Als das Radio zum Genozid aufrief

Von Simone Schlindwein |
Der Schweizer Regisseur Milo Rau lässt in Ruandas Hauptstadt Kigali den Völkermord von 1994 wieder lebendig werden - als Theaterstück unter dem Titel "Hass-Radio". Damals hetzte das staatliche Radio die Hutu-Milizen gegen die Tutsi-Minderheit auf, 800.000 Menschen wurden ermordet.
Ihr hört Radio-Télévision Libre des Milles Collines. Wir senden aus Kigali, es ist 9:00 in unseren Studios. Ja, ihr hört Radio RTLM, Radio Sympa, die Stimme des Volkes, das Radio, das euch die Wahrheit sagt, die ganze Wahrheit und sogar ein paar Geheimnisse. Euch allen, die zuhören: Courage!

Was 1994 einmal das Studio des Ruandischen Radios war, ist heute ein Gebäude mit Geschäften - in der Innenstadt von Ruandas Hauptstadt Kigali: ein Kopierladen, eine Computergeschäft. Doch heute wird es für einen Abend lang wieder zum Radiostudio umfunktioniert. Vier Schauspieler stellen die Situation nach, die sich 1994 in diesem Radiostudio abgespielt hat. Sie sitzen vor ihren Mikrofonen an einem Tisch.

Courage! Vielen Dank, Georges. Und da uns das Bier langsam ausgeht, sollen die Leute in Gisenyi uns Neues brauen. Braut uns Bier, damit wir Spaß haben! Denn wir stehen kurz davor, diesen Krieg, den die FPR-Rebellen und die Tutsi-Kakerlaken uns aufgezwungen haben, auf spektakuläre Weise zu gewinnen. Unsere Freunde an den Straßensperren, die Leute im ganzen Land und die Soldaten der Ruandischen Armee an der Front – alle stehen kurz vor dem Sieg!

Vor dem Studiogebäude stehen Dutzende Menschen an einer Bushaltestelle. Manche warten im Feierabendverkehr auf den Bus. Manche sind wegen der Aufführung hier. Sie tragen Radiogeräte in der Hand und haben Kopfhörer auf. Darüber hören sie live die Radiosendung an. Es sind die original Hassreden der Radiomoderatoren, die 1994 die Hutu-Milizen zum Völkermord an über 800.000 Tutsi aufgehetzt haben.

Schauspieler Dorcy Rugamba ist in Ruanda geboren. Er war 24 Jahre alt, als der Genozid in seinem Land begann. Er hat selbst Verwandte verloren. Danach zog er zum Studium nach Belgien. Als Schauspieler beschäftigt er sich intensiv in verschiedenen Rollen mit der Geschichte seines Landes. In "Hass Radio" spielt er den Chefideologen von Radio Ruanda Kantano Habimana.

"Ich hatte zuerst Angst, hier in Ruanda, in meiner Heimat mit dem Stück aufzutreten. Es ist eine provokante Rolle. Und wir provozieren, um zu provozieren. Der Genozid ist ein sehr sensibles Thema. Aber das ist genau das, was wir beabsichtigen. Wir wollen schockieren und eine Art Katharsis auslösen. Damit arbeiten wir auch gegen diese Rassen-Ideologie. Vielen Menschen bekommt das vielleicht nicht gut. Aber wir Ruander müssen uns mit dieser Epoche unserer Geschichte auseinandersetzen. Vielleicht hat das langfristig einen positiven Effekt."

Der Umgang mit der Geschichte ist in Ruanda ein heikles Thema. Aus vielerlei Gründen. Zum einen ist es gesetzlich verboten, sich als Ruander zu einer ethnischen Gruppe zu bekennen. Die Begriffe Hutu und Tutsi sind tabu. Damit soll der Rassen-Ideologie entgegen gewirkt werden, so die offizielle Begründung. Doch das macht die Auseinandersetzung und den Diskurs zwischen den Volksgruppen sehr schwierig.

Zum anderen ist die Geschichtsschreibung ein Mittel zur Legitimation der Macht von Präsident Paul Kagame. Die Täter, vor allem die Planer und Ideologen des Genozids wie eben jene Radiomoderatoren, die heute in Gefängnissen sitzen, die werden als Monster wahrgenommen. Diesen Monstern nun ein Gesicht zu geben und sie als junge Menschen, die betrunken Spaß im Radiostudio haben, das geht an die Grenzen des Akzeptablen in Ruanda. Doch es ist auch Aufklärung an die Jugend von heute, sagt Schauspieler Rugamba.

"Wir haben das intensiv innerhalb unseres Teams diskutiert. Doch ich denke, man kann durch dieses Stück die Rolle dieses Radios verstehen. Welche Rolle die Propaganda und die Ideologie gespielt hat. Ähnlich wie Hitlers 'Mein Kampf' im Dritten Reich. Das ist wichtig zu verstehen – vor allem für die Jugendlichen, die nach 1994 geboren sind. Radio Ruanda war ja damals das Radio der Jugend. Doch es wurde instrumentalisiert. Das damals moderne Kommunikationsmittel wurde benutzt, um das schauerliche Verbrechen durchzuführen. Wir brechen mit dem Stück Tabus. Aber es ist notwendig, um eine Debatte anzustoßen."

Das Direktorenteam, bestehend aus dem Schweizer Milo Rau und dem Deutschen Jens Dietrich, hat diese Form der direkten Konfrontation, selbst mit der Gefahr der Re-Traumatisierung der Opfer des Genozids sehr bewusst gewählt. "Hass Radio" soll kontrovers sein, es soll schockieren. Die Theatermacher wurden in einer Diskussionsrunde am Vorabend der Premiere in Kigali von ruandischen Jugendlichen konfrontiert – mit der Frage, warum nun ausgerechnet Europäer hier in Kigali einen Diskurs über die Vergangenheitsbewältigung anstoßen wollen, erklärt Jens Dietrich.

"Wir haben in Ruanda auch ein Beiprogramm, nämlich Workshops mit Studenten und Diskussionsrunden. Dabei taucht immer wieder die Frage nach der Legitimation auf. Die Frage wurde dann zum Teil vom ruandischen Publikum selbst so beantwortet. Wenn man einen Genozid von außen betrachtet, durch den Blick der Fremden, kriegt man ein besseres Verständnis davon. Wir denken, wenn wir das Stück hier in der Gedenkstätte und im Radiostudio aufführen, dass die Menschen ein besseres Verständnis von der Geschichte erhalten."

Als das Stück nach ca. einer Stunde zu Ende ist, bleibt es still im Publikum vor dem ehemaligen Radiogebäude. Es herrscht eine beklemmende Stimmung. Zuschauerin Nadja hat die Radiosendung hinter dem Steuer ihres Autos verfolgt, das sie vor dem Gebäude geparkt hat. Sie weint.

"Ich weiß gar nicht, was das hier soll. Aber ja, vielleicht ist es gut, sich noch einmal an dieses Radio zu erinnern. Es ist für den Tod von so vielen Menschen verantwortlich. Es ist ein sensibles Thema, aber es ist gut. Dieses Radio hat unsere Leute getötet. Ich weiß nicht, was ich empfinden soll. Ich höre einfach nur zu."