Alter Glanz und neue Vorurteile
Gemeinsam mit der Journalistin Irina Leytus ist der südafrikanische Arzt Paul Abramowitz nach Litauen gereist, um nach Spuren seiner jüdischen Familie zu suchen. In einem Buch berichten die beiden über das ehemals reichhaltige litauisch-jüdische Leben - von dem heute wenig übrig ist.
"Litauen. Das klingt so vertraut! Die Gespräche der Erwachsenen über dieses ferne Land, denen ich als kleiner Junge lauschte. Mein Großvater nannte Litauen auf Jiddisch 'Der Heim' und das klang mitten im englischen Satz sehr mystisch. Später studierte ich meinen Stammbaum: 23 Verwandte habe ich im Land meiner Vorfahren, zwei davon traf ich in London in den 80ern. Ich weiß, eines Tages werde ich nach Litauen fahren, eines Tages ..."
Der Mann, der diese Hoffung äußert, ist Paul Abramowitz: Seine jüdische Familie emigrierte nach dem Ersten Weltkrieg wie so viele von Litauen nach Südafrika. Nur die ältere Schwester des Großvaters blieb, ließ sich aus Liebe zu einem Katholiken taufen - und sorgte so dafür, dass Abramowitz einen Anhaltspunkt für die Suche nach seinen Wurzeln hat.
Denn der südafrikanische Arzt fährt tatsächlich in das Land seiner Vorfahren, gemeinsam mit der Publizistin Irina Leytus, die er durch Zufall in Berlin kennenlernt. Leytus' eigene Familie stammt aus Litauen, Weißrussland und Bessarabien. Auch sie wanderte nach Südafrika aus, bevor sie sich 1991 in Deutschland niederließ. Die Parallelen zwischen den beiden verbinden:
"Also diese geografischen Sprünge, einmal Osteuropa, dann Südafrika, zurück nach Europa - das verbindet schon einerseits. Andererseits stellt man dann plötzlich heraus, dass die Geografie - und das ist schon ein jüdisches Anliegen, ein jüdischer Gedanke - dass Geografie sekundär ist. Die Zeit, das ist wichtig."
Die Zeit ist zentral für die Spurensuche, auf die sich Irina Leytus und Paul Abramowitz begeben. Sie ist der Wegweiser für ihre mühselige Puzzlearbeit, die sie nach Vilnius und Kaunus führt und nach Panevezys, wo Abramowitz' Familie im 19. Jahrhundert eine Mühle betrieb und eine Synagoge baute. Sie bringt die beiden in litauische Archive, in denen Namen keine Hilfe sind, sondern Zeiträume durchforstet werden müssen.
Über das Ergebnis ihrer Suche haben die beiden ein Buch geschrieben: "Panevezyser Mühlen der Geschichte" heißt es und ist mehr als ein Reisebericht. Es erzählt die Geschichte der Juden in Litauen seit dem Mittelalter, von ihrem prägenden Einfluss und ihrem Schicksal. Denn das jüdische Leben in Litauen war einmal reichhaltig – nur wenig ist davon heute noch übrig geblieben, was laut Leytus vor allem an einem Ort spürbar wird:
"In Panevezys konnten wir ganz viel Sichtbares finden, aber auch Nicht-Sichtbares: Diese Szene im Panevezyser Stadtmuseum, wo es keine Erwähnung über Juden gibt, obwohl die Stadt Jahrhunderte lang jüdisch war - also die Mehrzahl der Leute war jüdisch. Kein Wort."
Statt einer Abteilung über die jüdische Vergangenheit der Stadt finden Leytus und Abramowitz im Museum dutzende präparierter Schmetterlinge. Beim Besuch der ehemaligen Synagoge sehen sie an der Stelle des früheren Thoraschrankes ein Waschbecken. Es sind Szenen wie diese, in denen persönliche und übergreifende Geschichte ein Mosaik bilden, das gleichzeitig einen Einblick in das heutige jüdische Leben in Litauen bietet.
Dieses Leben ist oft auch von Vorurteilen geprägt. So unterhält sich Abramowitz in Vilnius mit einer jungen Studentin, die sich darüber empört, dass ihre Großmutter ihr Haus an eine jüdische Emigrantenfamilie zurückgeben soll. Abramowitz versucht, ihr mit einer Allegorie zu begegnen:
"Stell Dir vor, Du bist am Montag geboren. Eines Tages musst Du Dein Land verlassen und alles, was Du hast, also Dein Zuhause aufgeben, weil Du am Montag geboren bist. An die Menschen, die am Dienstag geboren sind. Deine Kinder wachsen irgendwo auf und wollen nach Deinem Tod das Haus, das Dir gehörte und was sie sonst einfach erben würden, zurück haben. Wären sie im Recht?"
Nach langem Überlegen gibt die junge Frau Abramowitz Recht. Doch für die beiden Reisenden bleibt die Frage: Wie viele Litauer denken so wie die Studentin zuvor? Schlimmer aber als diese Zweifel sind die Spuren, die der Holocaust im Land hinterlassen hat. Gerade Paul Abramowitz erschüttern diese nachhaltig. Irina Leytus:
"Das war auch ein Thema für Paul, noch mal Holocaust oder Schoah eben da vor Ort zu erleben und das mündete in eine epochale Dankbarkeit seinem Urgroßvater gegenüber, der diesen Stress auf sich genommen hat, dem seine Intuition gesagt hat: jetzt weg! Die Sachen ändern sich, die verschlimmern sich. Das wird immer dramatischer. Das wird immer dunkler."
Am Ende wird Paul Abramowitz einen Teil seiner Familiengeschichte greifbarer gemacht haben – für sich, aber auch für den Leser. Doch das Buch von ihm und Irina Leytus hat einen weiteren Effekt: Es wirft ein Schlaglicht auf jenen Teil der europäischen Juden, der in deutschen Gemeinden oft verallgemeinernd als "die Russen" bezeichnet wird.
In großer Zahl wanderten sie nach der Wende nach Deutschland ein – und veränderten die jüdischen Gemeinden. Für viele alteingesessene Mitglieder kam die Einwanderung einer feindlichen Übernahme gleich. Ein oft gehörtes Vorurteil lautet, dass es den Neuankömmlingen an jüdischer Tradition fehle. Irina Leytus machen solche Aussagen traurig – zumal sie verschleiern, dass sich hinter "den Russen" zahlreiche Nationalitäten, Identitäten und Geschichten verbergen. Doch Leytus ist optimistisch:
"Jede Geschichte ist interessant. Wenn man sich vorgenommen hat, diese Geschichte trotz Akzents zu verstehen, dann ist schon das Eis gebrochen. Dann ist es schon vorbei. Dann gibt es 'die Russen' nicht mehr. Dann gibt es Micha. Oder Olga. Also ich denke schon, dass die Zeit wird es richten. Und vielleicht auch ein bisschen unser Buch."
Irina Leytus, Paul Abramowitz: Panevezyser Mühlen der Geschichte
Meidenbauer Verlag, München 2011
94 Seiten, 19,90 Euro
Der Mann, der diese Hoffung äußert, ist Paul Abramowitz: Seine jüdische Familie emigrierte nach dem Ersten Weltkrieg wie so viele von Litauen nach Südafrika. Nur die ältere Schwester des Großvaters blieb, ließ sich aus Liebe zu einem Katholiken taufen - und sorgte so dafür, dass Abramowitz einen Anhaltspunkt für die Suche nach seinen Wurzeln hat.
Denn der südafrikanische Arzt fährt tatsächlich in das Land seiner Vorfahren, gemeinsam mit der Publizistin Irina Leytus, die er durch Zufall in Berlin kennenlernt. Leytus' eigene Familie stammt aus Litauen, Weißrussland und Bessarabien. Auch sie wanderte nach Südafrika aus, bevor sie sich 1991 in Deutschland niederließ. Die Parallelen zwischen den beiden verbinden:
"Also diese geografischen Sprünge, einmal Osteuropa, dann Südafrika, zurück nach Europa - das verbindet schon einerseits. Andererseits stellt man dann plötzlich heraus, dass die Geografie - und das ist schon ein jüdisches Anliegen, ein jüdischer Gedanke - dass Geografie sekundär ist. Die Zeit, das ist wichtig."
Die Zeit ist zentral für die Spurensuche, auf die sich Irina Leytus und Paul Abramowitz begeben. Sie ist der Wegweiser für ihre mühselige Puzzlearbeit, die sie nach Vilnius und Kaunus führt und nach Panevezys, wo Abramowitz' Familie im 19. Jahrhundert eine Mühle betrieb und eine Synagoge baute. Sie bringt die beiden in litauische Archive, in denen Namen keine Hilfe sind, sondern Zeiträume durchforstet werden müssen.
Über das Ergebnis ihrer Suche haben die beiden ein Buch geschrieben: "Panevezyser Mühlen der Geschichte" heißt es und ist mehr als ein Reisebericht. Es erzählt die Geschichte der Juden in Litauen seit dem Mittelalter, von ihrem prägenden Einfluss und ihrem Schicksal. Denn das jüdische Leben in Litauen war einmal reichhaltig – nur wenig ist davon heute noch übrig geblieben, was laut Leytus vor allem an einem Ort spürbar wird:
"In Panevezys konnten wir ganz viel Sichtbares finden, aber auch Nicht-Sichtbares: Diese Szene im Panevezyser Stadtmuseum, wo es keine Erwähnung über Juden gibt, obwohl die Stadt Jahrhunderte lang jüdisch war - also die Mehrzahl der Leute war jüdisch. Kein Wort."
Statt einer Abteilung über die jüdische Vergangenheit der Stadt finden Leytus und Abramowitz im Museum dutzende präparierter Schmetterlinge. Beim Besuch der ehemaligen Synagoge sehen sie an der Stelle des früheren Thoraschrankes ein Waschbecken. Es sind Szenen wie diese, in denen persönliche und übergreifende Geschichte ein Mosaik bilden, das gleichzeitig einen Einblick in das heutige jüdische Leben in Litauen bietet.
Dieses Leben ist oft auch von Vorurteilen geprägt. So unterhält sich Abramowitz in Vilnius mit einer jungen Studentin, die sich darüber empört, dass ihre Großmutter ihr Haus an eine jüdische Emigrantenfamilie zurückgeben soll. Abramowitz versucht, ihr mit einer Allegorie zu begegnen:
"Stell Dir vor, Du bist am Montag geboren. Eines Tages musst Du Dein Land verlassen und alles, was Du hast, also Dein Zuhause aufgeben, weil Du am Montag geboren bist. An die Menschen, die am Dienstag geboren sind. Deine Kinder wachsen irgendwo auf und wollen nach Deinem Tod das Haus, das Dir gehörte und was sie sonst einfach erben würden, zurück haben. Wären sie im Recht?"
Nach langem Überlegen gibt die junge Frau Abramowitz Recht. Doch für die beiden Reisenden bleibt die Frage: Wie viele Litauer denken so wie die Studentin zuvor? Schlimmer aber als diese Zweifel sind die Spuren, die der Holocaust im Land hinterlassen hat. Gerade Paul Abramowitz erschüttern diese nachhaltig. Irina Leytus:
"Das war auch ein Thema für Paul, noch mal Holocaust oder Schoah eben da vor Ort zu erleben und das mündete in eine epochale Dankbarkeit seinem Urgroßvater gegenüber, der diesen Stress auf sich genommen hat, dem seine Intuition gesagt hat: jetzt weg! Die Sachen ändern sich, die verschlimmern sich. Das wird immer dramatischer. Das wird immer dunkler."
Am Ende wird Paul Abramowitz einen Teil seiner Familiengeschichte greifbarer gemacht haben – für sich, aber auch für den Leser. Doch das Buch von ihm und Irina Leytus hat einen weiteren Effekt: Es wirft ein Schlaglicht auf jenen Teil der europäischen Juden, der in deutschen Gemeinden oft verallgemeinernd als "die Russen" bezeichnet wird.
In großer Zahl wanderten sie nach der Wende nach Deutschland ein – und veränderten die jüdischen Gemeinden. Für viele alteingesessene Mitglieder kam die Einwanderung einer feindlichen Übernahme gleich. Ein oft gehörtes Vorurteil lautet, dass es den Neuankömmlingen an jüdischer Tradition fehle. Irina Leytus machen solche Aussagen traurig – zumal sie verschleiern, dass sich hinter "den Russen" zahlreiche Nationalitäten, Identitäten und Geschichten verbergen. Doch Leytus ist optimistisch:
"Jede Geschichte ist interessant. Wenn man sich vorgenommen hat, diese Geschichte trotz Akzents zu verstehen, dann ist schon das Eis gebrochen. Dann ist es schon vorbei. Dann gibt es 'die Russen' nicht mehr. Dann gibt es Micha. Oder Olga. Also ich denke schon, dass die Zeit wird es richten. Und vielleicht auch ein bisschen unser Buch."
Irina Leytus, Paul Abramowitz: Panevezyser Mühlen der Geschichte
Meidenbauer Verlag, München 2011
94 Seiten, 19,90 Euro