Alte Liebe und erste Zigarette
"Das Geschäftsjahr 1968/69" ist der Debütroman des Autors Bernd Cailloux. Die Kritiker waren begeistert, der Roman wurde 2005 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Jetzt gibt es einen neuen Roman von Cailloux, der im Titel an die Sprache der Bilanzen anknüpft: "Gutgeschriebene Verluste".
"Gutgeschriebene Verluste" ist eine Lebensbilanz. Alte Lieben, erste Zigaretten, die Drogen der Frühe, das Geburtsjahr 1945, das Geschäftsjahr 1968 und das New-Wave-Jahr 1979 - vieles passiert hier Revue, wird beschrieben und durchreflektiert. Aber erst einmal gilt es, die aktuelle Lage im Stammcafé zu klären: eine wunderbare Porträtgalerie der Dauergäste im Café Fler, diesem Schöneberger Reservat der "Übriggebliebenen", die noch im höheren Alter das ambulante Wohnzimmer in Form einer Kneipe dem familiären Heim vorziehen.
Die Rahmenhandlung besteht in einer Altersliebesgeschichte, die dann doch zur Beziehungskomödie der ständigen Verstimmungen gerät. Nach fünfzig Seiten tritt Ella ins Café: zwanzig Jahre jünger, eine Lady im Abendkleid. Aber nach kurzfristigen Schüben des Glücks zeigen sich unüberwindliche Probleme beim Adaptionsprozess des Verliebens. Sind im höheren Alter doch allerhand Marotten als "Zierleisten der Persönlichkeit" längst ausgebildet und lassen sich nicht einfach abschlagen. Der "sich selbst zum Geistesmenschen erhebende Geringverdiener" ist wegen diverser biografischer Vorbelastungen nicht mehr zum gemeinsamen Nestbau zu überreden.
Er ist ein zaudernder Ironiker; sie eine Frau der starken, unüberlegten Gefühlsausbrüche. Ihre Bestätigungssucht und seine "mörderische Skepsis" ergeben ein veritables "Mismatch". Zudem laboriert die alleinerziehende Ella am verkappten Männerhass, seit sie bei der Geburt ihrer Tochter vom Erzeuger sitzen gelassen wurde. Und so liegt bei aller Komik auch viel Melancholie über dem späten Liebesversuch.
Bernd Cailloux ist kein Geschichtenerfinder, er schichtet stattdessen die eigene Lebensgeschichte um. "Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden" - nach diesem von Kierkegaard übernommenen Motto sucht er Verständnis, im doppelten Sinn. Denn im Rückspiegel tauchen viele Versäumnisse und Verfehlungen auf - der Legitimationsdruck ist beträchtlich.
1968 brachte, neben den bekannten Euphorien und Umbrüchen, eine einträgliche Geschäftsidee für Cailloux, der sich rückblickend gern zum Hippiebusinessman stilisiert. Mit Stroboskopen und Lichtanlagen stattete er Partyräume aus und verdiente mit seinen Lightshows und Discokugeln ausgerechnet zur Hochzeit des antikapitalistischen Protests so viel Geld wie später nie wieder.
Zweifellos neigt der Autor bisweilen zur Selbstverklärung, aber er hat auch viel Zerknirschung auszugleichen. Im selben Jahr 1968 fing er sich ein Virus fürs Leben ein: Hedonismus führte übers Heroin zur Hepatitis C, die dreißig Jahre später Mottenfraßnekrose der Leber verursacht. Diagnose: zwei Jahre Restlebenszeit. Nur eine riskante Inferon-Therapie bietet Rettung. Auch das Virus muss als Erklärung für biografische Ausfälle und Karriereunfähigkeit herhalten: unerklärliche Müdigkeit, chronische Minderung der Lebensenergie, verbummelte Existenz, hepatitische Bohème.
Das Buch hat keine chronologische Handlung, sondern bietet kreisende Reflexionsprozesse, die an immer neuen Stellen ansetzen: ein autobiografisches Mobile, das seine Teile kunstvoll zusammenschwingen lässt. Cailloux' Methode besteht darin, die existenziellen Verluste gutzuschreiben, indem er gut über sie schreibt, mit feiner Ironie und einem Humor, der über manche Abgründe der Peinlichkeit gekonnt hinwegführt. Ein Lektürevergnügen.
Besprochen von Wolfgang Schneider
Bernd Cailloux: Gutgeschriebene Verluste
Suhrkamp, Berlin 2012
271 Seiten, 21,95 Euro
Die Rahmenhandlung besteht in einer Altersliebesgeschichte, die dann doch zur Beziehungskomödie der ständigen Verstimmungen gerät. Nach fünfzig Seiten tritt Ella ins Café: zwanzig Jahre jünger, eine Lady im Abendkleid. Aber nach kurzfristigen Schüben des Glücks zeigen sich unüberwindliche Probleme beim Adaptionsprozess des Verliebens. Sind im höheren Alter doch allerhand Marotten als "Zierleisten der Persönlichkeit" längst ausgebildet und lassen sich nicht einfach abschlagen. Der "sich selbst zum Geistesmenschen erhebende Geringverdiener" ist wegen diverser biografischer Vorbelastungen nicht mehr zum gemeinsamen Nestbau zu überreden.
Er ist ein zaudernder Ironiker; sie eine Frau der starken, unüberlegten Gefühlsausbrüche. Ihre Bestätigungssucht und seine "mörderische Skepsis" ergeben ein veritables "Mismatch". Zudem laboriert die alleinerziehende Ella am verkappten Männerhass, seit sie bei der Geburt ihrer Tochter vom Erzeuger sitzen gelassen wurde. Und so liegt bei aller Komik auch viel Melancholie über dem späten Liebesversuch.
Bernd Cailloux ist kein Geschichtenerfinder, er schichtet stattdessen die eigene Lebensgeschichte um. "Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden" - nach diesem von Kierkegaard übernommenen Motto sucht er Verständnis, im doppelten Sinn. Denn im Rückspiegel tauchen viele Versäumnisse und Verfehlungen auf - der Legitimationsdruck ist beträchtlich.
1968 brachte, neben den bekannten Euphorien und Umbrüchen, eine einträgliche Geschäftsidee für Cailloux, der sich rückblickend gern zum Hippiebusinessman stilisiert. Mit Stroboskopen und Lichtanlagen stattete er Partyräume aus und verdiente mit seinen Lightshows und Discokugeln ausgerechnet zur Hochzeit des antikapitalistischen Protests so viel Geld wie später nie wieder.
Zweifellos neigt der Autor bisweilen zur Selbstverklärung, aber er hat auch viel Zerknirschung auszugleichen. Im selben Jahr 1968 fing er sich ein Virus fürs Leben ein: Hedonismus führte übers Heroin zur Hepatitis C, die dreißig Jahre später Mottenfraßnekrose der Leber verursacht. Diagnose: zwei Jahre Restlebenszeit. Nur eine riskante Inferon-Therapie bietet Rettung. Auch das Virus muss als Erklärung für biografische Ausfälle und Karriereunfähigkeit herhalten: unerklärliche Müdigkeit, chronische Minderung der Lebensenergie, verbummelte Existenz, hepatitische Bohème.
Das Buch hat keine chronologische Handlung, sondern bietet kreisende Reflexionsprozesse, die an immer neuen Stellen ansetzen: ein autobiografisches Mobile, das seine Teile kunstvoll zusammenschwingen lässt. Cailloux' Methode besteht darin, die existenziellen Verluste gutzuschreiben, indem er gut über sie schreibt, mit feiner Ironie und einem Humor, der über manche Abgründe der Peinlichkeit gekonnt hinwegführt. Ein Lektürevergnügen.
Besprochen von Wolfgang Schneider
Bernd Cailloux: Gutgeschriebene Verluste
Suhrkamp, Berlin 2012
271 Seiten, 21,95 Euro