Alte Geschichte in neuem Glanz
Kürzlich wurde das Stück "Orpheus" von John Neumeier in der Hamburger Staatsoper uraufgeführt. Darin lehnt sich der Star-Choreograf zwar an einen alten Mythos an, interpretiert das Stück aber ganz neu - und heutig.
Seit 1973 ist John Neumeier Ballettdirektor und Chefchoreograf des "Hamburg Ballett", das inzwischen offiziell "Hamburg Ballett - John Neumeier" heißt. Seit 1996 hat er zusätzlich den Status eines Ballettintendanten - er ist nach dem Tod Pina Bauschs also einer, wenn nicht so gar der dienstälteste Leiter einer Compagnie in Deutschland. Neumeier leitet auch noch eine Ballett-Schule, die seinen Namen trägt, es gibt eine Stiftung John Neumeier, er ist Ehrenbürger Hamburgs - in der Norddeutschen Tanzwelt ist er gewiss die einflussreichste Persönlichkeit. Neumeier ist aktiv und produktiv wie eh und je, am Sonntagabend wurde seine neueste Creation in der Hamburger Staatsoper uraufgeführt: "Orpheus".
Neumeier hat mit "Orpheus" ein neues, eigenständiges Ballett geschaffen. Er lehnt sich zwar an den "Orpheus"-Mythos an, auch an die Choreografie George Balanchines, aber er interpretiert das Sujet ganz neu - und heutig. Das ist am Bühnenbild, an den Kostümen abzulesen, vor allem aber an Orpheus' Instrument. Der Sänger aus sagenhafter Vorzeit wird traditionell mit einer Leier abgebildet - John Neumeier aber gibt seinem Orpheus eine Geige.
Während Balanchine Igor Strawinsky gebeten hatte, die Partitur für "Orpheus" zu schreiben, erweitert Neumeier seine Musikauswahl: Er hat neben Strawinskys Ballettmusik auch Teile der "Rosenkranzsonaten" des Barockkomponisten Heinrich Ignaz Franz Biber verwendet und lässt Stücke von Peter Blegvads und Andy Partridges poppiges Melodram von "Orpheus the Lowdown" per Lautsprecher einspielen.
Orpheus, der Geiger, ist ein Künstler von heute. Neumeier konzentriert sich auf die Wirkung, die Eurydikes Tod auf Orpheus hat. Er trauert nicht nur, er reift durch die Trauer. Der Verlust Eurydikes erweitert Orpheus Ausdrucksmöglichkeiten. Das Ballett endet mit einer Pointe: Das Publikum würdigt Orpheus neue, durch die im Jenseits gewonnenen Erfahrungen sublimierte Kunst nicht - Orpheus sucht den Tod. Offen bleibt, ob er wegen des ausbleibenden Erfolgs verzweifelt oder ob er untröstlich ist über den endgültigen Verlust Eurydikes.
An sich heißt die Geschichte über diese alle Vorstellungen überschreitenden Liebe ja nach dem Liebespaar: Orpheus und Eurydike. Gluck hat seine Oper noch so genannt - es ist kein Zufall, dass Neumeier seine neue Kreation nur nach Orpheus nennt.
Das findet auch in der Choreografie seinen Ausdruck. Gewiss, es gibt noch einen Pas de deux von Orpheus und Eurydike - aber die Auftritte von Orpheus überwiegen die der verstorbenen Geliebten. Otto Bubeníček verkörpert Orpheus. Er tanzt ihn technisch makellos, seine Fähigkeiten streifen immer wieder das Artistische. Einmal geht Bubeníček tatsächlich in den Handstand und winkelt kurz die Unterschenkel an, als winke er dem Publikum kopfüber zu - eine Ausnahme. Bubeníček charakterisiert vor allem den Egoisten, der sich mehr um seine Geige sorgt, als um die Liebe, liegt also ganz auf der Linie seines Choreografen.
Strawinskys "Orpheus" dominiert den Abend musikalisch, Simon Hewett am Pult der Philharmoniker Hamburg koordiniert souverän Bühne und Graben. Musik und Tanz verschmelzen miteinander. Die Handlung fügt sich ebenso selbstverständlich ein wie Ferdinand Wögerbauers Bühnenbild, das mit einem riesigen Tor Diesseits und Jenseits andeutet. Neumeier hat selbst die Kostüme entworfen, neoklassisch und elegant, seinem Tanzstil angepasst - und Neumeiers Lichtregie bringt mit genau berechneten Stimmungen uns Zuschauern nahe, ob wir uns auf der Erde bewegen oder ins Totenreich hinabsteigen.
Der überwältigende Eindruck, der wie immer bei Neumeier zu begeistertem Beifall und Ovationen führte, kommt vor allem durch das Zusammenwirken aller Schwesterkünste zustande. Dieses Zusammenwirken ist perfekt. Makellos! Das ist John Neumeiers Stärke.
Aber diese Stärke ist zugleich seine Schwäche: Neumeier schafft eine vollendete Kunstwelt, in die er einverständige Zuschauer entrückt. Wichtige Segmente der bedrängenden Realität bleiben außen vor. Das Sujet: der Künstler und sein Reifeprozess, wirkt wie Nabelschau. Es gibt wichtigeres in Zeiten der Krise.
Service:
Aufführungen am 8., 9. und 10. Dezember 2009 sowie am 7., 15., 16. und 21. Januar 2010. Karten unter Tel.: 040 35 68 68 oder im Internet.
Neumeier hat mit "Orpheus" ein neues, eigenständiges Ballett geschaffen. Er lehnt sich zwar an den "Orpheus"-Mythos an, auch an die Choreografie George Balanchines, aber er interpretiert das Sujet ganz neu - und heutig. Das ist am Bühnenbild, an den Kostümen abzulesen, vor allem aber an Orpheus' Instrument. Der Sänger aus sagenhafter Vorzeit wird traditionell mit einer Leier abgebildet - John Neumeier aber gibt seinem Orpheus eine Geige.
Während Balanchine Igor Strawinsky gebeten hatte, die Partitur für "Orpheus" zu schreiben, erweitert Neumeier seine Musikauswahl: Er hat neben Strawinskys Ballettmusik auch Teile der "Rosenkranzsonaten" des Barockkomponisten Heinrich Ignaz Franz Biber verwendet und lässt Stücke von Peter Blegvads und Andy Partridges poppiges Melodram von "Orpheus the Lowdown" per Lautsprecher einspielen.
Orpheus, der Geiger, ist ein Künstler von heute. Neumeier konzentriert sich auf die Wirkung, die Eurydikes Tod auf Orpheus hat. Er trauert nicht nur, er reift durch die Trauer. Der Verlust Eurydikes erweitert Orpheus Ausdrucksmöglichkeiten. Das Ballett endet mit einer Pointe: Das Publikum würdigt Orpheus neue, durch die im Jenseits gewonnenen Erfahrungen sublimierte Kunst nicht - Orpheus sucht den Tod. Offen bleibt, ob er wegen des ausbleibenden Erfolgs verzweifelt oder ob er untröstlich ist über den endgültigen Verlust Eurydikes.
An sich heißt die Geschichte über diese alle Vorstellungen überschreitenden Liebe ja nach dem Liebespaar: Orpheus und Eurydike. Gluck hat seine Oper noch so genannt - es ist kein Zufall, dass Neumeier seine neue Kreation nur nach Orpheus nennt.
Das findet auch in der Choreografie seinen Ausdruck. Gewiss, es gibt noch einen Pas de deux von Orpheus und Eurydike - aber die Auftritte von Orpheus überwiegen die der verstorbenen Geliebten. Otto Bubeníček verkörpert Orpheus. Er tanzt ihn technisch makellos, seine Fähigkeiten streifen immer wieder das Artistische. Einmal geht Bubeníček tatsächlich in den Handstand und winkelt kurz die Unterschenkel an, als winke er dem Publikum kopfüber zu - eine Ausnahme. Bubeníček charakterisiert vor allem den Egoisten, der sich mehr um seine Geige sorgt, als um die Liebe, liegt also ganz auf der Linie seines Choreografen.
Strawinskys "Orpheus" dominiert den Abend musikalisch, Simon Hewett am Pult der Philharmoniker Hamburg koordiniert souverän Bühne und Graben. Musik und Tanz verschmelzen miteinander. Die Handlung fügt sich ebenso selbstverständlich ein wie Ferdinand Wögerbauers Bühnenbild, das mit einem riesigen Tor Diesseits und Jenseits andeutet. Neumeier hat selbst die Kostüme entworfen, neoklassisch und elegant, seinem Tanzstil angepasst - und Neumeiers Lichtregie bringt mit genau berechneten Stimmungen uns Zuschauern nahe, ob wir uns auf der Erde bewegen oder ins Totenreich hinabsteigen.
Der überwältigende Eindruck, der wie immer bei Neumeier zu begeistertem Beifall und Ovationen führte, kommt vor allem durch das Zusammenwirken aller Schwesterkünste zustande. Dieses Zusammenwirken ist perfekt. Makellos! Das ist John Neumeiers Stärke.
Aber diese Stärke ist zugleich seine Schwäche: Neumeier schafft eine vollendete Kunstwelt, in die er einverständige Zuschauer entrückt. Wichtige Segmente der bedrängenden Realität bleiben außen vor. Das Sujet: der Künstler und sein Reifeprozess, wirkt wie Nabelschau. Es gibt wichtigeres in Zeiten der Krise.
Service:
Aufführungen am 8., 9. und 10. Dezember 2009 sowie am 7., 15., 16. und 21. Januar 2010. Karten unter Tel.: 040 35 68 68 oder im Internet.