Alter

"Mit 80 lerne ich noch ein Instrument"

Noten lesen? Im Veeh-Harfen-Ensemble muss das niemand
Noten lesen? Im Veeh-Harfen-Ensemble muss das niemand © Deutschlandradio / Bettina Straub
Von Leila Knüppel |
Wer ein Instrument spielen möchte, der sollte möglichst mit fünf, sechs Jahren damit beginnen, heißt es. "Absolut falsch", sagt Sibylle Hoedt-Schmidt. In ihrem Veeh-Harfen-Ensemble ist kein Mitglied unter 70 – und alle haben erst vor Kurzem begonnen, ein Instrument zu lernen.
"Komm durch, Josefa."
"Bist du erkältet?"
"Ja, wie geht's?"
Mit Halstüchlein und Handtasche, die weißen Haare frisch frisiert kommen die Bandmitglieder zur Probe: Agnes Hoss, 88 Jahre, Josefa Kucken, Käthe Hildebrandt, beide 79 und Lydia Erdmann – mit 70 Jahren die mit Abstand Jüngste. Ein Musikinstrument hatten die vier Frauen bis vor wenigen Jahren noch nicht in den Händen. Jetzt haben Lydia Erdmann und ihre Mitspielerinnen bereits die ersten Auftritte mit dem Veeh-Harfen-Ensemble Bornheim hinter sich.
Erdmann: "Das ist wirklich für jemanden, der total unerfahren ist. Auch wirklich unmusikalisch. Man braucht keine Noten, man muss es einfach probieren. Das ist wirklich ganz fantastisch."
Hildebrandt: "Das ist wunderbar für das Gehör, es ist wunderbar für unsere Seelen, und es tut unseren Händen gut, die Beweglichkeit."
Hoss: "Soll ich helfen?"
Sibylle Hoedt-Schmidt: "Geht schon, geht schon."
Gespräche über Enkeln, Ur-Enkeln und Herzprobleme
Das Wohnzimmer ist zum Musikraum umfunktioniert, bei Lehrerin Sibylle Hoedt-Schmidt wird es langsam eng. Stühle werden gerückt, das Neuste von Enkeln, Ur-Enkeln, Erkältungen und Herzrhythmusstörungen berichtet. Lehrerin Hoedt-Schmidt packt die Veeh-Harfen aus.
Hoedt-Schmidt: "Ja, dann möchte ich alle ganz herzlich zum Ensemblespiel begrüßen. Ich habe mir ausgedacht, dass wir erst einmal eine kleine Übung machen zum Einspielen."
Die Instrumente sehen ganz und gar nicht wie eine klassische Harfe aus, sondern gleichen eher einer Zither.
Ein Instrument, dass für ein behindertes Kind entwickelt wurde
Sibylle Hoedt-Schmidt: "Das ist von Hermann Veeh in den 80er-Jahren entwickelt worden. Er hat das Instrument für seinen Sohn entwickelt, der ein Downsyndrom hat. Und er hat überlegt, was kann er machen, damit sein Sohn mehr musikalische Aktivitäten ausüben kann. Da hat er das Instrument ausgehend von der Akkordzither entwickelt."
Damit sich das etwa 60 Zentimeter große Saiteninstrument einfacher spielen lässt, wurden die Abstände der einzelnen Saiten zueinander vergrößert. Nun lassen sie sich ohne große Probleme mit dem Zeigefinger zupfen.
Hoedt-Schmidt ist Musikgeragogin. Sie beschäftigt sich mit musikalischer Bildung im Alter, gibt Musikunterricht im Altersheim und Seniorenklubs – selbst Demenzkranke hat sie schon zum Musizieren gebracht.
Musizierschablonen statt Noten
Hoedt-Schmidt: "Bei älteren Menschen ist es eigentlich immer grundsätzlich so, dass sie sagen, das können wir nicht mehr, das schaffen wir nicht mehr. Und man muss sich dann ganz langsam rantasten."
Lehrerin Hoedt-Schmidt verteilt die Noten: kein unübersichtliches Gewirr voller Linien und Punkten und anderer Zeichen, sondern große Din-A3-Bögen.
Hoedt-Schmidt: "Das sind unsere Noten oder sogenannte Musizierschablonen, die zwischen die Saiten und den Resonanzkörper geschoben werden. Und dann kann man nach Symbolen die Noten abspielen."
Eine Linie auf dem Blatt führt den Spieler von Saite zu Saite. Verschiedene Punkte zeigen an, wie lange der jeweilige Ton erklingen soll.
Erdmann: "Das ist ganz toll, weil ich keine Noten kann. (lacht) So einfach. Und das kann jeder spielen, egal, was für ein Alter, und dann ist das doch toll, oder? Also, wir brauchen keine Noten, wir spielen nur diese Punkte. Und jetzt langsam macht das auch schon Spaß. Die Frau Doktor Schmidt hat so viel Geduld mit uns."
Nachholen, wofür früher keine Zeit oder kein Geld war
Kucken: "Ja, das war damals noch nicht so mit den Instrumenten, als wir jung und klein waren. Wer hatte da ein Instrument in der Wohnung?! Das war selten."
Hildebrandt: "Sie müssen eins berücksichtigen: Wir sind Kriegskinder. Wir sind von Essen nach Bayern gekommen mit praktisch nichts am Körper. Wir waren ausgebombt und hatten nichts mehr. Und es gab einfach nichts."
Wofür die Frauen früher keine Zeit oder kein Geld hatten – das holen sie jetzt nach.
Hoedt-Schmidt: "Ja, das hat ja prima geklappt, sehr schön." (Alle lachen)
Seit etwa fünf Jahren gibt es das Veeh-Harfen-Ensemble. In der Probenpause, nachdem die Gruppe ein Stück von Béla Bartók und einen Kontratanz geübt hat, erinnert sich Agnes Hoss, wie alles anfing. Sie ist mit 88 Jahren die Älteste in der Gruppe und von Anfang an mit dabei.
"Die Kinder, die haben gedacht, das wird so ein Klimpern sein"
"Ja, erst wollte ich gar nicht mitspielen. Frau Gladbi sagte, Frau Hoedt kommt, machen Sie doch mit. Nein, brauch ich nicht haben. Aber Frau Hoss, spielen Sie doch mal mit. Und jetzt spiele ich..."
Erdmann: "Mit Freude und Leidenschaft."
Hoss: "Ja, aber wirklich."
Hoss: "Die Kinder, ne, ne, die haben gedacht, das wird so ein Klimpern sein. Ja, ja, an und für sich konnten die das nicht verstehen, dass die Oma noch was kann. Ne, ist doch so im Allgemeinen, die Omas, so (lacht), ob die noch was können, ne?! Aber man macht sich ja Mühe, man gibt sich ja Mühe. Jetzt hören Sie gut zu, jetzt kommt mein Lieblingsstück."
Weiter geht es mit der Probe: Lehrerin Sibylle Hoedt-Schmidt hat ein Mozart-Stück und Beethovens "Ode an die Freude" rausgesucht.
Erste Auftritte haben sie schon hinter sich gebracht
Hoedt-Schmidt: "Was immer sehr günstig ist, dass man am Anfang Lieder und Melodien wählt, die die älteren Menschen kennen, weil über das Erkennen der Melodie können sie viel schneller zum Instrumentalspiel kommen, als wenn es ein unbekanntes Stück ist."
Mittlerweile haben die Veeh-Harfe-Frauen ein umfangreiches Repertoire – und die ersten Auftritte auf einer Konzertbühne haben sie auch schon hinter sich gebracht.
Erdmann: "Ja, da waren wir sehr aufgeregt, nicht?" (alle lachen)
Hoss: "Also, ich war so aufgeregt, als wir uns verbeugt haben. Hab ich mich zu tief verbeugt, und wie ich hoch kam, war mir es richtig schwindelig." (alle lachen)