Adolphe Karr: "Reise um meinen Garten. Ein Roman in Briefen"
Aus dem Französischen von Caroline Vollmann, mit einem Vorwort von Eduard Bodi
Die andere Bibliothek, Berlin 2020
400 Seiten, 44 Euro
Viel aufregender als schnödes Wegfahren
05:48 Minuten
Exzentrische Poesie des Alltäglichen: Alphonse Karr schrieb vor über 170 Jahren über seinen Garten - und ging durch ihn im Geiste auf Reisen. Seine Anekdoten, Meditationen und Eindrücke wirken in diesen Tagen überraschend aktuell.
So bedeutungsleer das Marketinglabel "das Buch zur Stunde" auch sein mag: Dass es ausgerechnet auf einen exzentrischen Briefroman über das Leben von Pflanzen und Insekten von 1845 passen soll, scheint trotzdem schwer vorstellbar. Vielleicht ist es auch eher die richtige Stunde für das Buch.
Alphonse Karrs "Reise um meinen Garten" beschreibt, wie aufregender und erhebender als schnödes Reisen in die Welt der Blick in den eigenen Garten sein kann – ein Szenario, mit dem sich viele diesen Sommer anfreunden müssen.
Fast prophetisch die erzürnte Warnung an den Nachbarn, der plötzlich zur Erkundung ferner Länder aufbricht: "Gibt es eine in unserem Land unbekannte Krankheit wie die Pest, oder irgendein Fieber, oder irgendeinen Aussatz, die Sie unbedingt haben wollen?" Mit innigem Trotz macht sich der Briefeschreiber Stephen auf, stattdessen den Garten seines Anwesens zu erkunden, und den Fernreisenden daran per Brief teilhaben zu lassen..
Was macht die Rose so wertvoll?
Dort findet er viel, und beschreibt ansonsten wenig mit vielen Worten: "Setzen Sie sich hin und reisen Sie: Der scharfe Winterwind hat die Blätter heruntergefegt; die nackten Stämme und Äste der Bäume zeigen unterschiedliche Farben; das Holz des Hartriegels ist leuchtend rot, das der Goldesche gelb" und so weiter, bis hin zu den grünen Zweigen einiger Ahornbäume.
Gelegentlich erinnert der Anblick einer Blüte, eines Blattes oder eines Insekts an eine historische oder persönliche Anekdote, oder ist der Startpunkt für eine längere Meditation über das Wesen der Dinge an sich.
Meistens ist die Rose aber wirklich nur eine Rose, und damit schon mehr als genug, weil Beweis für die Herrlichkeit der Schöpfung. Religiöse Exaltationen wechseln sich ab mit ironischen Verklärungen der eigenen Faulheit als großer Forschergeist ("Morgen werde ich mich auf dem Bauch ausstrecken" nach einem Tag auf dem Rücken im Schatten einer großen Eiche) und Imitationen antiker Tonfälle des Universalgelehrten.
Zeitgenosse von Balzac und Victor Hugo
Es ist nicht klar, inwiefern dieser Stephen ein Selbstporträt seines Schöpfers ist. Das Vorwort von Eduard Bodi, Gärtner der Gardini Reali in Venedig, hilft bei der Lektüre des Buches, lässt aber viel zum Autoren unerzählt.
Karr scheint so farbenfroh gewesen zu sein wie die chilenischen Wachsglocken in seinem Garten: bekannter Exzentriker, Gefährte von Balzac und Victor Hugo, Autor eines Ratgebers zur "Beleidigung von Pflanzen auf Latein" und auf keiner zeitgenössischen Karikatur ohne Gewächs abgebildet.
Nach ihm wurde eine Birne, eine Dahlie und eine Bambusart benannt. An seiner Wand hing ein gerahmtes Küchenmesser, mit dem ihn eine Dichterin nach einer kruden Anspielung auf eine Affäre angegriffen hatte: "Überreicht von Louise Colet... in den Rücken."
Die Momente, in denen dieser trockene Witz auftaucht, gehören zu den Höhepunkten des Buches, auch dank der Übersetzung von Caroline Vollmann: "Mein Arbeitszimmer: So nenne ich einen recht gut eingerichteten Raum, in dem ich mich manchmal einschließe, um nichts zu tun und nicht gestört zu werden." Auch das, um das Buch wieder ins Jetzt zu holen, ist eigentlich ein sehr guter Tweet, so wie die Beschreibungen von Wolken, Pflanzen, Tieren wie literarische Instagram-Snapshots wirken.
Ein Buch als Strandlektüre – auch ohne Strand
Am Stück ist der Tonfall ("Welch wunderbarer Baum, die Rebe!") etwas zu üppig, aber in Ermangelung eines Beach Reads lassen sich die 59 Briefe vorzüglich über den Sommer verteilt lesen. Stephen ist angenehme Gesellschaft: Was er in seinem Garten beobachtet, lässt sich mit zeitgenössischen Prachtillustrationen nachvollziehen, von der Ausgabe der "Anderen Bibliothek" hochglänzend reproduziert.
Immer mal wieder dringen düsterere Dimensionen in die Briefe wie Käfer, die aus dem Boden stoßen: Manches Blatt erinnert den Einzelgänger Stephen an vergangene und unglückliche Lieben. Überhaupt zeigt sich die Zärtlichkeit für Pflanzen und Tiere als Kompensation für latente Misanthropie. Handlung und Figurenzeichnung im engeren Sinne gibt es nicht, auch der Korrespondenzpartner bleibt eine Chiffre – was nichts daran ändert, dass das plötzliche und überraschende Ende doch emotional niederschmetternd ist.
Vielleicht ist die "Reise um meinen Garten", wie alle guten Sommerlektüren, auch eine Liebesgeschichte.