Alte Zeiten?

Von Alexander Göbel |
Der Weg Tunesiens zur Demokratie ist beschwerlich. Bis heute ist der Schutz der Menschenrechte nicht gewahrt, haben kritische Journalisten mit Repressalien zu kämpfen. Der Aufschwung der Wirtschaft lässt auf sich warten. Und dem Tourismus, der sich gerade vielversprechend erholt hatte, droht ein Rückschlag.
Gafsa, tief im Süden von Tunesien. Das Tor zur Wüste. Ein tristes Provinznest, aber mit großer Bedeutung. Denn Gafsa liegt im Herzen des Phosphatbeckens, das sich über 6000 Quadratkilometer erstreckt. Phosphat ist Zusatzstoff für Waschmittel, Farbe, Futtermittel und Grundstoff für Dünger: Phosphat ist der wichtigste Bodenschatz Tunesiens.

Der Wind in Gafsa ist heiß, das Thermometer steigt hier schon am Morgen schnell auf über 40 Grad. In der Nase und in den Augen brennt der Phosphatstaub. Auf Autos, Bäumen, Dächern - auf allem liegt ein gelblicher Staubfilm, die Luft stinkt nach Schwefel, das Atmen fällt schwer. Sadok Amin hat jahrzehntelang für die Groupe Chimique in Gafsa geschuftet . Heute ist er alt und krank. Vor der Sonne hat er sich in eine Lagerhalle geflüchtet:

"Eigentlich könnten alle Menschen in der Region, nein - ganz Tunesien könnte von der Phosphatproduktion leben. Es wird eine ordentliche Menge produziert. Und wenn alles mit rechten Dingen zuginge, dann könnte es dieser Region und dem ganzen Land sehr, sehr gut gehen!"

"Life is never easy for those who dream”, hat jemand an eine Mauer gesprüht: Das Leben ist nicht leicht für diejenigen, die träumen.

In den neunziger Jahren hatte die staatseigene Phosphatindustrie von Berg- auf Tagebau umgestellt und damit Menschen durch Maschinen ersetzt. Bis 2008 sank die Zahl der Beschäftigten von 15.000 auf 5000. Der ausgegrabene Reichtum wurde in den Küstenregionen investiert oder verprasst; dort, wo die Clans des Diktators Ben Ali herstammten. Im Phosphatbecken dagegen: tiefe Not. Bis heute sei das so, klagt Nejib, auch nach der Revolution. Nejib ist arbeitslos wie die meisten hier. Im Schatten eines Baumes wartet er neben einem Karren voller Wassermelonen auf Kundschaft.

"Es hat sich gar nichts geändert, die Leute sind immer noch arbeitslos, es gibt Familien, die können noch nicht mal Wasser und Strom bezahlen! (...) Familien mit vier, fünf Kindern, die Mädchen sind nicht verheiratet, und die müssen mit 200, 300, 500 Dinar auskommen - das ist doch kein Leben! So sieht's aus! Es wird sich nichts ändern... Früher konnte ich auf dem Flohmarkt eine Hose für 500 Millimes kaufen, heute kostet sie 10 Dinar!"

Die Streiks von 2008 in Gafsa - sie wurden brutal niedergeschlagen, nur wurde damals kaum darüber berichtet. Sie waren der eigentliche Anfang vom Ende des Ben Ali-Regimes, davon sind die Menschen hier überzeugt: Sie haben die Revolution begonnen, lange bevor sich Ende 2010 der Obst- und Gemüsehändler Mohamed Bouazizi in Sidi Bouzid verbrannte. Darauf sind sie stolz in der Gewerkschaftshochburg. Und deswegen sind sie in Gafsa auch so wütend, dass die Revolution ihnen bis jetzt nichts gebracht hat. Sie fühlen sich verraten. Von einer Regierung, die vielversprechend und mit einer Dreierkoalition aus Linken, Sozialdemokraten und den Islamisten der Ennahda-Partei angetreten ist, um Tunesien den Weg in die Demokratie zu ebnen. Amar Amroussi, Chef der Kommunisten von Gafsa, zieht eine bittere Bilanz.

"Diese Regierung hat einen Weg eingeschlagen, der nichts mit der tunesischen Revolution zu tun hat. Weder bewahrt sie die Revolution, noch tut sie im wirtschaftlichen Bereich etwas. Es gibt Bewegungen, die auch gewählte Regierungen zum Rücktritt aufrufen -. Beispiel Griechenland. Das hier ist keine wirkliche Troika - wie auch unter Ben Ali sind hier Blockflöten am Werk, die der ganzen Sache einen demokratischen Anstrich geben sollen...eine Pseudo-Opposition innerhalb der Regierung...das ist eine neue Diktatur, ein neuer Faschismus, der hier regiert. Die Revolution kann nur mit dem Sturz dieser Regierung weitergehen!"

Diese harsche Kritik teilen viele Tunesier in anderen Teilen des Landes, und auch in der Hauptstadt Tunis. Streiks und Demonstrationen sind noch immer an der Tagesordnung. Die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit, die hohen Lebensmittelpreise bei einem mäßigen Wirtschaftswachstum - das sind alles ebenso Reizthemen wie die Aufarbeitung der Vergangenheit, die in Tunesien nur schleppend vorankommt. Der Menschenrechtsanwalt Mokhtar Trifi regt sich besonders darüber auf, dass die groß angekündigte Justizreform - laut der Regierung einer der Grundpfeiler des neuen Tunesien - noch immer keine Gestalt angenommen hat..

"Viele Projekte sind gestartet worden, mit der EU, mit den Vereinten Nationen, mit dem UN-Kommissariat für Menschenrechte, viele Experten kamen und gingen: Also, man hört viel von einer Justizreform, aber wir sehen nichts davon! Die politische Polizei ... es gibt sie immer noch. Die Archive aus den Folterkammern ... . Sie sind nicht zugänglich, es heißt, es sei sehr, viel vernichtet worden. Ich war vor kurzem in Deutschland. Und ich habe gesehen, wie die Deutschen sich dieses schlimmen Teils ihrer Geschichte annehmen. Wie in den Stasi-Archiven auch 23 Jahre nach dem Mauerfall Hunderttausende kleinste Zettelfetzen wieder zusammengeklebt werden, um die Wahrheit ans Licht zu bringen! Das ist Justiz - herauszufinden, was geschehen ist! Erst dann können wir verstehen, warum wir da sind, wo wir eben heute sind!"

Besonders bestürzt ist Mokhtar Trifi darüber, dass auch nach der Revolution in Tunesiens Polizeiwachen und Gefängnissen weiter gefoltert wird. Während er und seine Menschenrechtsliga immer wieder auf die Vorfälle aufmerksam machen, herrscht ansonsten großes Schweigen. Die tunesische Regierung beginnt nur zaghaft, sich des Themas anzunehmen. Doch wer ungefragt darüber spricht oder gar als Zeuge auspackt, bringt sich in Gefahr. In den Medien ist das Thema tabu.

Rolle rückwärts in Tunesien? Bleibt alles beim Alten? Noch immer ziehen alte Kader der Ben Ali-Partei RCD wichtige Strippen, natürlich machen die langen Schatten der Vergangenheit Tunesiens bisweilen die Gegenwart zur Hölle. Doch es ist keineswegs so, dass Tunesiens Regierung untätig wäre. Ganz im Gegenteil. Sie rotiert - und mit ihr das Übergangsparlament. Vielleicht sei das genau das Problem, vermutet der Philosoph Youssef Seddik:

"Es ist die Hast, die die politisch Verantwortlichen ihre Strategie vergessen lässt! Der Druck, alles lösen zu müssen, und zwar gleichzeitig - Wirtschaft, Arbeit, Löhne usw.! Das ist das große Unglück Tunesiens: Es gibt keine Prioritäten, alles ist dringend! Und niemand findet die Lösung dieser Gleichung mit so vielen Unbekannten. Mit so viel dringlichen Problemen auf der einen, und so wenig Strategie auf der anderen Seite!"

Täglich wird um neue Gesetze und Verordnungen gerungen; ausländische Investoren kommen vorsichtig zurück, und auch die Touristen. Die Buchungszahlen von Urlaubern aus dem europäischen Ausland sind noch nicht wieder auf dem Niveau vor der Revolution, doch die Nationale Tourismusbehörde spricht nach dem dramatischen Einbruch im letzten Jahr schon von einem Comeback Tunesiens als Reiseland. Alle hoffen auf diesen und den nächsten Sommer. In Tunesien leben schließlich mehr als 2 Millionen Menschen direkt oder indirekt vom Tourismus. Nichts dürfe mehr schiefgehen, es müsse endlich Ruhe einkehren, beschwört die Wirtschaft die Politik. Wided Bouchamaoui ist Präsidentin des tunesischen Industrie-und Handelsverbandes:

"Wir brauchen endlich Stabilität! Jedes Mal, wenn die Wirtschaft sich erholt, wenn die Dinge endlich klarer sind, dann gibt es einen politischen, religiösen oder sonstigen Zwischenfall - und dann ist es wieder vorbei mit der Stabilität!"

"Zwischenfälle" gibt es mehr als genug - und auch Gewalt. An Ostern war die Avenue Bourguiba in Tränengas eingehüllt; wütende Schläger, möglicherweise aus dem Lager der Ex-RCD, machten Jagd auf Demonstranten, auch Journalisten wurden verletzt. Und seit Wochen knirscht es gewaltig im Gebälk der Übergangsregierung: Ein erbitterter Machtkampf ist entbrannt, zwischen dem linken Übergangspräsidenten Moncef Marzouki und Premierminister Hamadi Jebali. Der Regierungschef der Mehrheitspartei Ennahda lässt derzeit keine Gelegenheit aus, um Marzouki politisch zu demütigen und seine Autorität zu untergraben. Die Islamisten von Ennahda machen ihren Koalitionspartnern der Übergangsregierung klar: Wir sind die Starken. Die Mehrheit der Bevölkerung Tunesiens hat uns gewählt: Wir sind gekommen, um zu bleiben. Ennahda-Sprecher Faycal Nacer beschwichtigt - und singt das Lied der Harmonie. Seine Partei habe es nicht leicht mit ihrem Versuch, Demokratie und Islam unter einen Hut zu bekommen.

"Die Radikalen werfen uns einen "Islam Light" vor, die Laizisten sagen, wir seien Radikale. Wer im Zentrum steht, findet sich immer am Pranger wieder. Aber wir bleiben auf dem Mittelweg. Deshalb sind wir ja auch mit den Linken wie mit Präsident Marzouki eine Koalition eingegangen. Wir glauben an die Koexistenz der Menschen, und wir respektieren Unterschiede."

Respekt, Koexistenz: Viele Beobachter sind sich da nicht mehr so sicher. Der Menschenrechtsanwalt Mokhtar Trifi:

"Fakt ist: Ihre Rezepte für die Wirtschaft funktionieren nicht. Aber die Partei ist schon im Wahlkampf! Für die Wahlen, die voraussichtlich im März 2013 stattfinden werden. Sie machen gezielt Kulturpolitik und gehen auf Menschenfang, mit dieser religiös gefärbten Debatte über die Identität."

Ein gefährliches, machtpolitisches Kalkül. Ein zynisches Schachspiel, in dem radikale Kräfte eine besondere Rolle spielen.

Im Juni stürmen Salafisten mit Säbeln und Stöcken die Kunstausstellung "Printemps d'Art" im Abdelia-Palast von La Marsa, einem Vorort von Tunis. Der "Frühling der Kunst" war als wichtigste Schau moderner tunesischer Kunst seit der Revolution angekündigt worden. Die radikalen Islamisten sehen in der Ausstellung eine Beleidigung ihres Glaubens - und damit der muslimischen Identität. Allerdings richtet sich ihr Zorn auf Werke, die zwar im Internet auf Facebook kursieren, aber nicht Teil der Ausstellung sind. Doch die Gewalt ist nicht mehr aufzuhalten. Der Mob ist wie entfesselt: Bilder werden zerstört, plötzlich brennen in Tunis und anderswo Polizeistationen, Gerichtsgebäude, Hotels, es gibt viele Verletzte, auch einen Toten: In einigen Landesteilen wird mehrere Tage Ausgangssperre verhängt.

Die junge Installationskünstlerin Amal hat selbst im Abdelia-Palast ausgestellt . Nun hat sie Angst. Um ihr Leben, um ihre Freunde, um die Kultur in Tunesien.

"Was soll nur werden? Werden Künstler noch ihre Werke ausstellen? Wird es noch neue Galerien geben? Werden Filmemacher noch ihre neuen Filme, Theaterregisseure noch ihre Inszenierungen zeigen?"

Die Angst kommt nicht von ungefähr. Immer wieder haben Tunesiens Salafisten in der Vergangenheit Kultureinrichtungen, Kinos und Fernsehsender angegriffen - ohne dass dies große juristische Folgen für die Täter gehabt hätte. Und nach der jüngsten Ausstellung von La Marsa rief der Imam der Zitouna-Moschee von Tunis dazu auf, die ungläubigen Künstler zu töten und - so wörtlich - ihr Blut in den Straßen zu vergießen.

Mittlerweile darf der Imam nicht mehr predigen, aber Amal beruhigt das ganz und gar nicht. In Europa werden schon Ausstellungen tunesischer Künstler abgesagt, Künstler werden ausgeladen, aus Angst vor salafistischen Anschlägen.

"Es gibt sogar schwarze Listen von Künstlern, die nicht einmal im Kunstpalast ausgestellt haben - und diese Listen machen auf Facebook die Runde. Ich bin nicht die einzige, die in Gefahr ist. Die gesamte Szene ist in Gefahr. Was hier gerade geschieht, ist für mich der Beweis dafür, dass die Kultur in diesem Land ausgelöscht werden soll."

Das weist Kulturminister Mabrouk von der Islamistenpartei Ennahda entschieden zurück. Aber: Künstlerische Meinungsfreiheit habe ihre Grenzen, erklärt er in einer Pressekonferenz. Kunst müsse schön sein, aber nicht revolutionär. Kunst dürfe sich nicht an Heiligem oder an Symbolen vergreifen und müsse Provokationen vermeiden. Ennahda-Sprecher Faycal Nacer geht noch einen Schritt weiter. Die Künstler seien die eigentlichen Steigbügelhalter der Salafisten - und die seien wiederum von Anhängern des früheren Präsidenten Ben Ali gesteuert, um das Land ins Chaos zu stürzen. Verschwörungstheorien haben Konjunktur in Tunesien.

"Die Künstler dieser Ausstellung sind doch gar keine richtigen Künstler - diese Leute können sich ja nicht mal als Künstler ausweisen. Diese ... wie nennt man sie nochmal ... moderne Kunst - sie hat nur Ärger gemacht. Damit haben diese Leute die Salafisten provoziert, und die haben ihre Schläger auf die Straße geschickt. Im Grunde sind die Künstler die Komplizen der Salafisten!"

Für Menschenrechtsanwalt Mokhtar Trifi sind solche Aussagen nichts als billige Ablenkungsmanöver von Ennahda. Es sei bekannt, dass die Islamistenpartei auch radikale Kräfte in ihren Reihen habe und diese auch einbinden müsse, aus strategischen Gründen.

"Viele Salafisten werden von Ennahda manipuliert! Um dieses Gesellschaftsprojekt durchzusetzen. Nach dem Motto: Wir, also Ennahda, geben Euch, den Salafisten, Eure Gesellschaft. Den anderen sagt man: Wir, Ennahda, sind die einzigen, die Euch vor den Salafisten schützen können. Das Ergebnis ist das gleiche. Die einen erreichen es mit Zerstörung und Gewalt, die anderen mit dem gezielten Schüren von Angst."

Künstler als Sündenböcke. Kulturchauvinismus. Machtspiele auf dem Rücken einer verunsicherten Gesellschaft, die gerade dabei ist, sich neu zu erfinden ... Tunesiens Kulturszene rückt noch enger zusammen. Trotz vorübergehender Ausgangssperre. Sie erinnert daran, dass es noch ein weiter Weg ist für Tunesien.

Ein Konzert auf dem Hügel von Karthago, zwischen antiken Säulen geht am Horizont die Sonne unter. Sängerin Neysattou steht auf der kleinen Bühne und wippt zum DJ-Rhythmus. Die Stimmung ist gedämpft, nachdenklich. Neysattou ist auf der Suche nach Antworten. Antworten auf die Frage, die sich im Jahr Eins nach der Jasmin-Revolution eine ganze Generation junger Tunesier stellt: Wie wollen wir leben?

"Wir wollten, dass dieses Festival den Menschen Hoffnung bringt. Hoffnung für die Kinder der Arabischen Revolutionen - in Ägypten, in Tunesien, überall. Diese Leute hier glauben daran, dass es Revolutionen der Kultur sind. Entweder eine Revolution geschieht über die Kultur, oder sie findet erst gar nicht statt. Es geht um Mentalitäten! Wir glauben an die Masse, und daran, dass wir gemeinsam etwas verändern können! Wir sind in einer Phase, in der uns niemand mehr aufhalten kann, auch nicht die Islamisten. Ich glaube fest daran, dass die Dinge sich hier ändern werden. Weil wir wollen, dass sie sich ändern. Wir sind freie Menschen, Individuen, und wir sind die Mehrheit!"

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