Eingemauert - aber in der Mitte Europas
Nach Athen, Florenz und Amsterdam wird West-Berlin 1988 zur vierten "Europäischen Kulturstadt". Zu Zeiten des Kalten Krieges ein politisches Signal: "Berlin in der Mitte Europas". Die Kulturförderung von damals wirkt bis heute.
"Eine Begegnungsstätte zwischen West und Ost, eine Werkstatt der Moderne, ein Zentrum europäischer Kultur - Berlin berechtigt zu der Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft der ganzen Stadt in einem ungeteilten Europa."
Der überzeugte Europäer und FDP-Politiker Hans-Dietrich Genscher eröffnet gemeinsam mit Berlins regierendem Bürgermeister Eberhard Diepgen von der CDU das Kulturstadtjahr 1988. "Berlin in der Mitte Europas" - so lautet das selbst gewählte Leitthema.
Der überzeugte Europäer und FDP-Politiker Hans-Dietrich Genscher eröffnet gemeinsam mit Berlins regierendem Bürgermeister Eberhard Diepgen von der CDU das Kulturstadtjahr 1988. "Berlin in der Mitte Europas" - so lautet das selbst gewählte Leitthema.
Dabei ist West-Berlin vor dreißig Jahren eine geteilte Stadt, ein abgeschotteter Kosmos mit Provinzcharakter. Die Mauern wegzudenken und Berlin in der Mitte Europas zu verorten war ein kühner Gedanke, meint der damalige Kultursenator Volker Hassemer rückblickend.
"Wo man ja noch nicht mal gemütlich per Auto herfahren konnte, sondern kontrolliert werden konnte, also irgendwo ganz weit im Osten. Wir haben damals nicht den Mut gehabt, zu sagen: Das ist eine temporäre Situation, sondern die Wahrheit zu Berlin ist, dass wir mitten in Europa liegen."
"Wo man ja noch nicht mal gemütlich per Auto herfahren konnte, sondern kontrolliert werden konnte, also irgendwo ganz weit im Osten. Wir haben damals nicht den Mut gehabt, zu sagen: Das ist eine temporäre Situation, sondern die Wahrheit zu Berlin ist, dass wir mitten in Europa liegen."
Eine Rettung für viele Spielstätten
Der Jurist aus der Pfalz engagiert sich seit Jahrzehnten für Berlin, als Senator, als Ideengeber, Netzwerker. Er gilt als einer, der Spuren hinterlässt. Das Kulturstadtjahr, eine politische Entscheidung von Bund und Land für Berlin, kommt ihm gerade recht. Schon in den Jahren zuvor werden unzählige Projekte angestoßen. Einige vom Abriss bedrohte Ruinen werden als Spielstätten "gerettet". So etwa das Hebbel-Theater.
"…und dann haben wir gesagt: Gut, erstens haben wir das 1988 als einen fabelhaften Veranstaltungsort, aber wenn wir den anschließend wieder schließen, können wir uns vor niemand sehen lassen."
Im Kulturstadtjahr soll sich Berlin als "Werkstatt" und als "Ort des Neuen" etablieren. Damals etwas Besonderes: Im Hamburger Bahnhof, direkt an der DDR-Grenze, findet eine multimediale Modeperformance statt. Heute kennt jeder Tourist den Hamburger Bahnhof als Museumsort in der Mitte Berlins. Unzählige Spielstätten sind im 140 Seiten dicken Programmheft aufgeführt.
Unbekannte Orte entdecken
Sie in der Stadt zu finden, dürfte vor allem für westdeutsche Besucher eine Herausforderung gewesen sein. Im Kulturstadtjahr gab es eine Extrabustour zu den Spielstätten. Stadtführer Siegfried Schliebs, gelernter Berliner aus Kiel, bei der Premierenfahrt unterwegs im Kreuzberg von 1988.
"Nach rechts durch die Toreinfahrt ein Blick in den Innenhof, wo sich der Mehringhof befindet, ein selbst verwaltetes Projekt seit 1979 das aus etwa 30 alternativen Gruppen unterschiedlichster Art besteht. Mehrere Theater und Werkstätten und ähnliche Einrichtungen."
"Nach rechts durch die Toreinfahrt ein Blick in den Innenhof, wo sich der Mehringhof befindet, ein selbst verwaltetes Projekt seit 1979 das aus etwa 30 alternativen Gruppen unterschiedlichster Art besteht. Mehrere Theater und Werkstätten und ähnliche Einrichtungen."
Es war Programm, unbekannte Orte zu entdecken und als Spielstätten zu nutzen. Das Portfolio reichte von Kellerräumen bis zu Gebäuden entlang der Mauer, die vom Abriss bedroht waren. Nele Hertling ist stadtbekannt als Grande Dame der Berliner Off-Kultur. Die heute über 80-Jährige hat die 750-Jahrfeier und das Kulturstadtjahr 1988 als Verantwortliche mit gestaltet. Sie sitzt im Foyer der Akademie der Künste und erinnert sich.
"Auf dem Schultheißgelände auf dem Kreuzberg, da haben wir die Brauerei mitsamt ihren riesengroßen unterirdischen Lagerräumen geöffnet. Wir haben geöffnet das, was heute Neuköllner Oper ist - das war ein Möbellager. So hat es eine ganze Reihe von Orten gegeben, die mit Projekten von uns zum ersten Mal bespielt wurden, aber zum Teil auch als Spielorte geblieben sind."
"Auf dem Schultheißgelände auf dem Kreuzberg, da haben wir die Brauerei mitsamt ihren riesengroßen unterirdischen Lagerräumen geöffnet. Wir haben geöffnet das, was heute Neuköllner Oper ist - das war ein Möbellager. So hat es eine ganze Reihe von Orten gegeben, die mit Projekten von uns zum ersten Mal bespielt wurden, aber zum Teil auch als Spielorte geblieben sind."
"Nicht mal die Taxis kannten das Hebbel-Theater"
Prominentes Beispiel für Gebliebenes ist das Berliner Hebbel-Theater in Berlin-Kreuzberg, heute unter der Abkürzung HAU bekannt. Das traditionsreiche Haus steht zwar seit Ende der siebziger Jahre unter Denkmalschutz, wird aber erst zur 750-Jahrfeier renoviert und im Kulturstadtjahr 1988 erstmals für internationale Produktionen genutzt.
"Während des Jahres '88 haben wir das Theater bespielt, mühselig Publikum in diese tote Ecke gelockt. Das war direkt an der Mauer, kannte keiner, auch die Taxis nicht. So dass wir dann im Lauf des Jahres versucht haben, den Senat davon zu überzeugen, dieses Theater nach '88 als einen besonderen "europäischen Spielort" zu halten."
Berlin in der Mitte Europas
Nele Hertling leitet das Theater bis 2003. Heute ist das Hebbel am Ufer in der Theaterszene als Ort für internationale Produktionen weltweit bekannt. Nele Hertling ist sich sicher, dass dieser Erfolg ohne das Kulturstadtjahr kaum denkbar wäre. Auch das Festival "Tanz im August" findet 1988 erstmals statt. Seitdem trifft sich die internationale Szene für zeitgenössischen Tanz jährlich in Berlin. "Berlin in der Mitte Europas" ist Leitthema für das Kulturangebot 1988.
"Die Idee war eben, international europäisch zu arbeiten und hauptsächlich das zu demonstrieren durch Einladung von Künstlern aus möglichst allen europäischen Ländern. Sei es mit eigenen Projekten oder sei es mit Workshops oder mit Zusammenarbeitsprojekten jeglicher Art."
"Die Idee war eben, international europäisch zu arbeiten und hauptsächlich das zu demonstrieren durch Einladung von Künstlern aus möglichst allen europäischen Ländern. Sei es mit eigenen Projekten oder sei es mit Workshops oder mit Zusammenarbeitsprojekten jeglicher Art."
Egal welche Kunstsparte, eines hatte immer Priorität: Die abgeschotteten Künstler in West-Berlin sollten internationale Kontakte knüpfen, Europa wiederum zu Gast in Berlin sein. Ein Festival kommt diesem Anspruch besonders nah: Schon lange vor dem Kulturstadtjahr ist Kultursenator Hassemer fasziniert von der Idee eines europäischen Filmpreises. Dass es am Ende gelingt, ist damals eine kleine Sensation.
"Das war, denke ich, die größte Leistung für Europa, die wir zustande gebracht haben, nämlich den Europäischen Filmpreis 1988 zu gründen."
"Das war, denke ich, die größte Leistung für Europa, die wir zustande gebracht haben, nämlich den Europäischen Filmpreis 1988 zu gründen."
Ingmar Bergman am Horizont
Die Gründerväter tragen große Namen, Bernardo Bertolucci, Ingmar Bergman, Richard Attenborough, Wim Wenders, Istvan Szabo. Die erste Preisverleihung im Theater des Westens ist für den kulturbegeisterten CDU-Politiker bis heute ein Gänsehautmoment. Ob auch der Gründungspräsident von damals, Ingmar Bergmann, wie versprochen kommen würde, wusste an dem Abend des 26. November 1988 niemand so genau.
"Ich erinnere mich noch heute, wie sein Flugzeug auf dem Flughafen Tempelhof landete und als ich am Horizont das Flugzeug sah, wusste ich, er kommt wirklich. An dem Abend, das war wirklich groß."
"Ich erinnere mich noch heute, wie sein Flugzeug auf dem Flughafen Tempelhof landete und als ich am Horizont das Flugzeug sah, wusste ich, er kommt wirklich. An dem Abend, das war wirklich groß."
Aufregung wegen zwei Cadillacs
Am Tauentzien auf dem Mittelstreifen zwischen KaDeWe und Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche bleiben immer wieder Touristen stehen. Trotz Eiseskälte halten sie ihr Handy kurz in den Winterhimmel. Dicke, silbrig glänzende, ineinander verschlungene Stahlrohre überragen den Verkehr. Die Stahlrohrskulptur "Berlin" ist das Vermächtnis des Künstlerpaares Matschinsky-Denninghoff. So beliebt die Stahlskulptur bis heute ist, so umstritten waren vor 30 Jahren die beiden in Beton eingelassenen Cadillacs von Wolf Vostell am anderen Ende des Kudamms.
Bernhard Kotowski steht auf dem Mittelstreifen. Er erinnert sich gut an Bürgerintitativen gegen die Cadillacskulptur. Hitzige politische Debatten hat Bernhard Kotowski als Bezirksverordneter damals selbst erlebt. Der umstrittene "Boulevard der Skulpturen" ist seine prägende Erinnerung an das Kulturstadtjahr 1988.
"Dafür kann man doch kein Steuergeld ausgeben. Das ist keine Kunst. Dann wurden die politischen Aussagen skandalisiert. Selbst bei den Sozialdemokraten, erst recht bei CDU-Leuten, gab es Empörung und mehrere Versuche, das Ding über BVV-Beschlüsse wieder wegzubekommen. Steht aber noch heute. Inzwischen hat sich die Aufregung gelegt."
"Dafür kann man doch kein Steuergeld ausgeben. Das ist keine Kunst. Dann wurden die politischen Aussagen skandalisiert. Selbst bei den Sozialdemokraten, erst recht bei CDU-Leuten, gab es Empörung und mehrere Versuche, das Ding über BVV-Beschlüsse wieder wegzubekommen. Steht aber noch heute. Inzwischen hat sich die Aufregung gelegt."
Weit mehr als eine Million Besucher haben 1988 West-Berlin, die geteilte Stadt in der Mitte Europas, besucht. Kaum einer von ihnen ahnte, dass nur ein Jahr später die Mauer fallen würde.