Als Nachkomme einer berühmten NS-Figur

Vorgestellt von Reinhard Kreissl · 23.10.2005
Richard von Schirach, jüngster Sohn des Reichsjugendführers Baldur von Schirach hat ein Buch über die Bedeutung seines Vaters für sein eigenes Leben geschrieben. Diese Art von "Kinderbüchern", verfasst von den Nachkommen berühmter Figuren des Nationalsozialismus, hat Konjunktur.
Speers Tochter, Franks Sohn und viele andere haben sich mit dem Dilemma der Nachgeborenen auseinandergesetzt. Sie alle bearbeiten die gleiche Konstellation: belastet mit dem Namen navigieren sie zwischen persönlicher Geschichte und historischer Erzählung. Wie kann man sich als Kind zu Menschen, die im öffentlichen Bewusstsein als verabscheuungswürdige Ikonen des nationalsozialistischen Unrechtsregimes erscheinen, in Beziehung setzen? Gibt es eine Möglichkeit der persönlichen Verarbeitung von Vergangenheit, die zwischen symbolischem Vatermord und verschämter Vermenschlichung einen angemessenen Weg findet?

Schirachs Buch umgeht die explizite Antwort auf diese Fragen durch einen naiven Erzählduktus. Der Autor präsentiert über weite Strecken eher eine lange Erzählung als einen reflektierenden Essay. Das macht zugleich die Stärke und die Schwäche des Buches aus. Das erste Kapitel skizziert die Genealogie der Schirachs und das geistige und politisch-soziale Klima, in dem der Vater als Spross einer weit verzweigten angesehenen Familie in Weimar aufwuchs. Hitler macht die Bekanntschaft von Baldurs Vater im Jahr 1925 und beeindruckt ihn, durch seine für einen Laien erstaunliche Kenntnis des Werks von Richard Wagner. Er lädt ihn zu sich ein.

"Am nächsten Tag steht Hitler, begleitet von seinem Freund Rudolf Hess, mit einem Blumenstrauß in der Hand vor der mit zwei großen Säulen im amerikanischen Kolonialstil erbauten Villa, die sich mein Großvater 1908 ... bauen ließ. ... Nun lernt mein Vater zum ersten Mal jenen Mann persönlich kennen, der sein Schicksal werden sollte. Hitler schlägt dem Gymnasiasten vor, nach dem Abitur in München zu studieren und sich bei ihm zu melden. "

Es folgen ausführliche Kapitel über die Kinder- und Jugendzeit, das Leben mit der Mutter, die sich vom Vater scheiden lässt. Richard lebt auf dem Land, geht in die Schule, kommt ins Internat, macht Abitur, beginnt zu studieren. In epischer Breite führt er seine Leser durch die Nachkriegszeit.

Der Vater ist für den Jungen nur ein Phantom. Er darf ihn im Gefängnis in Spandau besuchen, kurze Momente, in denen die beiden unter den argwöhnischen Augen der Aufseher sich vor einer Trennscheibe gegenübersitzen. Die Beziehung entwickelt sich im wesentlichen über einen intensiven Briefverkehr, eingebettet in ein kompliziertes Regime, da die Anzahl und der Umfang der Briefe, die der Gefangene erhalten darf, kontingentiert sind. Es ist diese Schilderung der immer überwachten Kommunikation – die Briefe werden zensiert, bestimmte Themen dürfen nicht erwähnt werden – die Schirachs Buch wirklich lesenswert macht. Im Kopf des jungen Richard entsteht das ebenso ungewisse wie klare Bild eines Vaters, mit dem er unter extrem eingeschränkten und manchmal geradezu bizarren Umständen von Überwachung und Zensur Zwiesprache hält. Die typische Frage: was würde Vater sagen, stellt er sich immer wieder und kann sie dennoch dem realen Vater nicht stellen. Der Konflikt blitzt in seltenen Momenten auf: Der Vater lebt isoliert in einer Zeitkapsel, eingesperrt mit den anderen Granden des NS-Regimes, während sich das Wirtschaftswunder und die junge Bundesrepublik aus den Trümmern erheben. Richard erzählt ihm während eines Besuchs von seinem Leben. Er geht in Ansbach in die Schule und lebt zur Untermiete bei einem Ehepaar. Der Vater hört den Sohn an und irritiert ihn dann mit der Frage nach seinem gesellschaftlichen Leben. Ob er nicht auch regelmäßig, so wie er in seiner Jugend zu Teeeinladungen gehe.

" Teeeinladungen ...? Schon das Wort stammte aus einer anderen Sphäre, wo es silberne Zuckerzangen und achteckig geschliffene Salzstreuer mit Silberdeckelchen gab. Nun sollte ich mich wegen meines brachliegenden gesellschaftlichen Lebens erklären. Ich hielt mich mit Geldscheinen über Wasser, die mir meine Mutter in die unregelmäßigen Briefe legte, ... Ich fühlte den Widerhaken, der in dieser Frage steckte. Ich empfand den so beiläufig wirkenden, leicht überhörbaren Vorwurf als bösartigen Stich gegen die Loyalität und den unverrückbaren Beistand, den wir ihm entgegengebracht hatten. In meiner bescheidenen Existenz fühlte ich mich geradezu verhöhnt vom Gebaren eines kulturverwöhnten Großbürgersöhnchens aus Weimar. "

Eine Aufarbeitung der Vergangenheit des Vaters ist für Richard nicht möglich, solange er inhaftiert ist. Politische Themen sind unter den Bedingungen der überwachten Kommunikation verboten. Der Konflikt bricht aus, als der Vater freigelassen wird. Er kommt in eine Welt, die nicht mehr die seine ist und versucht gegenüber seinen Kindern eine Rolle einzunehmen, die diese befremdet. An kleinen Gesten entzünden sich grundlegende Kontroversen. Man sieht, wie die politisch-intellektuelle Haltung des Vaters und sein sozial-kultureller Stil eine Gestalt formen, einen Habitus, der für viele der verantwortlichen Akteure typisch gewesen sein dürfte.

" Alle diese 'gekonnten' Handküsse, die austarierten Sitzordnungen, die nie vergessenen Blumensträuße, das artige Zerlegen von Artischockenköpfen, das arkanische Wissen um Anreden waren nichts wert gewesen, als es darum gegangen wäre, das Gewissen zu schärfen und Mitmenschlichkeit zu beweisen. "

Wie eine Mumie, die man aus dem verschlossenen Sarkophag nimmt, zerfällt das Bild des Vaters in der unmittelbaren Konfrontation mit ihm. Als er versucht, sein Verhalten mit den Verpflichtungen seines Eides zu begründen, trifft er nur auf Unverständnis. Aus dem unnahbaren und zugleich herbeigesehnten Übervater wird allmählich die irreal reale Figur des Kriegsverbrechers, der seine Memoiren an eine Zeitschrift verkauft, um sein Leben zu finanzieren. Am Ende bleibt eine Mischung aus Mitleid und Unverständnis, ein offenes Ende, das den Zwiespalt des Sohnes eher dokumentiert, als ihn aufzulösen.

Richard von Schirach: Der Schatten meines Vaters
Hanser Verlag, München & Wien 2005