Als die Nazis Leningrad aushungerten
Verzweiflung, Hunger, Kannibalismus: Bei der Belagerung Leningrads durch die deutsche Wehrmacht starben 750.000 Menschen. Die britische Historikerin Anna Reid beschreibt das Geschehen auf Basis von NKWD-Akten und Zeitzeugenberichten nun umfassend und neu.
Im Juni 1941 griff Hitlerdeutschland die Sowjetunion an. Anfangs gab der Verlauf der Kämpfe Hitler Anlass zur Hoffnung, auch diesmal erfolgreich einen Blitzkrieg zu führen. Im Sommer plante er bereits, nach Versklavung der Russen das Territorium der Sowjetunion mit Autobahnen zu durchziehen und so die Krim zur "deutschen Riviera" für Touristen zu machen.
Doch plötzlich kamen seine Truppen zum Stehen. Die erste Stadt, die nicht erobert werden konnte, war Leningrad. Ende September war sie von deutschen Truppen eingeschlossen, doch die deutschen Kräfte waren erschöpft, die Heeresführung stritt mit Hitler über das weitere strategische Vorgehen. Leningrad sollte nun eingeschlossen bleiben – aber nicht erobert werden. Man wollte seine Infrastruktur durch Bombenangriffe zerstören und die Bevölkerung aushungern.
"Blokada – Die Belagerung von Leningrad" heißt das neue Buch der britischen Historikerin Anna Reid. Die ehemalige Leiterin eines Londoner Thinktanks und Korrespondentin britischer Tageszeitungen beschreibt auf Basis erst in jüngerer Zeit verfügbarer Dokumente die Geschichte Leningrads der Jahre 1941 bis 1944 umfassend und neu. Bislang war diese vor allem durch den Mythos vom heroischen Sowjetbürger bestimmt, der entschlossen Hunger, Kälte und "faschistischen Usurpatoren" trotzt – und dabei noch Gedichte und Sinfonien schreibt.
Die Realität, das macht Reid in mitunter grauenerregender Anschaulichkeit deutlich, sah anders aus. Es gab unter den Belagerten Inkompetenz, Ignoranz, Verzweiflung, Korruption und Kannibalismus. Wer es nicht fertigbrachte, ein verstorbenes Familienmitglied zu verzehren, kratzte Tapeten von den Wänden, um den trockenen Leim zu essen. Leichen blieben monatelang in Straßen und Wohnungen liegen. "Zoologen überlebten die Belagerung, weil sie wussten, wie man Ratten und Tauben fängt. Unpraktische Mathematiker dagegen starben."
An der Tragödie der Leningrader Bevölkerung hatte auch Stalin erheblichen Anteil. Er hatte seine Streitkräfte von fähigen Offizieren "gesäubert", lähmte die Eigeninitiative verbleibender Kommandeure und vertraute Verteidigung wie Evakuierung der Stadt mediokren Apparatschiks an. Aus Zivilisten wurde eine Volkswehr gegründet – Kanonenfutter für die deutsche Wehrmacht. Evakuiert wurden vor allem Beschäftigte industrieller Anlagen, Kinder und ältere Menschen blieben in der Stadt - bald darauf die ersten Opfer der sich ausbreitenden Hungersnot.
Reid wertet deutsche und russische Heeresberichte aus, doch die große Qualität ihres Buches besteht darin, dass sie mit der Verwendung von Zeitzeugenberichten versucht, ein Bild zu entwerfen, das über die amtlichen Überlieferungen hinausgeht. Sie hat Interviews mit noch lebenden "Blokadnikis" geführt, zitiert aus erstmals unzensierten Tagebüchern von Eingeschlossenen und auch aus freigegebenen Akten des NKWD. Gegen die Legendenbildung setzt Reid eine Geschichtsschreibung, die auf einer breiteren Quellenbasis beruht.
Schwerpunkt ihres Buches sind die Monate von Dezember 1941 bis Februar 1942, die Zeit des katastrophalen Massensterbens – von russischen Historikern als "heroische Periode" der Belagerung bezeichnet. In ihr starben die meisten der insgesamt ca. 750.000 Opfer der 872 Tage dauernden Belagerung.
Die Autorin beendet ihre gut lesbare, detailreiche und immer wieder erschütternde Darstellung der Blockade mit einem Ausblick auf die Verhältnisse im Leningrad des Jahres 1951. Bitter die Erkenntnis, dass der durchaus vorhandene Patriotismus der Bevölkerung die politische Führung nach dem Krieg nur zu weiteren Repressionen animierte. "Wir wurden zweifach belagert, von innen und von außen", zitiert sie den Leningrader Philologen Lichatschov. Die von innen blieb, während deutsche Soldaten schon längst in Sibirien Zwangsarbeit verrichteten.
Besprochen von Carsten Hueck
Anna Reid: Blokada. Die Belagerung von Leningrad 1941-1944
Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter
Berlin Verlag, Berlin 2011
587 Seiten, 34 Euro
Doch plötzlich kamen seine Truppen zum Stehen. Die erste Stadt, die nicht erobert werden konnte, war Leningrad. Ende September war sie von deutschen Truppen eingeschlossen, doch die deutschen Kräfte waren erschöpft, die Heeresführung stritt mit Hitler über das weitere strategische Vorgehen. Leningrad sollte nun eingeschlossen bleiben – aber nicht erobert werden. Man wollte seine Infrastruktur durch Bombenangriffe zerstören und die Bevölkerung aushungern.
"Blokada – Die Belagerung von Leningrad" heißt das neue Buch der britischen Historikerin Anna Reid. Die ehemalige Leiterin eines Londoner Thinktanks und Korrespondentin britischer Tageszeitungen beschreibt auf Basis erst in jüngerer Zeit verfügbarer Dokumente die Geschichte Leningrads der Jahre 1941 bis 1944 umfassend und neu. Bislang war diese vor allem durch den Mythos vom heroischen Sowjetbürger bestimmt, der entschlossen Hunger, Kälte und "faschistischen Usurpatoren" trotzt – und dabei noch Gedichte und Sinfonien schreibt.
Die Realität, das macht Reid in mitunter grauenerregender Anschaulichkeit deutlich, sah anders aus. Es gab unter den Belagerten Inkompetenz, Ignoranz, Verzweiflung, Korruption und Kannibalismus. Wer es nicht fertigbrachte, ein verstorbenes Familienmitglied zu verzehren, kratzte Tapeten von den Wänden, um den trockenen Leim zu essen. Leichen blieben monatelang in Straßen und Wohnungen liegen. "Zoologen überlebten die Belagerung, weil sie wussten, wie man Ratten und Tauben fängt. Unpraktische Mathematiker dagegen starben."
An der Tragödie der Leningrader Bevölkerung hatte auch Stalin erheblichen Anteil. Er hatte seine Streitkräfte von fähigen Offizieren "gesäubert", lähmte die Eigeninitiative verbleibender Kommandeure und vertraute Verteidigung wie Evakuierung der Stadt mediokren Apparatschiks an. Aus Zivilisten wurde eine Volkswehr gegründet – Kanonenfutter für die deutsche Wehrmacht. Evakuiert wurden vor allem Beschäftigte industrieller Anlagen, Kinder und ältere Menschen blieben in der Stadt - bald darauf die ersten Opfer der sich ausbreitenden Hungersnot.
Reid wertet deutsche und russische Heeresberichte aus, doch die große Qualität ihres Buches besteht darin, dass sie mit der Verwendung von Zeitzeugenberichten versucht, ein Bild zu entwerfen, das über die amtlichen Überlieferungen hinausgeht. Sie hat Interviews mit noch lebenden "Blokadnikis" geführt, zitiert aus erstmals unzensierten Tagebüchern von Eingeschlossenen und auch aus freigegebenen Akten des NKWD. Gegen die Legendenbildung setzt Reid eine Geschichtsschreibung, die auf einer breiteren Quellenbasis beruht.
Schwerpunkt ihres Buches sind die Monate von Dezember 1941 bis Februar 1942, die Zeit des katastrophalen Massensterbens – von russischen Historikern als "heroische Periode" der Belagerung bezeichnet. In ihr starben die meisten der insgesamt ca. 750.000 Opfer der 872 Tage dauernden Belagerung.
Die Autorin beendet ihre gut lesbare, detailreiche und immer wieder erschütternde Darstellung der Blockade mit einem Ausblick auf die Verhältnisse im Leningrad des Jahres 1951. Bitter die Erkenntnis, dass der durchaus vorhandene Patriotismus der Bevölkerung die politische Führung nach dem Krieg nur zu weiteren Repressionen animierte. "Wir wurden zweifach belagert, von innen und von außen", zitiert sie den Leningrader Philologen Lichatschov. Die von innen blieb, während deutsche Soldaten schon längst in Sibirien Zwangsarbeit verrichteten.
Besprochen von Carsten Hueck
Anna Reid: Blokada. Die Belagerung von Leningrad 1941-1944
Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter
Berlin Verlag, Berlin 2011
587 Seiten, 34 Euro