Glaube als Ressource
Immer mehr Menschen erwarten Gutes vom Glauben für ihre psychische Gesundheit – spirituelle Fürsorge und die Kraft des Betens werden neu diskutiert. Eine kritische Würdigung dieser Phänomene versuchte eine Tagung in Hannover.
Mens sana in corpore sano. Die Erkenntnis, dass ein gesunder Geist nur in einem gesunden Körper wohnt und beides einander bedingt, wäre in unseren Tagen nicht mehr der Rede wert, würden nicht so viele Menschen das Gegenteil leben und an ihren Sorgen und Entbehrungen leiden und verzweifeln. Letzte Hoffnung für viele ist da der Glaube. Mehr und mehr spirituelle und religiöse Heilungs- und Therapieangebote versprechen, Geist und Körper zu reinigen.
"Ein Hinweis darauf sind die neu entstandenen Healing Rooms im Rahmen der christlich-charismatischen Gemeinden."
Allerdings, sagt die Bremer Religionswissenschaftlerin Gritt Klinkhammer, habe ihr Fach erst in den vergangenen 10 bis 20 Jahren diese, wie sie sagt, sinnlichen Seiten des Glaubens entdeckt. Religionsästhetik nennt sich das noch junge Forschungsgebiet in der deutschen Religionswissenschaft.
"Diese Thesen hin zur stärkeren Subjektivierung und Verkörperlichung von Religion, dem wollten wir auf die Spur gehen."
In Hannover hat die Bremer Professorin, die dem Institut für Religionswissenschaften vorsteht, eine Tagung organisiert. Das Thema: "Somatisierung des Religiösen“. Der Standpunkt, wonach dem Glauben heilende Wirkung zugesprochen wird, ist allen Religionen eigen. Die Bremer Doktorandin Eva Tolksdorf forscht über Healing Rooms, zu deutsch Heilungsräume.
"Genau darum geht es, über göttliche Führung schlanker zu werden, einen trainierten Körper zu haben, das man als gesund gilt und eine gute Beziehung zu Gott hat."
Ich bete mich schlank. Homosexualität, als hedonistische, gottlose Lebensführung, ist heilbar. Krankheit als Störung in der Beziehung zu Gott.
"Ja genau, das würden die charismatischen Christen so bejahen."
Erster Heilungsraum in Deutschland 2003 eröffnet
Die charismatische Erneuerung, auch Pfingstbewegung genannt, ist eine konfessionsübergreifende christliche Glaubensrichtung, die den direkten Kontakt zu Jesus Christus über das Gebet sucht und weniger über Gottesdienste mit einer von der Kirchenhierarchie festgelegten Liturgie. Die Bibel ist für sie ohne Irrtum, liberale Theologien lehnen sie ab, ihr Leben richten sie strikt nach den Vorgaben des Evangeliums aus, weswegen sie sich auch evangelikale Christen nennen. Die ersten Healing Rooms, erläutert Eva Tolksdorf, entstanden vor 100 Jahren in den USA, wurden bald darauf aber wieder geschlossen. Wiederentdeckt wurde die Idee 1999 in Kalifornien.
"In Deutschland wurde der erste Heilungsraum 2003 eröffnet, und bis heute wurden über 20 Healing Rooms registriert deutschlandweit. Die Struktur ist wie eine Art Arztpraxis mit Warteraum, mit Healing Room, die an Behandlungszimmer erinnern, an einen Seminarraum. Dort kann man als Dienstleistung sein Heilungsgebet abholen, das ist nicht wie in einer Gemeinde, wo man Gottesdienste feiert, sondern stärker auf individuelle Bedürfnisse konzentriertes Angebot. Das ist eine neue Vergemeinschaftsform, die bisher so von der Religionswissenschaft gar nicht wahrgenommen worden ist, dass sich Angebote aus den Gemeinden sozusagen auslagern, um breiter wahrgenommen zu werden."
Das ist auch in der Freien Christengemeinde Bremen der Fall. Die dortigen Heilungsräume leitete Marika Reincke ehrenamtlich. Vor zwei Jahren machte sie sich selbstständig. Ihren Ort der Begegnung nennt sie das Wunderhaus Gottes.
"Der Namen ist Programm. Ja, genau!
Menschen kommen ja mit Depressionen, mit Panik, mit Suizidgedanken, mit allem Möglichen. Und dann nehmen wir uns eine Zeit am Ende, wo ich sage, wenn Sie möchten, dann beten wir jetzt zusammen.
Es kommen Christen und Nicht-Christen. Es kommen auch Menschen, die Gott noch gar nicht kennen. Ich hoffe, das ändert sich, weil der Auftrag für Christen ist, dass Menschen, die Gott noch nicht kennen, ihn erkennen. Das sehe ich auch als unseren Auftrag.
Ich bete für eine Frau, die krebskrank ist, die war schon zweimal so weit, dass man sagte, jetzt stirbt sie. Sie lebt, aber sie ist noch nicht zu 100 Prozent geheilt. Das ist bei Gott nicht anders, als wenn ich zum Arzt gehe. Man kann immer wieder kommen und je nachdem wie schwerwiegend Dinge sind, muss man längere Zeit beten. Es kann aber auch sein, dass in einem Moment die Krankheit weg ist.
Nehmen wir den einfachen Fall der Migräne. Ich bete, dass die Schmerzen verschwinden und sie verschwinden und kommen nie wieder. Menschen haben Schlafstörungen, ich bete, dass die Schlafstörungen verschwinden, und sie kommen wieder und sagen, ich habe noch nie so gut geschlafen wie jetzt."
Psychosomatische Erkrankungen wie Depressionen, chronische Kopfschmerzen, Schlafstörungen überkommen Menschen natürlich nicht von heute auf Morgen. Die Symptome haben meist eine lange Vorgeschichte, die nicht selten bis in die Kindheit zurückreicht. Dem einzelnen sind die Ursachen womöglich gar nicht mehr erinnerbar, aber sie leiden bis ins Erwachsenenalter etwa an mangelndem Selbstwertgefühl, Schüchternheit, Panikattacken.
Beschwerden kehren in der Regel zurück - oder verlagern sich
Gerade die persönliche Wärme, die Empathie, das Einfühlungsvermögen, die Menschen wie Marika Reincke ausstrahlen, können bei denen, die in die Heilungsräume kommen und bei ihr Rat suchen, einiges in Bewegung setzen. Ohne aber die Wurzeln des Übels zu erkennen, zu verstehen und zu verändern, werden die Depressionen, die Migräne, die Schlafstörungen früher oder später in der Regel zurückkehren. Oder die Symptomatik verlagert sich, neue Erkrankungen treten anstelle der alten Leiden.
Über die Nachhaltigkeit der Erfolge religiöser und spiritueller Therapieangebote wurde auf der Tagung "Somatisierung des Religiösen“ nicht gesprochen. Diese Frage, betont Tagungsorganisatorin Gritt Klinkhammer, kann und will die Religionswissenschaft nicht beantworten.
"Nur was wir sehen, ist, dass die Menschen, die das nachfragen, durchaus zufrieden sind und auch nachhaltig zufrieden sind in dem Sinne, dass die Angebote wahrgenommen werden, … was auch damit zu erklären ist, dass jeder aus diesen Szenen sich den Heiler sucht, den er braucht."
Neben christlich-evangelikalen Hilfsangeboten wurden auf der Tagung buddhistische und islamische Körpertechniken vorgestellt. Gritt Klinkhammer selbst sprach über Sufi-Gruppen in Deutschland.
"Die Techniken zu spirituellen Erfahrungen, die angeboten werden, sind vor allem das wöchentliche Sikr, das sogenannte Gott-Gedenken, in dem in einer Gruppe mit dem Sheikh in Ritualen, wo Gottesnamen rezitiert werden, immer wieder, immer wieder in einer rhythmischen, manchmal auch musikalischen Art und Weise, dazu auch Bewegung bis hin zu Tanz, der Drehtanz ist bekannt, bis eine Art ekstatischer oder tranceartigen Zustand erreicht wird, der die Verbindung zum Sheikh und dann eben Mohammed und letztendlich möglicherweise auch zu Gott schaffen soll. Das ist ein Ritual, das höchst beliebt ist unter Sufis und besucht wird regelmäßig."
Sufische Orden sind in der Türkei verboten. Der türkische Staat kontrolliert die Islamauslegung, der Sufismus wird als Abweichung vom rechten Glauben betrachtet. Analog der charismatischen Christen, die sich auf die Bibeltreue berufen, sind sich auch die sufischen Skeikhs sicher, ihren Glauben gottgefälliger, da streng nach den Buchstaben des Korans zu leben. Das provoziert natürlich die staatlichen Religionswächter.
Zugleich ist der stärker individuell ausgerichtete Glaube abseits eingefahrener Institutionen auch innerhalb des Islams im Kommen. Mag sein, so vermutet Gritt Klinkhammer, dass aus diesem Grund in den letzten Jahren innerhalb der islamisch-sunnitischen Verbände in Deutschland das Interesse für sufische Heil- und Therapieangebote wächst.
"Und im Sufismus ist es schon so, dass die größeren Gruppen, die hier sichtbar sind, dass das vor allen Dingen von Deutschen geleitete Gruppen sind oder auch deutsche Konvertiten einen Großteil der Gruppen ausmachen."
Konvertiten setzen sich im Allgemeinen bewusster und intensiver mit den Glaubenssätzen und Theorien ihrer neuen religiösen Heimat auseinander. Nach Ansicht von Gritt Klinkhammer muss dies nicht bedeutet, dass Konvertiten zwangsläufig ihren Glauben extremer oder radikaler leben, wohl aber, dass sie sich doch eher den fundamentalen Randerscheinungen zugehörig fühlen.
Ähnliches ist ja auch bei den charismatischen Christen und ihren Heilungsräumen und deren Stellung in den evangelischen Landeskirchen und der katholischen Kirche zu beobachten. Anders verhält es sich hingegen im Buddhismus. Hier, erläutert Jens Schlieter, Religionswissenschaftler aus Bern, gehe es in erster Linie um selbstverantwortliche Lebensführung, weniger um einen Gott, der alles regelt.
"Diese Schicksalshaftigkeit, dieses Ausgeliefertsein an ein höhere Macht wird ersetzt durch eine Selbstkultivierungstechnik, die dem einzelnen Praktizierenden die Hoheit gibt, sich zu verändern, und das ist natürlich etwas, was an unserer gesamtgesellschaftlichen Diskurs von Selbstverwirklichung und Lebenswege in der Arbeitswelt, die eben sehr stark auf eigenes Bemühen setzen, da kann das alles sehr gut anknüpfen und ist vielleicht eine sehr zeitgemäße Form der Praxis von Spiritualität."
Stabilere Erfolge bei länger dauernden Therapien
Jens Schlieter erläutert es am Beispiel der buddhistischen Achtsamkeits-Meditation.
"Interessant sind eben kognitionswissenschaftliche und psychologische Erkenntnisse, dass die Körperhaltung doch einen großen Einfluss hat auf das Selbstempfinden und dass also durch ein 'positive imaging', durch ein positives Verständnis der Körperhaltung, eine positive Rückkopplung auch das Selbstgefühl beeinflusst werden kann.
Es gibt zum Beispiel auch eine Geh-Meditation, in der man lernt, langsam und aufrecht zu gehen, dann hat das auch unmittelbar Einfluss darauf, wie diejenigen Vertrauen zu sich selbst gewinnen, um ihre Probleme lösen zu können. Wie stark diese Effekte sind, steht vielleicht auf einem anderen Blatt. Aber sie sind sicherlich beschreibbar, sie sind da."
Wie schwer es ist, sich zu verändern, weiß jeder, der es versucht hat. Behandlungserfolge, das haben Studien aus den USA belegt, sind bei länger dauernden Therapien in der Regel stabiler. Religiöse und spirituelle Heilungsangebote zählen nicht dazu, weshalb auch die buddhistische Achtsamkeitstherapie, die bei postoperativer Schmerzbehandlung oder bei Aufmerksamkeitsdefiziten bei Kindern eingesetzt wird, nicht im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen aufgeführt ist.
Den Praxistest, ob der Glaube an sich selbst nachhaltiger sei als der Glaube an eine wie auch immer geartete transzendentale Instanz, macht Peter Kaiser tagtäglich. Er ist Chefarzt in der psychiatrischen Klinik Winnenden und zugleich Religionsethnologe an der Universität Bremen.
"Da ist die Frage: Ist es nachhaltig, wenn ich an mich selber glaube? Und wenn der Glaube an mich selbst verloren geht, dann bin ich allein da, dann brauche ich Leute, die an mich glauben. Wenn die auch nicht an mich glauben, weil ich der einzige war, der an mich geglaubt hat, ist nichts mehr. … Diese Einsamkeit lässt sich teilweise durch einen Glauben ein bisschen wieder reduzieren.
Ich denke, ein Glaube, der von anderen mitgetragen wird, kann eine Ressource sein. Aber, da würde ich vorsichtig sein, es gibt bei uns religiöse Konnotationen, wo ich denke, da wird eine Art von Glauben propagiert wird, der bei psychischen Krankheiten nicht unbedingt sehr hilfreich sein muss. Beispielsweise wenn der Schuldgedanke im Vordergrund steht, also Krankheit als Strafe."
Neben der buddhistischen Achtsamkeitstechnik wurden auf der Tagung "Somatisierung des Religiösen“ weitere spirituelle und esoterische Heilungs- und Therapieangebote vorgestellt: Menschen, die Hand auflegen, Warzen besprechen, mit magischen Sprüchen die Dämonen vertreiben. Auch Yoga und "New-Age“ zählen zur Angebotspalette.
Bei aller Vorsicht, die bei generalisierenden Aussagen geboten ist, lässt sich sagen, dass mehr Frauen als Männer die religiösen und spirituellen Heilungs- und Therapieangebote annehmen; sie sind mittleren Alters, mit höherer Bildung, wirtschaftlich gut situiert und frei von existentiellen Sorgen. Gerade ein Wechsel zu spirituellen Angeboten aus anderen Glaubensrichtungen ist dabei immer wieder zu beobachten. Verschiedene Angebote auf dem Markt, so zieht Tagungsorganisatorin Gritt Klinkhammer ein Resümee, werden individuell ausgelotet.
"Und auch dieses Ausprobieren wird nicht als unbedingt schlecht angesehen, sondern hat auch etwas mit der Philosophie zu tun, ich entwickele mich. Man versucht verschiedene körperliche Techniken, um Besserung für sich zu finden. Und die erste gibt vielleicht etwas Besserung, aber wenn man dann ein halbes Jahr das gemacht hat, merkt man, es könnte noch besser werden und vielleicht versuche ich noch was anderes."