"Das Theater muss aufpassen, dass es sich nicht abschafft"
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Immer dieselben Stücke und eine Mischung aus Tagesschau und Agitprop: Das Theater sollte sich wieder mehr auf allgemeingültige Geschichten konzentrieren, findet Schauspielerin Dörte Lyssewski.
Immer dieselben Klassiker von Ibsen bis Tschechow: Die Theater sind bei der Stückeauswahl einfallslos, das findet "FAZ"-Kritiker Simon Strauß schon lange. Also bat er Theaterenthusiasten zu schauen, welche Texte lohnen, der Vergessenheit entrissen zu werden.
Von der Idee des Wiederentdeckens beseelt ist auch die Burgtheater-Schauspielerin Dörte Lyssewski. Sie hat sich für ein vergessenes Stück von Jakob Michael Reinhold Lenz aus dem Jahr 1774 stark gemacht: "Der neue Menoza oder Geschichte des cumbanischen Prinzen Tandi".
Alter Text mit aktuellem Bezug
"Es reflektiert Deutschland auf eine Weise, wo ich denke, das ist zeitlos. Es wird ein Fremder eingeführt, der auf Deutschland blickt, obwohl sich am Ende des Stücks herausstellt, dass er selber in Deutschland geboren ist, und er eigentlich über das tolle Europa etwas mitnehmen will in sein eigenes Land und dann merkt, was für eine verdorbene Veranstaltung das hier ist."
Für Lyssewski ist Lenz‘ Text auch nach knapp 250 Jahren sehr aktuell: "Alles wird anhand des vermeintlich Fremden reflektiert. Das sind Diskussionen, wo ich denke ‚Das kann Anne Will nicht, sondern das hat Herr Lenz ein bisschen besser gemacht`."
Lenz schafft also in 36 Szenen und fünf Akten alles zu zeigen, was noch unsere heutige Gesellschaft und ihre Medien bewegt: Gleichberechtigung, Frauenrechte, Inzest, Bildungsthemen sowie Immobilienspekulanten, Gewaltexzesse und soziale Ungerechtigkeit.
"Das sind Themen, wo man sagt, da hat sich nichts dran geändert", sagt Lyssewski. Und das alles in einer so "handfesten Sprache, das kann man heute noch in den Mund nehmen."
Autoren wissen nicht, was Schauspieler brauchen
Engagiert für das vergessene Lenz-Stück hat sich die Schauspielerin auch, weil sie im Theater ein "zunehmendes Misstrauen oder fast Desinteresse Autoren gegenüber oder dem Wort gegenüber" feststellt. Das sei "ziemlich fatal":
"Je komplexer, je schwieriger, je situativer Texte sind, desto schwieriger wird es für einen Autor, solche zu schaffen, die auch einem Schauspieler gerecht werden. Das hängt damit zusammen, dass viele nicht mehr wissen, was Schauspieler sind, wie die funktionieren und was sie brauchen. Und auch, was eine Regie braucht."
Netflix erzählt die allgemeingültigen Geschichten
Das Theater solle weniger Tagesschau und Agitprop sein, sondern wieder Geschichten über allgemeingültige Dinge auf die Bühne bringen. "Im Augenblick macht das Netflix. Die trauen sich, diese Geschichten zu erzählen. Das Theater traut sich das nicht mehr. Da muss man wirklich aufpassen, dass man sich nicht abschafft."
(sub)