Als Napoleons Bann gebrochen wurde
Zwei umfangreiche Darstellungen zum Russland-Feldzug des französischen Kaisers wählen verschiedene Gesichtspunkte: Adam Zamoyski interessiert sich für das Erleben der Kriegsteilnehmer, Dominic Lieven rehabilitiert mit einer faszinierenden Analyse die zuletzt wenig angesehene Diplomatiegeschichte.
Im Juni 1812 versammelt sich an der russischen Westgrenze die größte Armee, die Europa je gesehen hat. Franzosen, Polen, Deutsche, Österreicher, Italiener, Holländer, Kroaten – man nennt sie die Armee der 20 Zungen. Am 24. Juni überschreitet sie den Njemen, der Krieg gegen Russland ist eröffnet.
Napoleon steht im Zenit seines Ruhms. Ein Füsilier schreibt seinen Eltern, er breche auf nach den "Grandes Indes" oder "Egippe". "Mir ist das ganz einerlei; ich wünschte, wir würden bis ans Ende der Welt gehen." So dachten wohl viele, auf eine schauerliche Weise sollte der Wunsch wahr werden.
Es war nicht nur die größte je gesehene Armee, es war auch die größte je geschehene militärische Katastrophe, zu der sie aufbrach. Um die 600.000 Mann nahmen an Napoleons Feldzug teil, nicht mehr als 150.000 kehrten zurück. Auf russischer Seite waren die Verluste ähnlich groß, dazu kamen die Opfer der Zivilbevölkerung. Als sich im Dezember 1812, nur sechs Monate später, die letzten Reste der französischen Armee über den Njemen zurückgerettet hatten, waren eine Million Menschen gestorben für dieses Abenteuer, die wenigsten in Folge der Schlacht.
"Die Gesundheit seiner Majestät ist nie besser gewesen", ließ Napoleon im berühmten 29. Bulletin verkünden. Treffender schrieb die Zarenmutter 1813:
"Mir scheint, dass der Bann gebrochen ist, was Napoleon angeht, und er nicht mehr so furchteinflößend ist wie einst. Er ist kein Idol mehr, sondern in die Gefilde der Menschen herabgestiegen und kann nun von Menschen bekämpft werden."
Zwei umfangreiche Darstellungen zu diesem Thema sind zuletzt erschienen. Sie wählen verschiedene Gesichtspunkte und sind auf je eigene Weise bemerkenswert. Das erste Buch stammt von Adam Zamoyski, es heißt "1812. Napoleons Feldzug in Russland".
Zamoyski, einer alten polnischen Adelsfamilie entstammend, interessiert sich vor allem für das Erleben der Kriegsteilnehmer. Mit großem Geschick collagiert er Berichte aus Briefen, Tagebüchern und Erinnerungen.
Die Hitze während des Marsches auf Moskau, die Seuchen, die Erschöpfung, die Nöte, die die Verpflegung, vor allem die der Pferde, aufwirft, die Leere des aufgegebenen Moskaus, als die Grande Armee die Hauptstadt des Feindes eingenommen und doch nichts gewonnen hat, der verspätete Rückzug in Kälte und Eis, das gibt einen Eindruck, den der Leser schwer vergisst.
Was ist der Mensch in solchen Extremsituationen, wenn ihn der Hunger treibt, Fleisch aus lebenden Pferden zu schneiden und nicht einmal der Kannibalismus tabu ist? Ein Leutnant erinnert sich an den Übergang über die Beresina, als alles versuchte, sich vor den andrängenden Russen über die Brücke zu retten:
"Ich habe in meinem Leben nie etwas Grausigeres erlebt als das Gefühl, über lebende Kreaturen hinwegzugehen, die versuchten, sich an meinen Beinen festzuklammern, und die in ihrem Bemühen, sich wieder zu erheben, meine Bewegungen lähmten. Ich entsinne mich noch heute, wie mir zumute war, als ich auf eine Frau trat, die noch am Leben war. Ich spürte ihren Körper zucken und hörte sie schreien und klagen: ,Oh haben Sie doch Mitleid mir.‘"
Aber Mitleid ist selten.
"Jeder, der sich von den abscheulichen Szenen, deren Zeuge er wurde, erweichen ließ, sprach das Todesurteil über sich selbst; wer jedem Mitgefühl sein Herz verschloss, fand die Kraft, alles Schlimme zu überstehen."
Es ist ein anthropologisches Interesse, das hier wirkt, angetrieben von einer spürbaren Sympathie für die französische Seite, wenn auch nicht für Napoleon selbst. Das wäre noch kein Problem, entspräche dem nicht eine stete Missachtung alles Russischen.
Zamoyski hält den Krieg für den Zusammenstoß von Aufklärung und Reaktion. Als aufgeklärt und reaktionär lassen sich vielleicht die beiden Reiche beschreiben, doch das macht nicht die Natur ihres Konfliktes aus. Napoleon ging es nicht um Aufklärung, als er die Grande Armee in Marsch setzte. Wenn er von den "Horden des Nordens" sprach, die der Süden niederwerfen müsse, dann war das Propaganda.
Zamoyski aber folgt ihr ziemlich weit in seiner Geringschätzung der Russen, ihrer Armeeführung, Soldaten, Kultur. Die Kosaken, die den Franzosen heftig zusetzten, nennt er – wörtlich und nicht etwa zitatweise – "Kosakenbanden", "Hyänen" und "Schmeißfliegen", dabei hält er sie auch noch für feige.
Der zweite Einwand gegen Zamoyski: Sein anthropologisches Interesse steht dem politischen im Wege. Die Machtfaktoren, die hier im Spiel sind, die der Außenpolitik, der Wirtschaft, des Finanzwesens, der Demographie; sie kümmern ihn wenig. Er sieht auf eine menschliche Tragödie: Hoffnungen, Verblendung – gerade auch bei Napoleon selbst –, Leiden. Das gibt dem Buch die Kraft, setzt aber dem historischen Erkenntnisgewinn Grenzen.
Da lernt man deutlich mehr aus dem zweiten Buch. Es trägt den etwas irritierenden Titel "Russland gegen Napoleon", stammt von Dominic Lieven und ist bislang wenig beachtet worden. Dabei ist der Autor gut empfohlen, Professor für russische Geschichte an der London School of Economics, Mitherausgeber der Cambridge History of Russia.
Wie Zamoyski entstammt auch er einer historisch bedeutenden Familie. Die Lievens, Baltendeutsche, spielten in der napoleonischen Zeit eine wichtige Rolle im russischen Staat. Lieven sympathisiert mit den Russen, doch legt er die Karten sofort auf den Tisch. Und er ist frei von jedem Unwillen gegen die andere, die französische Seite. Dass sein Buch unmodern erscheinen könnte, wie aus der Zeit gefallen, weiß der Autor selbst:
"Wenn man partout als ungeeignet für jede britische oder gar amerikanische Universität erscheinen möchte, dann braucht man nur zu erklären, man wolle die Geschichte von Schlachten, von Diplomatie und Königen erforschen."
Und doch hat er sich diesen Dingen gewidmet, und dem Leser einen großen, einen unerwarteten Gefallen getan – und zwar auch dem Leser, der sich für Militärisches nicht interessiert. Bis heute wird diese Epoche ja als eine der Modernisierung gedeutet: Napoleon mobilisiert die Energie des revolutionären Frankreichs und rennt damit das alte Europa über den Haufen.
Dies holt in der Niederlage seine Modernisierungslektion nach – Preußen ist der Musterfall – und überwindet Napoleon mit jenen Kräften, die er ins Spiel gebracht hatte. Da ist es interessant zu sehen, dass Russland sich gegen Frankreich ohne solche politische Modernisierung behauptete. Die Meistererzählung vom Triumph des revolutionären Prinzips, sie wird von Lieven nicht widerlegt, aber relativiert.
Dazu gehört, dass er die Katastrophe Napoleons nicht allein auf das Konto der Natur, der Weite des Raums und der Härte des Klimas bucht. Während Zamoyski der russischen Generalität keinerlei Verdienste zubilligt, zeigt Lieven, dass das russische Kriegsministerium seit 1810 mit einem französischen Angriff rechnete.
Barclay de Tolly, Kriegsminister und später Befehlshaber der 1. Armee, plädierte früh in einer Denkschrift für den Rückzug bis hinter den Dnjepr. Napoleon hatte sich bis dato als der Feldherr der Entscheidungsschlachten erwiesen. Ihn ins Leere laufen zu lassen, sollte die Rettung bringen.
Das aber wäre nicht möglich gewesen ohne die Marschleistungen und die enorme Disziplin der Truppen auf dem Rückzug, das operative Geschick der Führung, die Bravour der Kavallerie, wie die vorzügliche Artillerie. Technisch-ökonomisch hatte Russland einiges aufgeholt.
Während Zamoyski nur den Russlandfeldzug bis zum Dezember 1812 behandelt, verfolgt Lieven den Kampf weiter bis zur ersten Abdankung Napoleons 1814. Das gibt ihm Gelegenheit, die diplomatischen Probleme zu entfalten, die Russland, Preußen, Österreich und England als Koalitionäre hatten.
Diplomatiegeschichte genoss bei uns in den letzten Jahren wenig Interesse. Zu nah schien sie den alten, verderblichen Idealen der Machtstaatlichkeit. Auch die politische Lage lenkte die Aufmerksamkeit nicht auf zwischenstaatliche Konflikte, weder die blockhafte Welt des Kalten Krieges noch die europäische Einigung, die nur die eine glückliche Entwicklungsrichtung zu kennen schien. Da sind wir inzwischen belehrt.
Und so liest man heute mit erneuerter Faszination, vor welchen Schwierigkeiten die Politiker der antinapoleonischen Koalition standen. Nesselerode für den Zaren, Castlereagh, Hardenberg, Metternich: An ihrem Rang besteht kein Zweifel, auch nicht an ihrem Bewusstsein für die Gefahr, die Napoleon für den Frieden Europas bedeutete. Und wie schwierig ist es dennoch zusammenzufinden!
Mit großer Kunst stellt Lieven immer wieder die Entscheidungssituationen vor Augen. Die Beteiligten sehen ihre Handlungsmöglichkeiten. Vor- und Nachteile zeichnen sich ab, doch quantifizieren lassen sie sich nicht. So müssen die besten Köpfe ihrer Zeit, nicht zuletzt Napoleon, immer wieder erkennen, wie sie in die Irre gegangen sind.
Dazu die Interessengegensätze struktureller Art, Rangfragen, Eitelkeiten – lästig, lächerlich, aber nicht ohne Gewicht. Es ist ein Blick in das Innere der Politik. Selten ist sie auf solchem Niveau betrieben worden wie 1812 bis 1815, und doch voller Empfindlichkeiten, Verzögerungen, ein Rechnen mit Mängeln.
Der Leser lernt, wie die Dynamik der Probleme und die Zähigkeit der Lösungen miteinander verschränkt sind, wie mühsam es ist, unter selbständigen Staaten ein Einvernehmen herzustellen. Das wird man im Jahr 2012 nicht ohne Bewegung zur Kenntnis nehmen.
Adam Zamoyski: 1812. Napoleons Feldzug in Russland
Aus dem Englischen von Ruth Keen und Erhard Stölting
C.H. Beck Verlag, München 2012
Dominic Lieven: Russland gegen Napoleon. Die Schlacht um Europa
Aus dem Englischen von Helmut Ettinger
C. Bertelsmann Verlag, München 2011
Napoleon steht im Zenit seines Ruhms. Ein Füsilier schreibt seinen Eltern, er breche auf nach den "Grandes Indes" oder "Egippe". "Mir ist das ganz einerlei; ich wünschte, wir würden bis ans Ende der Welt gehen." So dachten wohl viele, auf eine schauerliche Weise sollte der Wunsch wahr werden.
Es war nicht nur die größte je gesehene Armee, es war auch die größte je geschehene militärische Katastrophe, zu der sie aufbrach. Um die 600.000 Mann nahmen an Napoleons Feldzug teil, nicht mehr als 150.000 kehrten zurück. Auf russischer Seite waren die Verluste ähnlich groß, dazu kamen die Opfer der Zivilbevölkerung. Als sich im Dezember 1812, nur sechs Monate später, die letzten Reste der französischen Armee über den Njemen zurückgerettet hatten, waren eine Million Menschen gestorben für dieses Abenteuer, die wenigsten in Folge der Schlacht.
"Die Gesundheit seiner Majestät ist nie besser gewesen", ließ Napoleon im berühmten 29. Bulletin verkünden. Treffender schrieb die Zarenmutter 1813:
"Mir scheint, dass der Bann gebrochen ist, was Napoleon angeht, und er nicht mehr so furchteinflößend ist wie einst. Er ist kein Idol mehr, sondern in die Gefilde der Menschen herabgestiegen und kann nun von Menschen bekämpft werden."
Zwei umfangreiche Darstellungen zu diesem Thema sind zuletzt erschienen. Sie wählen verschiedene Gesichtspunkte und sind auf je eigene Weise bemerkenswert. Das erste Buch stammt von Adam Zamoyski, es heißt "1812. Napoleons Feldzug in Russland".
Zamoyski, einer alten polnischen Adelsfamilie entstammend, interessiert sich vor allem für das Erleben der Kriegsteilnehmer. Mit großem Geschick collagiert er Berichte aus Briefen, Tagebüchern und Erinnerungen.
Die Hitze während des Marsches auf Moskau, die Seuchen, die Erschöpfung, die Nöte, die die Verpflegung, vor allem die der Pferde, aufwirft, die Leere des aufgegebenen Moskaus, als die Grande Armee die Hauptstadt des Feindes eingenommen und doch nichts gewonnen hat, der verspätete Rückzug in Kälte und Eis, das gibt einen Eindruck, den der Leser schwer vergisst.
Was ist der Mensch in solchen Extremsituationen, wenn ihn der Hunger treibt, Fleisch aus lebenden Pferden zu schneiden und nicht einmal der Kannibalismus tabu ist? Ein Leutnant erinnert sich an den Übergang über die Beresina, als alles versuchte, sich vor den andrängenden Russen über die Brücke zu retten:
"Ich habe in meinem Leben nie etwas Grausigeres erlebt als das Gefühl, über lebende Kreaturen hinwegzugehen, die versuchten, sich an meinen Beinen festzuklammern, und die in ihrem Bemühen, sich wieder zu erheben, meine Bewegungen lähmten. Ich entsinne mich noch heute, wie mir zumute war, als ich auf eine Frau trat, die noch am Leben war. Ich spürte ihren Körper zucken und hörte sie schreien und klagen: ,Oh haben Sie doch Mitleid mir.‘"
Aber Mitleid ist selten.
"Jeder, der sich von den abscheulichen Szenen, deren Zeuge er wurde, erweichen ließ, sprach das Todesurteil über sich selbst; wer jedem Mitgefühl sein Herz verschloss, fand die Kraft, alles Schlimme zu überstehen."
Es ist ein anthropologisches Interesse, das hier wirkt, angetrieben von einer spürbaren Sympathie für die französische Seite, wenn auch nicht für Napoleon selbst. Das wäre noch kein Problem, entspräche dem nicht eine stete Missachtung alles Russischen.
Zamoyski hält den Krieg für den Zusammenstoß von Aufklärung und Reaktion. Als aufgeklärt und reaktionär lassen sich vielleicht die beiden Reiche beschreiben, doch das macht nicht die Natur ihres Konfliktes aus. Napoleon ging es nicht um Aufklärung, als er die Grande Armee in Marsch setzte. Wenn er von den "Horden des Nordens" sprach, die der Süden niederwerfen müsse, dann war das Propaganda.
Zamoyski aber folgt ihr ziemlich weit in seiner Geringschätzung der Russen, ihrer Armeeführung, Soldaten, Kultur. Die Kosaken, die den Franzosen heftig zusetzten, nennt er – wörtlich und nicht etwa zitatweise – "Kosakenbanden", "Hyänen" und "Schmeißfliegen", dabei hält er sie auch noch für feige.
Der zweite Einwand gegen Zamoyski: Sein anthropologisches Interesse steht dem politischen im Wege. Die Machtfaktoren, die hier im Spiel sind, die der Außenpolitik, der Wirtschaft, des Finanzwesens, der Demographie; sie kümmern ihn wenig. Er sieht auf eine menschliche Tragödie: Hoffnungen, Verblendung – gerade auch bei Napoleon selbst –, Leiden. Das gibt dem Buch die Kraft, setzt aber dem historischen Erkenntnisgewinn Grenzen.
Da lernt man deutlich mehr aus dem zweiten Buch. Es trägt den etwas irritierenden Titel "Russland gegen Napoleon", stammt von Dominic Lieven und ist bislang wenig beachtet worden. Dabei ist der Autor gut empfohlen, Professor für russische Geschichte an der London School of Economics, Mitherausgeber der Cambridge History of Russia.
Wie Zamoyski entstammt auch er einer historisch bedeutenden Familie. Die Lievens, Baltendeutsche, spielten in der napoleonischen Zeit eine wichtige Rolle im russischen Staat. Lieven sympathisiert mit den Russen, doch legt er die Karten sofort auf den Tisch. Und er ist frei von jedem Unwillen gegen die andere, die französische Seite. Dass sein Buch unmodern erscheinen könnte, wie aus der Zeit gefallen, weiß der Autor selbst:
"Wenn man partout als ungeeignet für jede britische oder gar amerikanische Universität erscheinen möchte, dann braucht man nur zu erklären, man wolle die Geschichte von Schlachten, von Diplomatie und Königen erforschen."
Und doch hat er sich diesen Dingen gewidmet, und dem Leser einen großen, einen unerwarteten Gefallen getan – und zwar auch dem Leser, der sich für Militärisches nicht interessiert. Bis heute wird diese Epoche ja als eine der Modernisierung gedeutet: Napoleon mobilisiert die Energie des revolutionären Frankreichs und rennt damit das alte Europa über den Haufen.
Dies holt in der Niederlage seine Modernisierungslektion nach – Preußen ist der Musterfall – und überwindet Napoleon mit jenen Kräften, die er ins Spiel gebracht hatte. Da ist es interessant zu sehen, dass Russland sich gegen Frankreich ohne solche politische Modernisierung behauptete. Die Meistererzählung vom Triumph des revolutionären Prinzips, sie wird von Lieven nicht widerlegt, aber relativiert.
Dazu gehört, dass er die Katastrophe Napoleons nicht allein auf das Konto der Natur, der Weite des Raums und der Härte des Klimas bucht. Während Zamoyski der russischen Generalität keinerlei Verdienste zubilligt, zeigt Lieven, dass das russische Kriegsministerium seit 1810 mit einem französischen Angriff rechnete.
Barclay de Tolly, Kriegsminister und später Befehlshaber der 1. Armee, plädierte früh in einer Denkschrift für den Rückzug bis hinter den Dnjepr. Napoleon hatte sich bis dato als der Feldherr der Entscheidungsschlachten erwiesen. Ihn ins Leere laufen zu lassen, sollte die Rettung bringen.
Das aber wäre nicht möglich gewesen ohne die Marschleistungen und die enorme Disziplin der Truppen auf dem Rückzug, das operative Geschick der Führung, die Bravour der Kavallerie, wie die vorzügliche Artillerie. Technisch-ökonomisch hatte Russland einiges aufgeholt.
Während Zamoyski nur den Russlandfeldzug bis zum Dezember 1812 behandelt, verfolgt Lieven den Kampf weiter bis zur ersten Abdankung Napoleons 1814. Das gibt ihm Gelegenheit, die diplomatischen Probleme zu entfalten, die Russland, Preußen, Österreich und England als Koalitionäre hatten.
Diplomatiegeschichte genoss bei uns in den letzten Jahren wenig Interesse. Zu nah schien sie den alten, verderblichen Idealen der Machtstaatlichkeit. Auch die politische Lage lenkte die Aufmerksamkeit nicht auf zwischenstaatliche Konflikte, weder die blockhafte Welt des Kalten Krieges noch die europäische Einigung, die nur die eine glückliche Entwicklungsrichtung zu kennen schien. Da sind wir inzwischen belehrt.
Und so liest man heute mit erneuerter Faszination, vor welchen Schwierigkeiten die Politiker der antinapoleonischen Koalition standen. Nesselerode für den Zaren, Castlereagh, Hardenberg, Metternich: An ihrem Rang besteht kein Zweifel, auch nicht an ihrem Bewusstsein für die Gefahr, die Napoleon für den Frieden Europas bedeutete. Und wie schwierig ist es dennoch zusammenzufinden!
Mit großer Kunst stellt Lieven immer wieder die Entscheidungssituationen vor Augen. Die Beteiligten sehen ihre Handlungsmöglichkeiten. Vor- und Nachteile zeichnen sich ab, doch quantifizieren lassen sie sich nicht. So müssen die besten Köpfe ihrer Zeit, nicht zuletzt Napoleon, immer wieder erkennen, wie sie in die Irre gegangen sind.
Dazu die Interessengegensätze struktureller Art, Rangfragen, Eitelkeiten – lästig, lächerlich, aber nicht ohne Gewicht. Es ist ein Blick in das Innere der Politik. Selten ist sie auf solchem Niveau betrieben worden wie 1812 bis 1815, und doch voller Empfindlichkeiten, Verzögerungen, ein Rechnen mit Mängeln.
Der Leser lernt, wie die Dynamik der Probleme und die Zähigkeit der Lösungen miteinander verschränkt sind, wie mühsam es ist, unter selbständigen Staaten ein Einvernehmen herzustellen. Das wird man im Jahr 2012 nicht ohne Bewegung zur Kenntnis nehmen.
Adam Zamoyski: 1812. Napoleons Feldzug in Russland
Aus dem Englischen von Ruth Keen und Erhard Stölting
C.H. Beck Verlag, München 2012
Dominic Lieven: Russland gegen Napoleon. Die Schlacht um Europa
Aus dem Englischen von Helmut Ettinger
C. Bertelsmann Verlag, München 2011