigen auf einen Begriff einer ersten und einer zweiten Diktatur, bin ich sehr dafür, dass jede deutsche Zeit diesen Charakters ein je eigenes Narrativ bekommt. Und das ist eigentlich der Ansatz für das Buch: so eine Sozialstudie quer durch die Gesellschaft, und so konkret wie möglich","

sagt Ines Geipel und legt zusammen mit den Autoren von "Black Box DDR" den Grundstein für ein Archiv vergessener Lebensgeschichten. "Black Box" ist dabei ganz wörtlich zu nehmen. Denn selbst dort, wo es sich um Biografien produktiver Menschen handelt, die mit ihren Werken Spuren hinterlassen haben, müssen sie dem Dunkel der Vergangenheit entrissen werden. Der Schriftsteller Werner Kilz etwa brachte es sogar zu einer Romanveröffentlichung im Westen, beim großen Siegfried Unseld 1967 – dennoch kennt ihn heute keiner mehr, vermutlich nicht mal die Suhrkamp-Archivare. Die Missachtung in Ost und West ließ ihn zeitlebens an einem Mammutwerk weiterarbeiten, das – Jahre nach seinem Tode – noch immer der Entdeckung harrt. Ines Geipel hat in diesem wie in anderen Fällen dazu den ersten Schritt getan.

Ines Geipel, Andreas Petersen (Hrsg.): Black Box DDR
Marix Verlag
320 Seiten, 19,90 Euro
Ines Geipel, Andreas Petersen (Hrsg.): "Black Box DDR" - Buchcover
Ines Geipel, Andreas Petersen (Hrsg.): "Black Box DDR" - Buchcover© Marix Verlag