Suche nach dem verheißenen Land
Die Altai-Region, in einem entlegenen Winkel Russlands gelegen, galt lange Zeit als utopistischer Ort voller Verheißungen. Heute wird die Region mit entsprechenden pseudo-traditionellen Festen kapitalistisch vermarktet.
"Man stelle sich vor, es gäbe ein Land, in dem die Menschen in Freiheit und Harmonie lebten. Ein Land, auf keiner Landkarte verzeichnet, noch nicht einmal als weißer Fleck umrissen. Verborgen, irgendwo im Gebirge, weit weg von unseren konfliktträchtigen Zivilisationen. Ganz weit weg von allem. Nur auffindbar für den, der das Land sucht.
"Der Großfürst Vladimir in Kiew befragte einen Wandermönch: Welches ist die beste Religion für mein Land? Der Mönch meditierte und fastete sieben Tage und Nächte lang. Da erschien ihm im Traum ein byzantinischer Priester und erinnerte ihn eine alte Überlieferung: weit im Osten sei ein Land von ewiger Schönheit und Weisheit, namens Belowodje. Nur wenigen, auserwählten Menschen sei es gestattet, dieses Land zu finden."
Belowodje. Vor über tausend Jahren, bevor Russland den christlich-orthodoxen Glauben von Byzanz übernahm, 987, taucht es aus dem Dunkel der Geschichte auf. Es heißt, höhere Wesen begrüßen dort die, die es suchen, ein Land, in dem die Menschen in Frieden und Harmonie leben. Belowodje. Belowodje im Altai-Gebirge, in Sibirien, im Grenzgebiet zur Mongolei, zu Kasachstan und China. Die Reise an diesen Ort utopischer Sehnsüchte beginnt am Berliner Hauptbahnhof. Fünf Tag und Nächte mit der Transsibirischen Eisenbahn. Polen, Weißrussland, Moskau, der Ural, hinter den Zugfenstern Birkenwälder, mal in Abendlicht getaucht, mal in Regenschauern. Bei Nacht stülpt sich der Sternenhimmel über die Landschaft, sie ist nur schemenhaft zu erkennen. Am Morgen sind die Wälder wieder da und verändern sich nur mit der Tageszeit und dem Licht, das auf sie fällt. Als Kinder haben wir gelernt: um ins Schlaraffenland zu kommen, muss man sich durch einen Berg aus Kartoffelbrei fressen. Um nach Belowodje zu kommen, muss man die endlosen Wälder Sibiriens durchqueren, bis zu seiner geografischen Mitte.
Omsk. Novosibirsk. Umsteigen. Es geht nach Süden, Barnaul, die Hauptstadt der Region Altai. Die Landschaft verändert sich. Weiß blühende Buchweizenfelder tauchen auf. Nach über 5.000 Kilometern im Zug: die Berge des Altai.
Am Bahnhof von Barnaul wartet Swetlana auf mich, meine Übersetzerin. Swetlana, ihr Mann Arkadie und ich steigen ins Auto zur Fahrt an den Ort der Verheißung: Belowodje.
Swetlana, das heißt übersetzt das Licht, ihr Mann Arkadie - das ist Arkadien, ihr Hund heißt Dream, Traum. Swetlana hat Interviewpartner gefunden, da, wo wir Belowodje vermuten. Wo Nachkommen von Menschen wohnen, die vor 300 Jahren loszogen, den mystischen Ort zu finden.
"Mit Gottes Hilfe leben wir bis zu Ihrem Aufenthalt und mit großer Freude treffen wir uns."
Sagt man uns immer wieder, wenn wir um einen Termin bitten. Wir folgen dem Tschuiski Trakt, einem Seitenarm der Seidenstraße, auf dem früher Tee von China nach Russland befördert wurde. Auf russischem Boden windet er sich in die Berge des Altai und lässt sie in der Mongolei wieder hinter sich. Eine der schönsten Straßen der Welt. Steil erheben sich die Berge rechts und links des Tracks, er folgt der silbernen Spur des Flusses Kattun. Ab und zu steht ein Dromedar am Wegesrand. Brennstoffe und billige Plastikprodukte haben den Tee als Transportware abgelöst, heute werden hier Truckerlegenden gestrickt. In den Tankstellen Männerparfums, mit Namen wie: Legende, Dämon, Monster. Der Held allein in der Landschaft. Von so einem Trucker, der im Altai das Glück findet, erzählte 1964 der russische Filmemacher Shukshin in seinem Film "Von einem der auszog die Liebe zu finden". Die Sehnsucht nach der Landschaft des Altais, die innere Prozesse auszulösen vermag, ist darin meisterhaft umgesetzt.
Von Kosmonauten und Raketen
Am Trakt liegt das Dorf Srostki, in dem Shukshin aufwuchs. Hier vereinigen sich der große sibirische Strom Ob und die Bija. Aber es floss noch mehr zusammen: Shukshin wuchs in einer Kolchose auf, jeder Bewohner seines Dorfes kam aus einer anderen Ecke der Sowjetunion. Zusammengewürfelt, jeder mit einer eigenen Biografie, starteten sie in ein neues Leben. Abschaffung jahrhundertealter Hierarchien. Obwohl das stalinistische Regime mit seinen Repressalien die sowjetischen Menschen schon fest im Griff hatte, beschreibt Shukshin eine harmonische Gemeinschaft und in seinen Büchern und Filmen leben sie weiter, die Protagonisten aus dem Dorf im Altai, mit ihrer großen Menschlichkeit.
Kurz bevor die Berge den Trakt verschlucken, machen wir halt in Polkownikowo. Einem Dorf, so idyllisch wie jedes sibirische Dorf. Das warme Sommerlicht verleiht den Häusern am See den Glanz von Ikonen. Hier wuchs der Kosmonaut German Stepanowitsch Titow auf und ein Museum erinnert an den jüngsten Kosmonauten der Geschichte Russlands.
Als die Sowjetunion den Einfluss der Kirche zurückdrängte, musste sie den Menschen einen neuen Traum schenken, eine neue Vision eröffnen: Im Kosmos, weit draußen im All, so die Botschaft, da liegt ein Ort, in dem sich die Menschheit in Frieden und Harmonie entfalten könne. Da draußen im All: ein galaktisches Belowodje. Nicht ohne Grund heißt die Raumstation MIR: MIR bedeutet Welt und Friede zugleich. Der Kosmonaut Titow, geboren am Fuße des Altai, war einer der Pioniere, der losgeschickt wurde, einen Weg zu diesem Ort zu eröffnen. Mein Fahrer Arkadie erinnert sich während der Autofahrt an einen Kollegen, der Titow persönlich kennengelernt und die reale Weltraumgeschichte erfahren hat.
"Er wiederholte immer wieder: Es ist ziemlich schwer da draußen im Kosmos, und vor allem hatte er Probleme mit der Toilette. Das ganze Essen wurde in Tuben angeboten und der Geschmack war alles andere als lecker. Egal was, er erzählte wohl immer über die Toilette."
Der Weltraum war nicht der utopische Ort, der Mensch war dort mehr noch als auf Erden den Unbilden seiner Körperlichkeit ausgesetzt. In vielen Dörfern des Altai ist die Weltraumvision trotzdem gegenwärtig: in Form der Statue eines Kosmonauten, der die Hände ergeben nach oben, dem Weltall entgegen reckt. Es ist ein schroffer, fast perfider Gegensatz, dass unmittelbar hinter den Bergen des Altai, in Kasachstan, der sowjetische Weltraumhafen Baikonur liegt. Hinter den Bergen des Altai sahen die Bewohner über Jahrzehnte immer wieder Raketen starten. Tanya, eine Rentnerin erinnert, sich:
"Früher als Kinder haben wir immer gerne die Sputniks am Himmel verfolgt, heute sieht man das nicht mehr so, entweder haben sie den Kurs gewechselt, oder es ist was anderes, aber früher konnte man sehen, wie sie wie kleine Sterne Kreise zogen, das war eine Lieblingsbeschäftigung."
Und wenn die Raketen-Stufen abfielen, landeten sie manchmal im Altai, die Leute zogen los und sammelten das Metall ein. Als Juri Gagarin, der erste Mensch im All, den Blick hinaus auf die Erde und dahinter auf den Kosmos richtete, soll er gesagt haben: "Das ist außergewöhnlich. Es sieht aus wie die Bilder von Roerich."
Nicholas Roerich. Er trug die Legende von Belowodje in die Neuzeit. 1926 begab sich der russische Maler, Abenteurer und Esoteriker mit Verbindungen zu Roosevelt, Albert Einstein und H.G. Wells auf eine fünfjährige Expeditionsreise nach Zentralasien, Tibet und Indien. Er behauptete, Belowodje ganz nahe gewesen zu sein: in Verch-Uimon, einem Dorf im Altai, wo er für zwei Wochen lebte und viele der Bilder schuf, an die sich Gagarin im Weltall erinnerte. Der Altai, sagte Roericht,
"sei ein wundersamer, einzigartiger Ort, an dem durch schicksalshafte Fügung die Wege vieler Wanderer zusammenflossen".
Sehnsucht nach Belowodje
Wenn Altaier gefragt werden, woher sie stammen, geben sie immer den Fluss an, an dem sie geboren wurden, und ob im oberen, mittleren oder unteren Teil. Auch das Dorf Verch-Uimon liegt an einem Fluss, dem Kattun. Die Geschichte der Siedlung ist seit über 300 Jahren mit der Sehnsucht nach Belowodje und den Suchenden verknüpft. Es ist das erste Siedlungsdorf der Alt-Orthodoxen, die aufbrachen, Belowodje zu finden und hier ein neues Zuhause fanden.
Verch-Uimon ist nur über einen Pass zu erreichen, es gibt keine Abkürzung. Zwei Tage Autofahrt über Schotterpisten, durch summende Bergwiesen, über klare Gebirgsbäche. Das Dorf liegt in einem Tal, gefühlt: am Ende der Welt. Ein seltsames Mikroklima herrscht hier, jeden Tag erscheint am Himmel ein Regenbogen. Wenn es ein Belowodje gibt, dann muss es hier ganz in der Nähe sein.
"Als im 17. Jahrhundert die russische Orthodoxe Kirche vom Patriarchen Nikon reformiert wurde, sträubten sich die sogenannten Alt-Orthodoxen dagegen. Sie sahen in den liturgischen Veränderungen die Machenschaften des Antichristen. Weil sie sich nicht anpassten, wurden sie verfolgt und wanderten aus an die Ränder des Großrussischen Reiches. Einige erinnerten sich an die Legende von Belowodje und drangen noch tiefer ein, besiedelten die verborgenen Täler des Altais. Und einige schrieben zurück: wir haben es gefunden!"
Die Altorthodoxen leben hier noch heute, streng, zurückgezogen, einfach. Frau Kutschuganowa die Leiterin eines Hauses, das als Museum ihrer Lebenskultur dient, ist eine rüstige Rentnerin mit strahlenden Augen. Sie erzählt von den Strapazen, wie der erste Alt-Orthodoxe Bachikar vor 300 Jahren den Weg ins Tal fand. Er kannte nur Legenden, die ihm den Weg wiesen.
"Als sich der Bachikar auf den Weg machte, hat man ihm streng gesagt, dass er vom Wolga-Gebiet immer Richtung Süden gehen sollte. Weil er Angst hatte, sich zu verlaufen, hat er immer Ästchen abgebrochen. Um den richtigen Weg zu halten, aber trotzdem ist er ein bisschen vom Weg abgekommen. Man hatte ihm erklärt, Belovodje, das Tal befindet sich zwischen dem Berg Belucha und dem Fluss Kattun in einem weiten, geräumigen Ort. Und dann sah er den wunderschönen Fluss und da entlang viele Bäume, Faulbäume, Birken, die ihn sehr beeindruckten. Es roch stark nach Kräutern. Wermut. Und als er dieses Tal erreichte, lernte er Altaier kennen und das Tal Uimon. Sie haben sich angefreundet."
Kraftorte im Altai
Frau Kutschuganowa ist nicht nur Museumsführerin: Sie predigt gleich noch über alte Werte, Respekt und Familienzusammenhalt. Drei der Besucher sind so ergriffen, dass sie zu weinen beginnen. Sie sehnen sich nach einem Ort, an dem das Leben so ist, wie sie es beschreibt: einfach und wahr. Unter ihnen ist Jan Jansen, dessen Familie vor 300 Jahren auswanderte, von Ostfriesland nach Russland. Während die einen Zeitgenossen auf Schiffen nach Amerika übersiedelten, zog es andere mit Pferdegespannen nach Osten. Die Zarin Katharina die Große lud sie ein, sich ein neues Leben aufzubauen, irgendwo in der Weite Sibiriens. Die Siedler landeten wie die Sputniks im großen Niemandsland. Von Belowodje wussten sie nichts und als das wiedervereinigte Deutschland den Russlanddeutschen die Heimkehr anbot, nahmen die meisten dankend an. Der Reichtum des Westens klang hier wie eine paradiesische Verheißung. Jan Jansens Familie aber blieb in Russland.
"Wir sprechen Plattdeutsch, aber wenn wir Plattdeutsch sprechen, verstehen die Deutschen uns nicht. Kon i reden plattdeutsch. Komme aus der Gegend von Tomsk. Das habe ich von meiner Oma. Ich war schon fünf Mal im Altai, bei Tschemal, nie so weit wie hier. Meine Freunde erzählten mir von hier, da dachte ich, ich muss das selbst sehen. Bleibe noch drei Tage, wir sind in Tschemal, beim roten See, Bashman vier Tage."
Mit Hilfe der Übersetzerin finde ich heraus, dass er in den Ferien nun bereits zum vierten Mal in den Altai fährt, weil es hier so anders ist.
"Ich liebe die Natur und Orte, die mit Roericht zu tun haben. Wir wollen einfach die Natur genießen, es gibt auch eine Verbindung mit dem Weltraum, Energie, Kraftorte aufsuchen."
Kraftorte. Auch das so eine Idee von Roerich. Der Mann schrieb unzählige Werke darüber und seine Anhänger, die sogenannten Roerichianer, suchen heute wieder Orte im Altai auf, die er als Kraftorte auflistete. Schon in Zeiten der Sowjetunion pilgerten Eingeweihte hierher. Kolja war Leutnant bei der Sowjetarmee und organisiert heute Wanderungen zu solchen Orten, die tief im Altai-Gebirge versteckt liegen.
"Wir lösen uns in der Stille, in der Natur, auf."
Es gibt schwangere Frauen, die sich von Pferden zu solchen Orten tief in den Bergen bringen lassen, getrieben vom Wunsch, ihr Kind allein im idealen Energiefeld zur Welt zu bringen. Andere sitzen auf Klippen vor dem Abgrund und warten, dass sich die Chakren öffnen. Pavel war 25 Jahre lang bei der Bergwacht am Berg Belucha, am Ende des Tals von Verch-Uimon.
"Ich empfinde es immer als inadäquat, diese Leute sind ziemlich durchgeknallt, stellen sich auf den Felsen und beten, was super gefährlich ist. Normale Menschen kann man einschätzen, aber nicht diese."
Eine echte GAZ-Maschine fährt mich hoch in die Berge zu einem Gletschersee, ich darf vorne beim Fahrer Platz nehmen, russische Touristen sitzen auf der ungepolsterten Ladefläche mit Kissen um den Hintern gebunden und singen vor Glück. Hier gibt es keine Straßen mehr, der Truck bahnt sich seine eigene Piste. Bleibt er im Morast stecken, hat er vorne eine Winde. Der Haken am Ende eines Stahlseils wird dann einfach um einen Baum geschlungen und der Truck zieht sich selbst heraus. Dreimal passiert das auf der Fahrt. Plötzlich steht da mitten in der Idylle ein mit Blut verschmierter Mann, er wird von einer zierlichen Frau gestützt.
Er hat offene Wunden am Bauch, fällt immer wieder hin. Sie versucht uns anzuhalten, zu trampen. Woher kommen sie? Der Fahrer will nicht stoppen, ich interveniere. Nur weil ich darauf bestehe, bleibt er stehen und die beiden werden hinten aufgeladen. Sie sind stockhagelvoll. Haben psychodelische Pilze gegessen und Alkohol getrunken. Am Fuße des Berges steigen sie wieder aus, wanken zu einer Tourbasa, einer Touristenunterkunft, und wirken plötzlich wieder fit. Ich komme ins Gespräch mit anderen Touristen von der Ladefläche, eine Petersburger Studentin und ihr Freund. Auch diese beiden sind nicht ganz nüchtern. Sie haben oben in den Bergen Haschisch geraucht, es wächst überall wild. Was hat sie hierher gelockt? Die reine Natur und die Freundlichkeit der Menschen.
"First of all, it is pure nature. And kind people. Also, my ancestors were living here.
He was dreaming about this place because of pure nature and kind people and his ancestors were living here. (Kuh muht) So he wants to be here. And also the rivers are like a beginning of Siberia, of our people."
Aufbruch in das verheißene Land
Über die Jahrhunderte brachen so viele Menschen auf, dieses verheißene Land zu finden, das Belowodje heißt, mal auch Shambala. Im 12. Jahrhundert grassierte bei den Kreuzrittern die Legende vom Priesterkönig Johannes, der angeblich über ein edles und vor allem christliches Königreich weit im Osten regierte, in dem Edelsteine in den Flüssen lagen, und wo Milch und Honig flossen. Päpstliche Kundschafter versuchten Kontakt zu ihm aufzunehmen, um von ihm Unterstützung im Kampf gegen die Muslime zu erbitten. Auch Ottfried Preusslers Legende vom starken Wanja handelt von einem Helden, auf den seine Bestimmung wartet, in einem Land weit im Osten, jenseits des Flusses Ob. Tatiana, eine Bewohnerin der selbsterbauten Kommune Lovgorod, Liebesstadt, schwärmt vom Eins-Sein mit der Natur.
"Ich war allein beim Mähen, alle andere waren schon vorgegangen, ich blieb allein zurück und es war schon in der Dämmerung, die Bäume in der Taiga sind hoch, es wird schnell dunkel, da spielten die Bärenkinder in der Abendstimmung, die haben gegrunzt wie kleine Ferkelchen. Ich lehnte mich auf die Sense und beobachtete das. Dann kam die Bärin dazu und verstand, dass keine Gefahr droht, sie hat den Kindern etwas zugegrunzt, dann zogen sie weiter. Ich sehe oft Wildschweine, Maralhirsche, Schlangen, dann hebe ich die Beine hoch und warte, bis die Schlange wegkriecht. Das ist total natürlich, hier leben alle zusammen, Tiere und Menschen. In totaler Harmonie."
Am Kattun-Fluss sind Petroglyphen in Steine gemeißelt. Sie sind bis zu 10.000 Jahre alt, Pferde, Krieger, seltsame Wesen bevölkern die Felsen. Und auch Runen, wahrscheinlich von den Skythen, die im 7.-8. Jahrhundert hier auftauchten. Als ich die Übersetzung lese, bekomme ich Gänsehaut: "Ein Verlorener, einer der den wahren Weg sucht, hat dies geschrieben." Damals also schon, vor Jahrtausenden, suchten Menschen hier nach einem Ort der Erfüllung.
Den wahren Weg suchen. Das scheint sich durch die Geschichte des Altai zu ziehen wie ein roter Faden. Heute sind es Menschen aus den Großstädten, junge Petersburger oder Moskauer, die in den Altai ziehen, auf der Suche nach diesem Sehnsuchtsversprechen. Sie sind ausgerüstet mit einer vagen Vorstellung, wie der wahre Weg aussehen könnte, haben im Gepäck viel Energie, es herauszufinden. In einem kleinen Seitental treffe ich mich mit Alexander Ivanov, einem ehemaligen Arzt, der hier eine Kommune gründete. Ein Eco-Dorf voller netter Hippies. Sie leben in runden, selbstgebauten Hütten, reden viel und arbeiten wenig. Er pflegt Kontakt-Improvisation, einen Tanzstil, bei dem ausgelotet wird, wie weit man sich auf den Partner verlassen kann, ohne sich zu verletzen. Ein gutes Sinnbild für die Kommune, in einer Wildnis, in der die Winter bitterkalt sind und die Sommer kurz. Wer es hier schafft zu überleben, kommt dem Menschsein sehr nahe.
"Diese Art von Gemeinschaft überwindet solche vorgesetzten Grenzen. Landesgrenzen, politische Systeme. Es bringt gar nichts, gegen Politik zu protestieren, man muss das wählen, was wichtig ist und damit leben. Die Bedürfnisse des Menschen, was wichtig ist, ist überall gleich. Eigentlich wollen die Menschen nur sauberes Wasser trinken, sich ernähren, Kinder groß ziehen, Freundschaften pflegen. Das verbindet alle Kulturen. Eigentlich weiß es auch so jeder, aber wenn man in den Bergen hockt, ist es eben klarer."
Ich treffe viele Aussteiger, die es ernst meinen, im Altai. Er scheint ein Auffangbecken für Suchende zu sein. Da ist Valera, der im mecklenburgischen Neustrelitz aufgewachsen ist, als Sohn eines russischen Soldaten.
"Erick Honecker – Honig."
Valera baut heute Instrumente aus Pflanzen.
"Ich habe in Irkutsk gelernt, habe dann Jazz in einer Band gespielt, meine Gruppe bestand aus drei Personen. Einer aus Tuwa, einer aus Jakutien und ich. Als ich zum ersten Mal Kehlkopfgesang hörte, wollte ich den Ort finden, wo dieser Gesang ausgeübt wurde. Als ich diese Gegend sah, gefiel sie mir. Ich musste wieder fort, doch die Gegend blieb mir immer in Erinnerung. Und so entschloss ich mich, zurück zu kommen. Und habe begonnen, Bienen zu züchten."
Eco-Tourismus in den Bergen
So viele, denen ich hier begegne, haben eines gemeinsam: Sie wirken glücklich. Und ein jeder trägt seine eigene Idee von Belowodje im Herzen. Aber es sind mittlerweile nicht nur die Freigeister und Aussteiger, die der Altai anzieht. Unter Putins Regierung wird der Altai langsam zu einem Eco-Tourismus-Ziel ausgebaut.
Der Mythos, die Verheißung, hier den paradiesischen Ort zu finden, ist es, der sie alle anlockt: die Städter aus Moskau und St. Petersburg, sie treiben die Immobilienpreise in die Höhe. In Ortschaften, in denen einst nur Alt-Orthodoxe oder Ur-Altaier wohnten, sprießen jetzt Häuser im amerikanischen Wild-West-Stil aus dem Boden. Die Kinder der Ur-Altaier können es sich nicht mehr leisten, hier zu wohnen.
Anton bietet reichen Petersburgern und Moskauer Bürgern Abenteuerferien im Altai an. Stolz erzählt er, aus welchen Ministerien seine Kundschaft kommt. Es ist in Russland modern geworden, das Wilde zu erleben, Putin macht es vor, den Unterschied zu den degenerierten Europäern, die in einer echten Wildnis verenden würden. Anton geht mit seiner Kundschaft jagen, bereitet ihnen dann am Lagerfeuer Wodka und Eintopf zu, fährt mit dem Geländewagen mitten hinein in die Landschaft, mit dem Vierradantrieb die Bergwände hoch und schimpft laut über die Altaier Urbevölkerung, die das alles nicht will: denn die Orte seien heilig und sollen nur mit Achtsamkeit betreten werden. Für Anton sind sie Säufer, Lügner, Nichtsnutze. So lange sie der Wirtschaft Russlands nichts beisteuern, haben sie auch nichts zu vermelden. Wohl erzeugt er seinen eigenen Strom, baut Bio-Gemüse an, aber er sucht nicht den magischen Ort, sondern überwältigt ihn und seine Bewohner mit seinem Lebensstil. Antons Altai ist Lifestyle für erlebnishungrige Städter.
"Die Menschen in den großen Städten haben mittlerweile vergessen, wie es ist, in der Natur zu sein, wenn die Erwachsenen noch halbwegs Bewusstsein haben, so kennen es unsere Kinder gar nicht mehr. Und darum gibt es da auch ein großes Bedürfnis, so Urlaub zu machen und so die Natur zu spüren."
Die Ur-Altaier glauben, dass der Altai entstand, weil die Geister sich betranken und dann tanzten. Aus lauter Urlust. Herr Wiktor Katynow ist einer dieser Ur-Altaier, über die Anton lästert. Sein Leben ist anders, ja. Es ist vor allem langsamer und intuitiv. Vor langer Zeit, bei einem Gang in die Berge, sagte eine Stimme zu ihm: werde Kehlkopfsänger. Und so lernte er die Lieder, von denen manche zwei Tage lang dauern, um erzählt zu werden. Sie berichten von einem Kosmos, einer Verbundenheit mit der Natur, wie sie uns im Westen fremd geworden ist.
Am Ende meiner Reise begegne ich Wladimir. Alle seine Zähne sind vergoldet. Er hat ein Haus mit einem Garten am Rande des Altais und pflückt jeden Morgen Beeren und wilde Kräuter in seinem Garten. Es ist ein stilles Glück um ihn und seine Familie. Er hat sein Belowodje gefunden.
"Ich habe mich nie eingehend damit beschäftigt, aber es sieht es so, dass es gar nicht ein geographischer Ort ist, sondern ein Geisteszustand, ein Seelenzustand, nicht so, dass man irgendwohin kommt und da fängt Weißwassergebiet an und Blauwassergebiet, sondern wenn der Mensch nahe am Göttlichen ist, wenn er reine Gedanken hat, wenn er frei ist von der Last der Alltagsprobleme und der negativen Gedanken, die er sonst mit sich trägt, das ist dann Belowodje, weißes Wasser. Die Menschen früher hatten keine so abstrakten Begriffe wie wir für diesen Geisteszustand, das waren dann nur die weißen Wasser."
Belowodje, die Suche nach dem utopischen Ort, ist eine Art Pilgerreise. Man lässt alles hinter sich und taucht ein in eine Welt, in der die Natur auf gewaltige Weise kommuniziert. Orte, an denen dies möglich ist, werden immer weniger auf der Welt.