Alte Risse und neue Tabus

Von Rebecca Hillauer |
Die Spielräume für kritische Künstler, unkonventionelle Frauen, säkulare Christen und Muslime werden in Ägypten wieder kleiner. Sie müssen erneut um ihre Rechte kämpfen.
Amal Ramsis sitzt in einem privaten Tonstudio in Kairos gutbürgerlichem Stadtteil Mohandessin.

Eine Klimaanlage kühlt lautstark die Luft im Raum, draußen ist es schwül und heiß. Amal Ramsis spricht mit ihrem Tontechniker, der von ihrem Film "Verboten" eine Kopie mit englischen Untertiteln fertigen soll.

Die Regisseurin trägt flache Sandalen, eine Hose mit afrikanisch anmutendem Muster und eine schwarze Bluse mit Puffärmeln. Die dicken Locken hat sie mit einem roten Band hoch gebunden.

"Verboten" ist ein Dokumentarfilm über linke Oppositionelle. Amal Ramsis hat ihn noch während der Zeit des Mubarak-Regimes gedreht.

"Ich habe damals keine Drehgenehmigung beantragt. Im Film tue ich dann so, als spräche ich mit dem Zensor. Ich sage: Ich habe keine Genehmigung – und habe trotzdem gefilmt. Aber ich bin nicht die einzige. Viele tun das. Und ich werde es wieder tun. Ich wollte die Zensoren provozieren, damit sie meinen Film nachträglich verbieten."

Doch dann kam die Revolution und alles wurde anders. Auch Amal Ramsis war während des Umbruchs auf dem Tahrir-Platz - und filmte. Ursprünglich hatte die Filmemacherin Jura studiert und anschließend in einem Anwaltsbüro gearbeitet. Erst mit 30 entschloss sie sich, zur Filmhochschule zu gehen. Studiert hat sie in Madrid. Dort soll auch ihre Dokumentation "Verboten" laufen.

In Kairo konnte Amal Ramsis den Film bis zur Revolution nur im privaten Kreis zeigen. Im Mai 2011, drei Monate nach dem Rücktritt Präsident Mubaraks, wollte sie den Film endlich in Kairo öffentlich vorführen. Deshalb wagte sie es, ihn nachträglich der Zensurbehörde vorzulegen.

"Ich dachte, vielleicht hat sich etwas verändert, also versuche ich es einfach mal. Zu der Zeit war die Revolution in aller Munde, sogar die Zensurbehörde wollte revolutionär sein. Deshalb haben sie meinen Film genehmigt. Eben in der Annahme, dass ich ja von der Vergangenheit, von der Situation vor der Revolution spreche – und wir nun in einer neuen Ära leben."

Das hoffte auch Amal Ramsis - und ist enttäuscht. Sie hat vor allem den Fall Bassem Youssef vor Augen, einem der größten Stars des ägyptischen Fernsehens. Der Komiker und ausgebildete Herzchirurg wurde im Frühjahr vorübergehend festgenommen, weil er sich über Präsident Mursi und islamistische Prediger lustig gemacht hat. Und er ist nicht der einzige Regierungskritiker, für den es in Ägypten immer enger wird.

Amal will sich dennoch nicht einschüchtern lassen. Sie ist inzwischen 42 und lebt mit ihrem türkischen Freund zusammen, der bei ihren Filmen die Kamera führt.

Von ihrer Wohnung im neunten Stock hat das Paar einen atemberaubenden Blick auf das Zentrum von Kairo. Dass die beiden ohne Trauschein zusammen leben, wissen allein ihre Freunde. Für die Nachbarn sind sie ein Ehepaar. Denn unverheiratet zusammenzuleben, gilt in Ägypten nach wie vor als Tabu. Auch die Tatsache, dass Amal Ramsis koptische Christin ist und nicht den Regeln des Islam folgen muss, ändert daran nichts.

Wenn es nach den derzeit herrschenden Moslembrüdern geht, wird es bei den alten Tabus auch bleiben. Erst vor kurzem verurteilten sie einen Vorstoß der Vereinten Nationen, der auf die Abschaffung der Vielehe und das Heiratsverbot zwischen Musliminnen und Nichtmuslimen zielte.

Das allerdings führe, meint Amal Ramsis, auch unter ehemals unpolitischen Ägyptern mehr und mehr zu zivilem Ungehorsam. Während des letzten Ramadans habe sie beobachtet, dass viele Muslime in Restaurants offen das Fastengebot brachen.

"Bei Demonstrationen sind inzwischen mehr als die Hälfte der Teilnehmer Frauen mit Kopftuch, manchmal sogar mit Schleier. Sie rufen Slogans gegen die Moslembrüder und fordern einen säkularen Staat. Sie sind voller Zorn, weil sie sich verraten fühlen. Ihnen wurde eingeredet, sie sollten die Moslembrüder wählen, weil der Islam die Lösung ihrer Probleme sei. Letztlich aber betreibt die Bruderschaft unter dem Deckmantel der Religion eine konservative Politik, die genauso kapitalistisch ist wie die unter Mubarak."

Während des Volksaufstands vor zwei Jahren kämpften Frauen in den Reihen der Demokratiebewegung, Christinnen wie Musliminnen. Seit dem Machtwechsel werden sie aber zunehmend von den Straßen verdrängt.

Auf dem Tahrir-Platz, dem Platz der Befreiung, wo Männer und Frauen gemeinsam in Zelten übernachteten, werden Frauen bei Demonstrationen bisweilen von einem Mob regelrecht gejagt: mehrere Dutzend Männer, bilden einen Kreis um die Frau, die Männer begrapschen die Frau, reißen ihr die Kleider vom Leib, verfolgen sie, wenn sie fliehen will – und vergewaltigen sie. Obwohl es Amateur-Videos solcher Jagdszenen gibt, ist bislang keine dieser Taten strafrechtlich geahndet worden.

Belästigungen und sexuelle Übergriffe auf Frauen gehören mehr und mehr zum Alltag. Nesrin Ezzayat, die als Muslimin ihre Haare offen trägt, kann solche Erfahrungen bestätigen.

"Ich muss mich fast täglich auf der Straße mit Männern herumschlagen, weil ich kein Kopftuch trage. Sie versuchen, unverschleierte Frauen zu kriminalisieren, und behandeln sie wie Prostituierte. Passanten, die das miterleben, geben immer der Frau die Schuld: Sie solle eben nicht so herum laufen. Wildfremde Menschen sprechen mich an, ich solle meinen Kopf bedecken. Andere warnen mich: Warte nur, Mursi wird dich holen!"

Nesrin Ezzayat fühlt sich dann jedes Mal in das Dorf ihrer Kindheit in Südägypten zurückversetzt, wo alle Frauen und Mädchen Kopftuch tragen mussten. Erst kürzlich schnitt in der oberägyptischen Provinz eine Lehrerin zwei 12-jährigen Schülerinnen im Unterricht die Haare ab. Die Mädchen hatten sich geweigert, Kopftücher zu tragen.
Sie selbst legte ihres ab, als sie vor zehn Jahren nach Kairo gezogen war. Jetzt ist sie Anfang 30 und Filmkritikerin einer renommierten Zeitung.

Statt wie andere Oppositionelle auf der Straße zu protestieren oder Graffitis an Häuserwände zu sprühen, bekämpft Nesrin das Regime Mursi und die Moslembrüder mit dem Wort - und indem sie offen gegen deren strenge Kleidungs- und Verhaltensvorschriften für Frauen verstößt.

Einen Katzensprung vom Tahrir-Platz entfernt, sitzt sie in einem Kaffeehaus, den Blicken von Passanten preisgegeben, ihr MacBook auf dem Tisch - und raucht Wasserpfeife.

"Ich gehe nicht mehr demonstrieren, weil ich das Gefühl habe, dass ich zurzeit mit meiner Arbeit als Filmkritikerin und Filmemacherin mehr ausrichten kann als mit dem Demonstrieren. Außerdem glaube ich, die Moslembrüder wollen uns in einen Kampf verstricken, der nicht der unsere ist. Was mir Angst macht ist, dass sie es schaffen, so vielen Menschen im Namen der Religion eine Gehirnwäsche zu verpassen."

Die Regisseurin Amal Ramsis geht dagegen nach wie vor zu Demonstrationen. Nicht zuletzt deshalb, weil sie einen Dokumentarfilm über Mary Danial [Danjéll] dreht, der Schwester eines koptischen Aktivisten, der bei einem Protestmarsch von Christen im Oktober 2011 erschossen wurde.

Jetzt überprüft Amal auf ihrem Laptop die Filmsequenzen, die ihr Freund am Vortag aufgenommen hat.

Zu sehen ist darauf eine zierliche Frau, die unerschrocken inmitten einer Menschenmenge eine Rede hält. Nach dem Tod ihres Bruders wurde sie zu einer der Leitfiguren der Demokratiebewegung.

Damals, am 9. Oktober 2011 kamen neben Mina Danial zahlreiche andere Kopten ums Leben. Dass anschließend koptische Kirchenvertreter gemeinsam mit dem Militär die Obduktion der Leichname verhindern wollten, um die Auseinandersetzungen nicht zu eskalieren, habe zur Kritik vieler Kopten an der Amtskirche geführt, erzählt Amal. Heute, meint sie, entfernten sich immer mehr junge Kopten von ihrer Kirchenleitung:

"Zwei Freundinnen von Mary Danial, sie sind 25 Jahre alt, machen heute ständig Witze über die Kirche. Die Kirchenführer haben schon mit dem Mubarak-Regime paktiert, nun trauen sie sich nicht, etwas gegen Mursi zu sagen."

Überhaupt fühlen sich viele junge Ägypter, die gegen Mubarak auf die Straße gegangen sind, von den neuen Machthabern verraten. Auch von den ägyptischen Medien dürften sie keine Rückendeckung mehr erwarten, meint die Journalistin Nesrin Ezzayat – obwohl sie selbst als Filmkritikerin bisher unbehelligt schreiben kann:

"Das Fernsehen und alle andere staatliche Medien unterstützen die neuen Machthaber durch ihre Berichterstattung, indem sie zeigen, was diese zeigen wollen, und verschweigen, was diese verschweigen wollen. Die meisten privaten Fernsehsender handhaben es ebenso, gehen dabei nur wesentlich subtiler vor."
Ihr Arbeitsplatz liegt nur wenige hundert Meter entfernt vom Kaffeehaus, das sie gerne anstelle des Büros zum Schreiben und Nachdenken besucht. Wie bei vielen anderen ägyptischen Zeitungen hat auch dort nach dem politischen Machtwechsel der Chefredakteur gewechselt. Die Frage nach den Freiheiten, die sie bis heute hat, beantwortet sie eher nüchtern:

"Statt eines Gefolgsmannes von Mubaraks Nationaler Demokratischer Partei sitzt auf dem Chefsessel nun ein Anhänger der Moslembrüder. Das ist nur neuer Wein in alten Schläuchen. Wie sollen sie unparteiischen Journalismus betreiben? Sie kennen meine kritische Haltung, lassen mich aber unbehelligt arbeiten, weil sie mein Ressort, die Filmkritik, als unpolitisch einstufen."

Statt mit teurer Ausrüstung zu arbeiten, greifen Amal Ramsis und andere oppositionelle Filmschaffende zur preisgünstigen Digitalkamera, um ihre Gegenbilder zum Mainstream in die Welt zu setzen. Für Amal Ramsis, die aus einer religiös liberalen Familie stammt, ist das Kopftuch kein brennendes Thema. Für Nesrin Ezzayat dagegen sehr:

"Das Kopftuch ist mein Lebensthema. Durch meine Filme kann ich das wahre Gesicht der Moslembrüder zeigen. Deshalb werde ich weiter Filme über Frauen machen. Ich fühle mich deswegen weder als politische Aktivistin noch als Feministin. Ich nehme nur meine Rechte als Bürgerin und als Frau wahr. Vor der Revolution oder nach der Revolution, Mubarak oder nicht Mubarak: Ich bin ein freier Mensch."

Auch Amal will für ihre Dokumentarfilme künftig wieder - wie vor der Revolution - auf die Genehmigung der Zensurbehörde verzichten.

"Sie versuchen wieder wie vor der Revolution, Kontrolle auszuüben. Der Tahrir-Platz ist nach wie vor noch eine freie Zone, aber wenn man sich ein bisschen davon entfernt, nehmen sie einem die Kamera ab und beschuldigen einen irgendwelcher Vergehen. Freunde von mir saßen drei Tage und Nächte im Gefängnis, nur weil sie eine Kamera dabei hatten und ohne Genehmigung auf der Straße gefilmt haben."

Amal Ramsis hat vor sechs Jahren in Kairo das Ibero-Arabische Frauenfilmfestival ins Leben gerufen hat, wo sie Spiel- und Dokumentarfilme von Regisseurinnen präsentiert. Daran will sie festhalten. Mut machen ihr die vielen Besucher, die zum letzten Festival gekommen sind - wenige Tage nach dem Wahlsieg der Moslembrüder.

"Ich hatte deshalb natürlich erwartet, dass niemand ins Kino kommen würde. Aber zu meiner Überraschung waren alle Vorführungen unseres Festivals ausverkauft. Ich war sehr glücklich, denn das beweist, dass die Menschen solche Filme wollen. Sie finden sich nicht mehr ab mit einem Leben wie vor der Revolution. Und die Moslembrüder begreifen das nicht, und dass sie nicht die gleichen Mechanismen anwenden können wie das Mubarak-Regime."
Mehr zum Thema