Alter Knacker und junge Schöne

Von Almuth Knigge |
Das nordostdeutsche Küstengebiet ist für die Kartoffel ideal: leichte Böden und viel Wind, der die Schädlinge wegweht. Knapp 15 Kilometer von Rostock entfernt liegt Groß Lüsewitz, ein Ort mit Kartoffeltradition. Von mehligkochend und mittelfrüh über blaufleischig bis festkochend werden hier alte Knollensorten gezüchtet und neue auf den Markt gebracht.
"Kartoffel, Erdapfel, Arber, Ärpel, Bramburi, Erdbirn, Flezbirn, Grübling, Nudel, Schucke, Bulwe, Kästen, Grumpa, Tüfte, Solanum Tuberosum,…"

Soraya heißt der Star der Saison, die Neue, die Schöne, die, die alle anderen übertreffen soll.

"Wenn man die aufschneidet, dann ist die schön gelb, tiefgelb. Wenn man beide Kartoffelhälften auflegt, dann hat man eine sehr gleichmäßige Struktur des Knollenfleisches. Man sieht da vielleicht noch den kleinen Markstreifen drinnen, aber ansonsten eine glänzende Schnittfläche der Innenseite der Kartoffel."

Auf der Suche nach der perfekten Kartoffel kommt man an Holger Junghans nicht vorbei. Dr. Holger Junghans, Zucht- und Forschungsleiter bei Norika, der norddeutschen Nordring- Kartoffelzucht- und Vermehrungs- GmbH Groß Lüsewitz. Ein Ort mit Kartoffeltradition.

"Was man sagt: dass Mecklenburg die Kinderstube von einem Großteil des Pflanzgutes ist, dass man in Deutschland zu kaufen bekommt."

Das ist natürlich weit untertrieben, weil der Mecklenburger nicht zum Eigenlob neigt. In der Tat ist es so, dass quasi die geballte Kartoffelkompetenz des Landes - die Wiege der deutschen Kartoffel - in Mecklenburg steht.

"Am Standort existierte ja vor der Wende das sogenannte Kartoffelforschungsinstitut der Akademie der Landwirtschaft der DDR. Das war ein Rieseninstitut, das sich nur mit Kartoffeln - aber da mit allen Aspekten - beschäftigt hat. Das ging los mit der Genbank, die war ein Bestandteil des Institutes. Es war Ausgangsmaterialzüchtung, es wurden die Krankheitserreger der Kartoffeln erforscht, es wurden Sorten gezüchtet, es wurden Anbautechniken untersucht - also alles, was man sich im Bereich Kartoffelforschung vorstellen kann, war an diesem Institut angesiedelt, und es waren circa 600 Mitarbeiter hier beschäftigt, am Standort und an den Außenstellen."

Das war 1990 viel zu groß für bundesdeutsche Verhältnisse. Und auch die Züchtung von fast allen Kulturpflanzen obliegt in der Bundesrepublik privaten Unternehmern, und nicht staatlichen Institutionen.

"Und die Norika wurde dann von der Treuhand an bedeutende kartoffelverarbeitende Unternehmen der Bundesrepublik veräußert. Die Norika hat heute als GmbH neun Gesellschafter."

Wir züchten Zukunft, steht auf der Internet-Seite. Wenn Holger Junghans in die Zukunft der Kartoffel sieht…

"… dann sehe ich eine schöne, ovale, gelb-ocker-glänzende Kartoffel, die sich durch eine sehr ebenmäßige Oberfläche auszeichnet, die keine tiefen Augen hat. Aber man sieht doch, dass es ein lebender Organismus ist: Das sind Augen, das ist die Seite des Nabels, da haben wir das Kronen-Ende, und das alles am besten ohne große - sag' ich mal - Krümmungen und Wölbungen, sondern ein sehr schöner, großer, runder, voller, oval kugeliger Körper, sag' ich mal so."

Und Soraya, die neuste Sorte aus Groß Lüsewitz, kommt der perfekten Kartoffel schon sehr nahe.

"Soraya ist eine hoch ertragreiche, vorwiegend festkochende Speisekartoffel (Kochtyp B) in der mittelfrühen Reifegruppe. Rundoval mit glatter Schale und flachen Augen ist sie äußerlich sehr attraktiv, hat aber auch beste innere Werte. Mit ihrer gelben Fleischfarbe und hohen Farbstabilität empfiehlt sich Soraya als Qualitätsspeisekartoffel mit Extraeignung für den Einsatz in Gastronomie und Convenience-Food-Industry."
"Der Speisewert: Soraya ist vorwiegend festkochend (Kochtyp B), äußerst geringe Rohverfärbung und sehr geringe Verfärbung nach dem Kochen, Stärkegehalt circa elf Prozent, eine attraktive gelbfleischige Speisekartoffel mit stabiler, ovaler Knollenform, glatter Schale und flachen Augen. Hervorragend für die Schälung geeignet."
Groß Lüsewitz, dieses deutsche Kartoffelmekka, liegt knapp 15 Kilometer von Rostock entfernt. Ein Mekka für Biologen, Ökolandwirte, Bio-Kleingärtner und Kartoffel-Nostalgiker. Groß Lüsewitz ist ein kleines, in Ruhe gewachsenes Dorf mit Bahnhof, See und Schloss, das man auf einer romantischen Bundesstraße erreicht, wenn man Kartoffelfelder rechts und Getreidefelder links liegen lässt und in die typisch mecklenburgische Dorfallee einbiegt.

Das nordostdeutsche Küstengebiet ist für die Kartoffel ideal: leichte Böden, viel Wind, der die Schädlinge wegweht. Am Ende der Straße eine alte Gutsanlage. In der Herbstsonne leuchten die roten Dalien, ein paar Gebäude sind frisch gestrichen: hellgelb, kartoffelfarben sozusagen. Hier hat zum Beispiel "Adretta" die Wende überlebt: "Mehligkochend und mittelfrüh" wandert die einst beliebteste DDR-Speisekartoffel auch heute noch in zahllose Töpfe und Pfannen vor allem in den neuen Bundesländern und ehemaligen Sowjetrepubliken. Auf der gesamtdeutschen "Knollen-Hitliste" rangiert sie auf Platz 18 von knapp 200 Sorten. Die jüngste - Soraya.

"Zügige Jugendentwicklung, halbaufrechte bis breite Wuchsform, Staude mittelhoch bis hoch, weiße Blütenfarbe, Blütenhäufigkeit gering bis mittel."

In Arbeit - unzählige mehr. Seit 1990 hat Norika 21 neue Sorten auf den Markt gebracht. Und am Anfang - steht das Kreuzungsgewächshaus.

"Kreuzungsgewächshaus ist - sag' ich mal - das Schlafzimmer der Kartoffelzüchtung."

Hier stimmt die Geschichte mit den Bienen und den Blüten noch - wobei die Bienen Menschen sind.

"Schlafzimmer deshalb, weil hier die einzige Phase im Zuchtprozess ist, in der Sex stattfindet. Hier haben die Kartoffeln kontrollierten Sex."

Die Pflanze bildet Früchte, in den Früchten sind die Samen, die werden ausgesäht, es bilden sich Knollen - und die kommen dann im Jahre drei nach der Idee auf den Acker. Dort müssen sie den ersten wichtigen Test bestehen.

Holger Junghans ist auf dem Weg zum Zuchtgarten, einem Kartoffelacker, knapp einen Kilometer vom Büro entfernt.

"Also, Züchtung beginnt ja im Kopf. Ich muss mir erst einmal Gedanken machen: Wie sieht die perfekte Sorte aus, die perfekte Kartoffel? Und dann muss ich mir überlegen: Okay, wenn ich heute anfange zu züchten, dann dauert das ja 15 Jahre, bis die Sorte erst einmal am Markt ist. Das heißt, Sie müssen überlegen: Was wird denn in zehn bis 15 Jahren so interessant sein?

Das können wir natürlich nur bedingt vorausahnen. Andererseits werden die Veränderungen nicht so dramatisch sein, dass wir heute enorm danebenliegen, wenn wir uns überlegen, welche Sorte wir züchten. Denn wir wissen ja schon, dass der deutsche Verbraucher gerne gelbfleischige Kartoffeln hat. Die mögen oval geformte Kartoffeln mit sehr glatter Schale, und da geht im Speisebereich die Reise hin - natürlich verschiedene Reifezeiten, verschiedene Kochtypen, all das muss man berücksichtigen."

Der Züchter muss die Belange der Landwirte, die Erfordernisse der Verarbeitungsindustrie und den Geschmack der Verbraucher beachten. Und, soweit möglich, am besten auch vorhersehen. Pommes-Produzenten wollen besonders lange, Chips-Hersteller hingegen runde Knollen mit viel Stärke und wenig Zucker. Sonst verbrennt die Knabberei zu schnell.

Die Pflanzen werden im Labor vermehrt und die Zuchtstämme auf unzählige Kriterien akribisch untersucht: Knollenform und Schalenfarbe, Augentiefe und Nabellage, Chips-Eignung und Fleischfarbe, Stärkegehalt, Rissigkeit und Resistenzen und viele andere Merkmale werden immer wieder an verschiedenen Standorten geprüft, aufgeschrieben und ausgewertet. Für R 1196 ein wichtiger Tag - die sogenannte Sämlingsramsche.

"Das ist die 1196, zwei Reihen: Die 1196 - ja, ich bin noch nicht so weit - also, es ist die gleiche Mutter. Vom Anbau ist es so, dass wir das in Familien anbauen: Alle einzelnen Stauden sind Geschwister - also, alles genetisch verwandt - und wir suchen jetzt hier die besten Stauden aus."

Auf dem Acker wird geerntet. Der Zuchtleiter mit dem Zuchtbuch in der Hand kontrolliert sorgfältig, was die Maschine an die Oberfläche bringt. Fein säuberlich trägt er neben der Feldnummer und der Kreuzungskombinationsnummer ein, ob und wie das, was er sieht, den Vorstellungen entspricht, die die Biologen bei der Kreuzung hatten. R 1196 schneidet nicht besonders gut ab.

"Ein sehr gravierender Selektionsschritt, weil Sie sehen: Wir haben 50.000 Pflanzen im Feld, und im nächsten Jahr pflanzen wir dann aber nur 4500 A-Stämme. Das heißt, wir nehmen weniger als zehn Prozent mit, das ist hier ein ganz wichtiger Selektionsschritt hier."

Zehn Jahre dauert es, bis eine Sorte - bestenfalls, wenn das Bundessortenamt es will - auf den Markt kommt. Zwei Millionen Euro hat dem Züchter bis dahin die Entwicklung gekostet. Nach der Ernte warten andere Herausforderungen: In Zeiten von Fast-Food, Mikrowelle und Single-Haushalten sind Pasta, Pizza und Reis ernstzunehmende Mitbewerber um den Platz auf dem Teller.

Die Monopolstellung der schälbedürftigen Sättigungsbeilage ist vorbei. Noch vor 100 Jahren verzehrte jeder Deutsche statistisch gesehen ein Kilogramm Kartoffeln pro Tag. Heute sind es nur noch magere 200 Gramm. Dabei hat die Kartoffel entscheidende Vorteile. Im Vergleich zu Reis und Nudeln ist die Kartoffel als Vitamin-C-Spender unschlagbar.

"Ich finde es eigentlich relativ frevelhaft, wenn man eine Kartoffel züchten möchte, die möglichst wenig Energie hat, also eine Low-Carb-Kartoffel. Ich meine, Kulturpflanzen sind doch dafür da, satt zu machen. Und die Menschen müssen sich im Grunde genommen an ihre eigene Nase fassen und sagen: Wie ist denn mein Ernährungsverhalten? Ich kann doch jetzt nicht sagen: Leute, züchtet mir eine Low-Carb-Kartoffel, nur weil ich fressen will, das ist doch Unsinn."

Knapp 500 Meter neben der Norika, ein altes niedriges Gebäude, das auch schon bessere Zeiten gesehen hat. Noch eine Saison, dann wird es durch Wohncontainer ersetzt.
An der verwitterten Tür hängt ein unscheinbares Schild: "Genbank Groß Lüsewitz". Kleingärtner und Biobauern klopfen an die Tür der Genbank. Immer öfter tüten Mitarbeiter um Ulrike Berends Saatknollen für Kleingärtner und Hobby-Landwirte ein.

"Der Zuspruch wird immer größer, weil das eben nicht in der Luft schwirrt. Alte Sorten sind besser und schmecken besser. Oder Sie wollen es dann verschenken. Der Großvater hat achtzigsten Geburtstag und hat immer eine Sorte angebaut, das haben wir schon."

Denn die Kartoffel ist zu loben. Auch wenn sie hierzulande gar zu oft noch als sogenannte Sättigungsbeilage auf den Teller geklatscht und mit zweifelhaften Soßen vermatscht wird, ist sie im Grunde doch ein faszinierendes Früchtchen, das über Stärke und - je nach Sorte - delikaten Geschmack zugleich verfügen kann. Schon deshalb verdient sie eigentlich bessere Behandlung. Außerdem ist sie gesund und nahrhaft. Die UNO hat 2008 sogar zum "Jahr der Kartoffel" erklärt.

In den südamerikanischen Anden ist der Nährwert des Nachtschattengewächses freilich seit langem bekannt. Vor fast 2000 Jahren schon bauten die Indianer dort Kartoffeln als Hauptnahrungsmittel an und züchteten zahlreiche Sorten. Wer die Knolle nach Europa gebracht hat - die spanischen Eroberer, englische Piraten oder gar Sir Walter Raleigh - das weiß man nicht genau. Jedenfalls wird sie diesseits des Atlantiks erst seit etwa 450 Jahren kultiviert. Die Iren aßen sie schon als Hauptspeise, als sie an europäischen Fürstenhöfen noch als Blume galt - beliebt wegen ihres betörenden Duftes und der zarten, pastellfarbenen Blüten.

"Die heißt 'Jahua Papa', und die hat jetzt sehr tiefe Augen und sieht bald aus wie ein Zapfen. Und dann haben wir welche, die sind ganz dunkelschalig und haben ganz helle Augen. Also, auch so wie bei unseren Kultursorten sind einige eben dunkelfeischig und einige hellfleischig."

Die Vielfalt ist unbeschreiblich. Es gibt Sorten mit gelber, roter, blauer Schale und farbigem Feisch. Welche, die weiß blühen oder lila. Runde Knollen oder gebogene Hörnchen. Tatsächlich hat das nicht viel gemein mit der "Supermarktkartoffel". Ein Kartoffelbrei aus lila Kartoffeln sieht aus, als hätte der Lebensmittelchemiker zu tief in den Farbtopf gegriffen. Und doch: Natur pur!

Ein Merkmal aber scheint die Nation zu spalten. Während man im Westen der Bundesrepublik festkochende Sorten bevorzugt, hört man im Osten den Ruf nach mehligen Exemplaren. Ulrike Berends schneidet die Kartoffel auf - tief lila - und glänzend präsentiert sich das Fruchtfleisch.""

Und wenn sie die kochen, bleiben die auch so - und da sagen aber viele, wenn ich das auf dem Teller habe: Ich weiß nicht… Aber es bestellen auch viele. Die wollen nur rotfleischig oder blaufleischig in ihrem Garten haben. Es gibt dann ja auch solche Leute, die sagen: Das ist gut als Krebsvorsorge, weil sie bestimmte Antocyanen enthalten. Die rufen dann an oder schreiben einen Brief: Ich hätte gerne acht Sorten blaufleischige Kartoffeln.""

Die Wiederentdeckung vergessener Kartoffelsorten scheint ein neuer Trend zu sein. In Groß Lüsewitz lagern rund 5500 Kartoffelmuster. Ein kleinerer Teil von knapp 600 Sorten wird im Freiland angebaut. Von 140 Wildkartoffelarten werden die durch Gewächshauskultur gewonnenen Samen gesammelt und in ganz normalen Schraubgläsern aufbewahrt.

"Ja, ich zähle jetzt hier von jedem Jahrgang 50 Samenzellen ab. Und dann wird eine Keimprobe gemacht, und von den 50 wird geguckt, wieviel gekeimt ist. Und dann hat man die Prozentzahl wieviel Keimfähigkeit die eben noch haben."

Sabine Pelikan hat schon vor der Wende in Groß Lüsewitz gearbeitet und widmet sich auch jetzt wieder der Knolle. Der größere Teil der Kartoffeln, erklärt sie, wird im Reagenzglas erhalten. Ein aufwändiges Verfahren, mit dem Ziel, die Vielfalt für die Züchtung und für Nachfahren zu bewahren.

An der Zukunft der Knolle wird knapp einen Kilometer weiter geforscht. Genetisch veränderte Kartoffeln. Schon lange wird die Stärke in der Textil- und Papierindustrie geschätzt und sogar zur Herstellung von Medikamenten und Klebstoffen verwendet. Ob als Einkaufstüte, Lebensmittelverpackung, als Spielzeug oder - zukünftig - als Erdölersatz. Die Kartoffel ist mehr nachwachsender Rohstoff als Lebensmittel. Und Holger Junghans hat schon wieder eine andere Favoritin. Heidi.

"Heidi ist lecker. Heidi ist zum Anbeißen - auf jeden Fall, ohne wenn und aber! Ein hoher Ertrag, sehr geringe Kochdunkelung, sehr geringe Rohverfärbung, oval bis langoval, glattschalige Sorte, gelbfleischig, was ganz feines, schlank. (Lacht.) Schlanke Sorte!"