Als die Faschisten Zehntausende entwurzelten
Mit faschistischen Musterstädten und einem Mega-Kanal wollte Benito Mussolini in die Geschichte eingehen, 30.000 italienische Bauern wurden dafür umgesiedelt. Vom Schicksal dieser Menschen erzählt Antonio Pennacchi in seinem neuen Roman.
Für Mussolini ist es ein Prestige-Projekt, das er mit großem Pomp inszeniert: die Trockenlegung der pontinischen Sümpfe und der Bau der faschistischen Musterstädte Littoria und Sabaudia. Noch vor der Einweihung Littorias (heute Latina) 1934 werden 30.000 Bauern aus Venetien, dem Friaul und der Emilia Romagna umgesiedelt, an der Urbarmachung beteiligt und mit Land und Häusern versorgt. Auch der Clan der Peruzzis gehört dazu. Als sie eintreffen, ist der Canale Mussolini, der zur Entwässerung des Landstrichs dient, erst zur Hälfte fertig. Wie die militanten Duce-Anhänger ihre Entwurzelung verkraften und eine neue Existenz aufbauen, ist Gegenstand des Romans Canale Mussolini.
Antonio Pennacchi, 1950 in Latina geboren, 30 Jahre lang Arbeiter in einer Kabelfabrik, als junger Mann Mitglied der neofaschistischen Partei MSI, dann Linksextremist, stammt aus einer jener venetischen Bauernfamilien und hat eine ganze Reihe von wichtigen Büchern über Latina und Umgebung verfasst. Sein gesamtes Leben sei auf die Niederschrift von Canale Mussolini zugelaufen, verkündet er in einem knappen Vorwort.
In der Tat handelt es sich um ein kollektives Zeugnis, das fast einen choralen Charakter entwickelt. Dazu passt, dass der Schriftsteller mit einer anonymen Erzählerstimme operiert, deren Identität sich erst zum Schluss klärt. Diese Stimme wendet sich an ein unsichtbares Gegenüber, reagiert auf Unterbrechungen, hakt nach und arbeitet mit den typischen Stilmitteln der mündlichen Rede: Wiederholungen, einem einfachen Satzbau, Dialogen und dialektalen Einsprengseln, die in der Übersetzung zwangsläufig verloren gehen.
Die Peruzzis, in ihrer Heimat ohne wirtschaftliche Grundlage, waren zur Umsiedlung gezwungen. In Littoria sind sie Ausländer, die nicht einmal dieselbe Sprache sprechen. Wie sie mit den alteingesessenen Einwohnern in Zwist geraten, gehört zu den Höhepunkten des Romans.
Mit seiner Verbindung von Mikro-Geschichte und Historie in Form einer Familienchronik knüpft Pennacchi an die große literarische Tradition seit Alessandro Manzoni an und rückt das Schicksal der kleinen Leute in den Mittelpunkt. Verdienstvoll ist die Thematisierung einer politischen Kraft, die in der italienischen Literatur bisher selten ihren Niederschlag fand und insgesamt viel zu wenig aufgearbeitet ist – die der Faschisten. Wie kam es zu ihrer Anhängerschaft, welchen Versprechungen saßen sie auf?
Mit seinen größenwahnsinnigen Unternehmungen schien der Faschismus erstarrte Strukturen zu sprengen und eine gesellschaftliche Erneuerung zu bewirken, so erlebten es zumindest Leute wie die Peruzzis. Einen Preis hatte das Ganze auch. Pennacchi bewegt sich jenseits der üblichen Wahrnehmungsmuster, bezieht den grausamen Abessinienkrieg mit ein und verändert den Blick auf die Umwälzungen. Dass Mussolini mitunter putzig wirkt und die kolloquiale Darbietung der Geschehnisse manchmal allzu naiv ausfällt, hat auch etwas Gutes: Es reizt zum Widerspruch.
Besprochen von Maike Albath
Antonio Pennacchi: Canale Mussolini
Aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Kleiner
Carl Hanser Verlag, München 2012
447 Seiten, 24,90 Euro
Antonio Pennacchi, 1950 in Latina geboren, 30 Jahre lang Arbeiter in einer Kabelfabrik, als junger Mann Mitglied der neofaschistischen Partei MSI, dann Linksextremist, stammt aus einer jener venetischen Bauernfamilien und hat eine ganze Reihe von wichtigen Büchern über Latina und Umgebung verfasst. Sein gesamtes Leben sei auf die Niederschrift von Canale Mussolini zugelaufen, verkündet er in einem knappen Vorwort.
In der Tat handelt es sich um ein kollektives Zeugnis, das fast einen choralen Charakter entwickelt. Dazu passt, dass der Schriftsteller mit einer anonymen Erzählerstimme operiert, deren Identität sich erst zum Schluss klärt. Diese Stimme wendet sich an ein unsichtbares Gegenüber, reagiert auf Unterbrechungen, hakt nach und arbeitet mit den typischen Stilmitteln der mündlichen Rede: Wiederholungen, einem einfachen Satzbau, Dialogen und dialektalen Einsprengseln, die in der Übersetzung zwangsläufig verloren gehen.
Die Peruzzis, in ihrer Heimat ohne wirtschaftliche Grundlage, waren zur Umsiedlung gezwungen. In Littoria sind sie Ausländer, die nicht einmal dieselbe Sprache sprechen. Wie sie mit den alteingesessenen Einwohnern in Zwist geraten, gehört zu den Höhepunkten des Romans.
Mit seiner Verbindung von Mikro-Geschichte und Historie in Form einer Familienchronik knüpft Pennacchi an die große literarische Tradition seit Alessandro Manzoni an und rückt das Schicksal der kleinen Leute in den Mittelpunkt. Verdienstvoll ist die Thematisierung einer politischen Kraft, die in der italienischen Literatur bisher selten ihren Niederschlag fand und insgesamt viel zu wenig aufgearbeitet ist – die der Faschisten. Wie kam es zu ihrer Anhängerschaft, welchen Versprechungen saßen sie auf?
Mit seinen größenwahnsinnigen Unternehmungen schien der Faschismus erstarrte Strukturen zu sprengen und eine gesellschaftliche Erneuerung zu bewirken, so erlebten es zumindest Leute wie die Peruzzis. Einen Preis hatte das Ganze auch. Pennacchi bewegt sich jenseits der üblichen Wahrnehmungsmuster, bezieht den grausamen Abessinienkrieg mit ein und verändert den Blick auf die Umwälzungen. Dass Mussolini mitunter putzig wirkt und die kolloquiale Darbietung der Geschehnisse manchmal allzu naiv ausfällt, hat auch etwas Gutes: Es reizt zum Widerspruch.
Besprochen von Maike Albath
Antonio Pennacchi: Canale Mussolini
Aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Kleiner
Carl Hanser Verlag, München 2012
447 Seiten, 24,90 Euro