Als ein kleiner Junge die Tiere in den Farbtopf tauchte

Das Gemälde "Blaues Pferd I" von Franz Marc aus dem Jahr 1911
Das Gemälde "Blaues Pferd I" von Franz Marc aus dem Jahr 1911 © Lenbachhaus München
"Ich bin ein Künstler und male", behauptet der kleine Junge in diesem Bilderbuch ab vier Jahren. Und dann laufen ein blaues Pferd, ein Elefant in Orange oder ein violetter Fuchs über die Seiten. Die Farben leuchten, die Zeichnungen haben Witz. Mit der Geschichte verbeugt sich ihr Schöpfer Eric Carle vor dem großen Expressionisten Franz Marc.
"Der Künstler und das blaue Pferd" – wem fällt bei diesem Titel nicht der expressionistische Maler Franz Marc ein, der 1880 geboren wurde und viel zu jung im Ersten Weltkrieg ums Leben kam? Franz Marc liebte und malte Tiere: Pferde und Füchse, Tiger und Reh, Spatz und Elefant. Und er malte sie in allen Farben, blau und rot, gelb und grün, möglichst leuchtend, möglichst expressiv. Eines seiner berühmtesten Bilder ist das "Blaue Pferd I", das heute im Münchener Lenbachhaus hängt.

Doch Eric Carle erzählt hier nicht von Franz Marc – oder zumindest nicht zuerst. Der Künstler, der hier das blaue Pferd malt, ist ein Junge. Mit wuscheligen Haaren, rot-weiß gestreiftem T-Shirt und blauer Hose steht er mit großer Geste auf der ersten Doppelseite vor einer Leinwand. Vor sich hat er eine kunterbunte Palette, wie ein Dirigent schwingt er selbstbewusst den Pinsel mit blauer Farbe und behauptet: "Ich bin ein Künstler und male".

Und dann laufen ein blaues Pferd, ein orange Elefant und ein violetter Fuchs, ein schwarzer Eisbär, ein bunt getupfter Esel und andere Tiere jeweils über eine hochformatige Doppelseite. Tiere, die in ihrer Farbigkeit, ihrer Expressivität und zugleich Schlichtheit ungeheuer wuchtig und präsent wirken. Ganz deutlich erinnern sie an Franz Marcs Tierdarstellungen und sind doch zugleich ganz Eric Carle – modern, schwungvoll und zum Teil auch ein bisschen komisch. Mit weit aufgerissenem Maul das rote Krokodil, leicht dümmlich die gelbe Kuh. Man sieht den Künstler förmlich mit den Augen zwinkern. Auch bei dem letzten Satz des Jungen und des Buches: "Ich bin ein großer Künstler." Dieses Ich ist vieldeutig:

Franz Marc war ein großer Künstler. Eric Carle ist es immer wieder. Der Junge ebenfalls. Und auch jeder von uns kann ein großer Künstler sein. So jedenfalls darf man dies Buch verstehen: als Mutmacher zur Kreativität und als Anleitung zum Glücklichsein. Und wer nun nicht selbst Lust hat, Pinsel oder Stifte in die Hand zu nehmen, der kann sich förmlich besaufen an den herrlichen, leuchtenden Farben, die Eric Carle seinen kleinen und großen Betrachtern schenkt. An der dynamischen Bewegung seiner bunten Tiere und am Witz der Gestaltung. Eine schönere Hommage an Franz Marc kann man sich nicht denken.

Denn eine solche ist "Der Künstler und das blaue Pferd" natürlich auch. Eric Carle lernte die Bilder von Franz Marc als Junge kennen, als er in den 30er-Jahren in Deutschland zur Schule ging und Franz Marcs Bilder als "entartet" bezeichnet wurden. Damals seien seine bunten Tiere "geboren" worden, sagte Carle selbst einmal. Wer mag, kann auch noch Anspielungen auf andere Bücher entdecken: auf das "rosa Kaninchen" von Judith Kerr oder den "glücklichen Löwen" von Roger Duvoisin. Aber man darf dieses Bilderbuch auch ganz einfach genießen - und glücklich sein!

Rezensiert von Sylvia Schwab

Eric Carle: Der Künstler und das blaue Pferd
Aus dem amerikanischen Englisch von Ulli und Herbert Günther
Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2012
32 Seiten, 12,95 Euro - ab 4 Jahren