Biedermänner, besorgte Bürger, Brandstifter
Fast war die "Alternative für Deutschland" schon von der Bildfläche verschwunden. Dann kamen eine Million Flüchtlinge und seitdem spielt die Ein-Themen-Partei AfD wieder mit im Konzert der veröffentlichten politischen Meinung.
Niedermayer: "Die AfD ist einfach kein monolithischer Block."
AfD-Mitglied: "Wir sind eine Mitte-Rechts-Partei, eine liberale Partei, eine konservative Partei und eine soziale Partei."
Anderes AfD-Mitglied: "Wir sind Mitte der Gesellschaft, wir können Krawatten tragen und waschen uns morgens."
Patzelt: "Man muss schon begreifen, dass AfD und Pegida Fleisch vom gleichen Fleisch, Blut vom gleichen Blut sind."
Gauland: "Wir sind das Produkt des Totalversagens der anderen."
Potsdam, ein bitterkalter Abend im Januar. Es ist drei Wochen her, dass es in der Silvesternacht auf der Kölner Domplatte zu massenhaften sexuellen Übergriffen gegen Frauen gekommen ist. Unter den Tätern: Asylbewerber aus Nordafrika.
Vor dem Landtagsgebäude in Potsdam haben sich jetzt etwa 100 Anhänger der ‚Alternative für Deutschland’, kurz AfD, zu einer ‚Anti-Gewalt-Kundgebung für die Rechte der Frauen’ versammelt.
Rednerin: "Mich hat es ganz furchtbar heute betroffen, was in den Medien schon wieder an Bösem über unsere Demo kam. Ich war so betroffen und erstmal auch so verängstigt, dass ich gesagt habe: nein, meine Kinder lasse ich zuhause."
Die Rednerin tut sich schwer. Die meisten der Zuhörer sind Männer. Erst wenige Tage zuvor hat der Landesvorsitzende der AfD, Alexander Gauland, mit markigen Worten die Linie vorgegeben: die ‚bunte Republik’ Deutschland sei ein Tollhaus, ein rechtsfreier Raum für muslimisch geprägte, frauenfeindliche Islamisten.
Die Gegendemonstranten bewerfen die AfD mit Tampons. Das sei einzig und allein Schuld der Kanzlerin. Die Vorfälle in Köln seien nur der Anfang, immer noch kämen täglich tausende Asylsuchende über die deutsche Grenze. Dieser Zustand müsse beendet werden. Sofort.
Rednerin: "Denn, Frau Merkel, seit wann ist denn der Tag der Offenen Tür über Monate und Jahre hinweg?"
In gehörigem Sicherheitsabstand beobachten knapp 300 Gegendemonstranten das Geschehen. Nach wenigen Minuten bewerfen sie die AfD-Sympathisanten. Mit Tampons. Der stellvertretende AfD-Fraktionsvorsitzende im Brandenburger Landtag, Andreas Kalbitz, hat auf einen Moment wie diesen gewartet.
Kalbitz: "… auf der anderen Seite, wo Sie diese ganze hirnlose Bande rotlackierter Links-Faschisten sehen (Jubel), dass da junge Frauen indirekt für sexuelle Gewalt demonstrieren. Es ist absurd geworden, und es ist längst fällig, dass in diesem Land manche Dinge politisch wieder vom Kopf auf die Füße gestellt werden."
Vielleicht sorgt das riesige Polizeiaufgebot für Ruhe, vielleicht ist es auch einfach zu kalt. An diesem Abend gibt es jedenfalls keine weiteren Auseinandersetzungen zwischen AfD-Gegnern und Anhängern.
Kalbitz: "Und wir werden immer mehr, wir wissen, dass hinter jedem, der hier ist, stehen 5, 10 andere, die sich eben nicht trauen, die sich noch abschrecken lassen, aber das wird nicht mehr lange so sein, ich bin da guter Dinge, das ist nur möglich durch unseren Einsatz, durch euern Einsatz und auch den Einsatz unserer Frauen, vielen Dank."
Im Sommer 2015 war die AfD eigentlich schon weg vom Fenster. Dann kamen immer mehr Flüchtlinge nach Deutschland. Seitdem sind viele Bürger besorgt, wie der Zustrom der Menschen zu bewältigen sei. Und die AfD ist im Umfragehoch. Bundesweit liegt sie derzeit bei 10 bis 12 Prozent. Doch wer oder was ist die AfD? Eine Gruppe rechtspopulistischer Schreihälse oder doch schon eine neue Volkspartei? Wie viel Biedermann, wie viel Brandstifter steckt in der ‚Alternative für Deutschland’?
"Weshalb sollte Petry nicht im Amt sein?"
Im Potsdamer Landtag residiert die graue Eminenz der Partei: Alexander Gauland, 75, Fraktionsvorsitzender der AfD in Brandenburg, zudem stellvertretender Bundesvorstandssprecher der Partei. Zur Begrüßung gibt es einen müden Händedruck. Ob Frauke Petry noch im Amt sei. Schnell ist er hellwach.
Gauland: "Ja natürlich. Weshalb sollte sie nicht im Amt sein? Völlig klar."
Drei Tage zuvor hatte die Bundesvorsitzende gefordert, zur Not müsse die Polizei künftig auch von der Schusswaffe Gebrauch machen, um Flüchtlinge an der Grenze zu stoppen. Und hatte damit ein mediales Trommelfeuer entfacht. Wenige Stunden vor dem Interviewtermin mit Alexander Gauland beriet sich der Parteivorstand dazu in einer Telefonkonferenz. Und auch dort bekam sie ihr Fett weg. Einer aus dem Vorstand beschwerte sich bei ihr sehr drastisch mit den Worten, Zitat: "Was du zurzeit machst, ist einfach alles scheiße".
"Also Frau Petry liegt nicht völlig falsch, wenn sie das Thema angesprochen hat. Und sie hat den Versuch gemacht, ich will zugeben, dass das kommunikativ nicht voll gelungen ist, nur auf die Rechtslage hinzuweisen. Es ist aber auch richtig, dass ein gezielter Schuss auf Menschen, das hat gar nichts mit Flüchtlingen zu tun, weder unserer Politik entspricht noch der Rechtslage. Und das haben wir danach völlig klar gestellt, nachdem es nicht mehr so klar schien. Noch mal ganz deutlich: Das alles muss mit Methoden bekämpft werden, die unterhalb des gezielten Schusses auf Menschen sind."
Dabei war es Alexander Gauland selbst, der drei Monate zuvor, im November 2015, den AfD-Europaabgeordneten Marcus Pretzell unterstützte, als dieser behauptete, die Verteidigung der deutschen Grenze mit Waffengewalt als Ultima ratio sei eine Selbstverständlichkeit.
Gauland: "Das war eine andere Formulierung. Herr Pretzell hatte in der Tat die Frage gestellt, ob man Grenzen unter Umständen auch mit Gewalt schützen muss. Und da habe ich gesagt: ‚Ich sehe das genauso’. Diesmal ging es um gezielte Schüsse auf Menschen, das sind ja nun zwei völlig verschiedene Paar Schuhe."
"Zwei völlig verschiedene Paar Schuhe"? Oder einfach nur ein Paar Schuhe mit verschiedenfarbigen Schnürsenkeln?
Tabubruch und Provokationen als Strategie
Auf alle Fälle ist eine derartige Debatte eine schwierige Gratwanderung, meint der Berliner Parteienforscher Oskar Niedermayer. Die AfD steckt mitten in drei Landtagswahlkämpfen.
Niedermayer: "Es ist ja durchaus so, dass der Tabubruch und gezielte Provokationen seit einiger Zeit zur Strategie der AfD gehören, das praktiziert Gauland zum Beispiel sehr oft oder auch andere, ja, es ist schon so, dass zu dieser Tabu- und Provokationsstrategie natürlich auch gehört, Grenzen auszutesten, das ist ganz klar, aber ich denke, dass wenn bestimmte Grenzen überschritten werden, dass es dann eben auch für die Partei durchaus schädlich sein kann, wenn sich die öffentliche Meinung dreht, und das war so ne Grenzüberschreitung."
Gauland: "Es kann schon sein, dass es uns im Südwesten einige Sympathien gekostet hat. Ich will das gar nicht ausschließen, und ich bin selbst von Besuchern von Veranstaltungen da unten am Bodensee angesprochen worden: `gelle, Herr Gauland, Sie lasse net auf Kinder schieße’. Aber noch mal: Frauke Petry hat etwas Gutes gewollt, sie hat versucht, die Rechtslage darzustellen und ist dabei, man kann sagen: ausgerutscht. Das kann jedem von uns passieren."
Wie zum Beispiel auch der stellvertretenden Parteisprecherin Beatrix von Storch. Auf Facebook hatte sie die Frage, ob man an der Grenze auch auf Frauen und Kinder schießen dürfe, mit ‚ja’ beantwortet. Einen shitstorm später stellte sie klar: So habe sie das nicht gewollt, sie sei mit der Computermaus abgerutscht. Richtig sei: auf Frauen ja, auf Kinder nein.
Viele in der AfD störten sich auch weniger an den Botschaften selbst als vielmehr an Tonlage und Timing. Je missverständlicher sich die Führungsspitze äußert, je mehr der politische Gegner Gelegenheit bekommt, die AfD in die rechtspopulistische Ecke zu drängen, desto mehr bröckelt ihre bürgerlich-konservative Fassade. Genau die ist aber wichtig für die Partei. Es gibt nicht wenige Funktionäre in der AfD, gerade im Westen der Republik, die den Wählern die gute alte CDU der Ära Kohl zurückbringen wollen.
"Wenn man die soziale Verortung der Wähler anschaut, dann zeigen die neuesten Daten, dass die Partei überdurchschnittlich von Männern gewählt wird, und überdurchschnittlich von mittleren Altersgruppen, also eben nicht von den ganz Jungen, was früher mal der Fall war, jetzt sind es die mittleren Altersgruppen, und es sind auch die Gruppen mit mittlerer Bildung überdurchschnittlich vertreten. Aber es gibt eben auch Akademiker, Leute mit Hochschulabschluss, das zeigt sich auch in den Berufen, also wir haben einerseits einen Schwerpunkt bei den Arbeitern, jetzt bei den neuesten Daten, und andererseits auch bei den Selbständigen und Freiberuflern."
"Wenn man die soziale Verortung der Wähler anschaut, dann zeigen die neuesten Daten, dass die Partei überdurchschnittlich von Männern gewählt wird, und überdurchschnittlich von mittleren Altersgruppen, also eben nicht von den ganz Jungen, was früher mal der Fall war, jetzt sind es die mittleren Altersgruppen, und es sind auch die Gruppen mit mittlerer Bildung überdurchschnittlich vertreten. Aber es gibt eben auch Akademiker, Leute mit Hochschulabschluss, das zeigt sich auch in den Berufen, also wir haben einerseits einen Schwerpunkt bei den Arbeitern, jetzt bei den neuesten Daten, und andererseits auch bei den Selbständigen und Freiberuflern."
Ein Großteil der potenziellen AfD-Wähler, so Parteienforscher Oskar Niedermayer von der Freien Universität Berlin, eint vor allem eines: ihre Kritik an der Politik der Bundesregierung – egal ob in der Euro- oder in der Flüchtlingskrise.
"Wir können auf jeden Fall sagen, es gibt so eine Art stramm rechten Kern, aber wie groß der ist, wissen wir nicht genau, und dann gibt es eben die so genannten Protestwähler. Leute, die subjektiv begründet wirkliche Sorgen, Probleme haben, die sagen ‚mir bleibt nichts anderes übrig als diese Partei zu wählen, weil andere Parteien eben nicht meine Interessen vertreten’. Dieser Teil der Wählerklientel, der eben eigentlich nicht wirklich inhaltlich bei der AfD ist, sondern sie als Instrument benützt, um den anderen eine Lektion zu erteilen, dieser Teil, der geht auch wieder weg von der Partei."
In eine Lücke rechts von der CDU gestoßen
Der Politikwissenschaftler Werner Patzelt von der Technischen Universität Dresden bezweifelt das. Er glaubt, die AfD ist mehr ist als nur ein Sammelbecken für Frustrierte und Enttäuschte. Längst verfüge sie über eine eigene, große Stammwählerschaft.
Patzelt: "Es hat sich in Deutschland der politische Diskurs im Vergleich zur realen Meinungsverteilung der Bevölkerung nach links verschoben, damit hat zu tun, dass die 68er-Generation die Kommandohöhen der deutschen Diskurslandschaft bezogen hat, unter dem Eindruck des nach links veränderten medialen Diskurses sind die Parteien nach links gerückt oder besser gesagt, ist die CDU dessen überdrüssig geworden, von links immer als rückständig und hinterwäldlerisch angegriffen zu werden, hat also das unternommen, was man den Prozess der Sozialdemokratisierung meint, und folglich ist in dieser Linksverschiebung des öffentlichen Diskurses und auch der CDU am rechten Rand des politischen Spektrums eine Lücke aufgetreten."
Und in diese Lücke ist die ‚Alternative für Deutschland’ gestoßen. Auch die Anhänger der fremdenfeindlichen Pegida-Bewegung wenden sich immer mehr der AfD zu. So das Ergebnis der aktuellen Befragungen zur Pegida-Studie, die am Lehrstuhl von Werner Patzelt entsteht. Danach würden 82,2 Prozent der Pegida-Anhänger AfD wählen.
"Man muss schon begreifen, dass AfD und Pegida Fleisch vom gleichen Fleisch, Blut vom gleichen Blut sind. Zwei Seiten derselben Medaille, zwei miteinander zusammengehörige Erscheinungsformen des deutschen Rechtspopulismus."
In Berlin ist die ‚Alternative für Deutschland’ in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Und das nicht nur im geografischen Sinn. In einem Restaurant in zentraler Lage, ganz in der Nähe vom Bahnhof Friedrichstraße, lädt die Berliner AfD regelmäßig zum Tischgespräch. Jeanette Auricht und Frank-Christian Hansel vom Landesvorstand begrüßen die Gäste.
Auricht: "Wir haben hier zum Kennenlerntreffen eingeladen, weil wirklich sehr viele Leute, immer mehr auch, sich interessieren und das Gefühl haben, sie sitzen zuhause vor dem Fernseher allein mit ihrer Meinung, und in der großen Gemeinschaft wollen wir zeigen: ‚wir sind nicht allein, es sind noch mehr Leute, die wie wir denken und die nicht zufrieden sind".
Hansel: "Weil natürlich der gesellschaftliche Druck: Eurokrise, jetzt der, wir nennen das Flüchtlingsrettungswahn, es gibt immer unterschiedliche Motive, warum die Leute jetzt kommen."
Zehn Männer und drei Frauen sind an diesem Abend gekommen. Akademiker, Angestellte, Freiberufler und Selbständige, aus Ost wie West, mittlere Altersgruppe plus.
Viele Interessiere wegen Ressentiments gegen Flüchtlinge
Es ist eine exklusive Runde. Wer teilnehmen will, nimmt vorher Kontakt mit dem Landesverband auf, erst dann folgt die Einladung. Die AfD will auf diese Art kontrollieren, wer dazu stößt.
"Das ist auch das Dilemma, das sage ich auch einleitend: weil wir von Anfang an in die rechte Ecke geschrieben worden sind, gab es natürlich manche Leute, die geglaubt haben, ‚na ja, das ist die Partei, wo ich jetzt mal rein gehe",
... sagt Frank-Christian Hansel. Nacheinander erzählen die Gäste, warum sie hier sind. Schnell wird klar: Im Vordergrund stehen die Ressentiments gegenüber der aktuellen Flüchtlingspolitik. So berichtet der 45-jährige Ralf, im Osten aufgewachsen, Elektromeister im Angestelltenverhältnis:
"Da kommen Leute in unser Land, die kriegen 'nen Haufen Kohle, ich habe Kollegen, die haben weniger und müssen dafür jeden Tag arbeiten gehen. Und da fragt kein Schwein, Entschuldigung, Baustellenjargon, kein Schwein danach, wie die sich durchs Leben kämpfen müssen und wie sie dann beim Zahnarzt die Krone bezahlen wollen, und wenn ich um die Ecke gucke, Asylbewerberheim sehe, die kriegen 3.000 Euro Begrüßungsgeld, wo ich sage: wofür?"
"Besonders empört mich, das muss ich sagen, wie man mit der AfD umgeht in den Medien, das ist skandalös, wenn ich hier lese von einem Franz-Josef Wagner, der sich immer hier in Artikeln gut tut, der schreibt hier ‚natürlich ist es schwer, mit Menschen zusammen zu sitzen, die Schwachsinn reden, die geistigen Gestank verbreiten’. So ein Vokabular hat nicht mal Karl-Eduard von Schnitzler damals in der DDR, … so ein primitives Vokabular gab es damals nicht gegen den so genannten Klassenfeind."
"Besonders empört mich, das muss ich sagen, wie man mit der AfD umgeht in den Medien, das ist skandalös, wenn ich hier lese von einem Franz-Josef Wagner, der sich immer hier in Artikeln gut tut, der schreibt hier ‚natürlich ist es schwer, mit Menschen zusammen zu sitzen, die Schwachsinn reden, die geistigen Gestank verbreiten’. So ein Vokabular hat nicht mal Karl-Eduard von Schnitzler damals in der DDR, … so ein primitives Vokabular gab es damals nicht gegen den so genannten Klassenfeind."
Meint Gerhard, Rentner aus Mitte. Und Viktor, im Osten aufgewachsen, wohnhaft in Kreuzberg, spricht von der Merkel-Diktatur und davon, dass die Kanzlerin abgelöst gehört.
"Man muss einfach auf den Tisch hauen und sagen, ‚ihr seid keine Elite mehr, ihr seid der letzte Dreck’. Tut mir sehr Leid, dass ich so drastisch werden muss, aber so ist es. 1944 hat sich dieser Goebbels hingestellt und hat gebrüllt, ‚wollt ihr den totalen Krieg’? Wat hamse gemacht? Die meisten haben gebrüllt ‚hurra, hurra, hurra’. Jetzt ist es genau dasselbe: ‚wollt ihr die totale Flutung von Asylbewerbern? ‚Hurra, hurra, hurra’. Das geht nicht. Wir müssen demokratische Verhältnisse wiederherstellen."
Andere in der Runde favorisieren eine Politik der kleinen Schritte: Thilo, ehemaliges SED-Mitglied aus Marzahn, will helfen, die AfD regierungsfähig zu machen. Judith, Lehrerin aus Charlottenburg, interessiert sich für Bildungsthemen. Olli, Informatiker aus Neukölln, politische Vergangenheit bei den Grünen, hätte vor einem Jahr noch gesagt, die AfD ist niemals seine Partei.
Die AfD hat viele Gesichter- ein gültiges Programm hat sie nicht
Und Helmut, Rechtsanwalt aus Zehlendorf, will sich engagieren, weil sonst Dinge kaputt gingen in unserem Land, die nicht mehr reparabel seien. Als letzte meldet sich Martina zu Wort, Mitte 60, aus Spandau, ehemalige Bildregisseurin bei einer Rundfunkanstalt. Sie hat das Gefühl, sie hat in diesem Land den Rücken nicht mehr frei.
Und Helmut, Rechtsanwalt aus Zehlendorf, will sich engagieren, weil sonst Dinge kaputt gingen in unserem Land, die nicht mehr reparabel seien. Als letzte meldet sich Martina zu Wort, Mitte 60, aus Spandau, ehemalige Bildregisseurin bei einer Rundfunkanstalt. Sie hat das Gefühl, sie hat in diesem Land den Rücken nicht mehr frei.
"Ich habe letztens meinen Sohn gefragt: ‚Jimmy, hier rollt was auf uns zu, informier dich doch mal, wie es ist in Kanada’. So weit sind wir jetzt schon. Also dass man sagt: das geht hier nicht mehr. Meine alte Tante mit 83 schenkt ihrer Enkeltochter letzte Woche zum Geburtstag, jetzt dürft ihr drei Mal raten, ein Fläschchen Reizgas. Das ist kein Scherz. Und das passiert mir nicht, ich versuche, Strömungen zu erkennen und denen vorzubeugen und mich zum ersten Mal in meinem Leben einer Partei zu nähern, es ist ja nie zu spät, so: und hier bin ich." (anerkennendes Klopfen)
Die ‚Alternative für Deutschland’ hat viele Gesichter. Die besorgten Bürger fühlen sich bei ihr gut aufgehoben – sie haben das Gefühl, die AfD nimmt sie ernst. Umso wichtiger erscheint es, dass auch die konkurrierenden Parteien die AfD ernst nehmen und beispielsweise TV-Debatten im Wahlkampf annehmen. Professor Oskar Niedermayer.
"Ich halte das für eine wirklich gravierende politische Dummheit. Wenn man diese Partei immer noch versucht zu ignorieren, ich meine, sie steht in den Umfragen im zweistelligen Bereich. Also muss man mit ihr umgehen politisch. Wenn man sie ausgrenzt, dann spielt man ihr damit in die Hände. Denn dann ist natürlich sofort das Argument da: Die anderen Parteien haben ja gar keine inhaltlichen Gegenargumente gegen unsere Positionen, deswegen müssen sie uns ausgrenzen’. Und das ist das Beste, was der Partei passieren kann. Die einzige meiner Ansicht nach sinnvolle Strategie ist, sie offensiv, argumentativ zu stellen und zu bekämpfen."
Seit ihrer Spaltung im Jahr 2015 hat die AfD kein gültiges Programm. Und keinen Grundwertekatalog, der Extremisten unmissverständlich fernhalten würde. Die Parteigänger eint, dass sie alle konkurrierenden politischen Angebote ablehnen. Und der Zorn auf Angela Merkels Flüchtlingspolitik. Beim stellvertretenden AfD-Parteivorsitzenden Alexander Gauland hört sich das so an.
"Tatsächlich haben wir es heute nicht damit zu tun, dass einzelne Menschen, weil sie verfolgt sind, Schutz bei uns suchen, das wäre ja alles unter der normalen Asylfrage abzuhandeln und zu leisten, sondern es ist inzwischen eine Völkerwanderung in Gange, wir können das nicht leisten, ich sage aber auch gleich dazu: ich will nicht, dass sich Deutschland in der Weise verändert, dass vielleicht in zwanzig Jahren wir mehr Afrikaner oder Menschen aus dem Nahen Osten haben als Deutsche. Und insofern ist das schon eine Invasion. Es ist eine Invasion fremder Völkerschaften in Deutschland."
Die Medien bezeichnen Meinungsführer und Scharfmacher wie Alexander Gauland als "Hassprediger", "Pöbel-Populisten" oder auch "kühl kalkulierende Lumpensammler auf Beutejagd".
"Ach wissen Sie, ich habe in einem langen politischen Leben gelernt: Hauptsache es wird über uns berichtet, selbst wenn schlecht berichtet wird."
Die AfD fühlt sich wohl in ihrer Opferrolle. Sie braucht sie für ihr eigenes Selbstverständnis.
Politologen streiten über Parallellen zu Grünen-Aufstieg
Schließlich begreift sie sich als die einzige Partei, die ‚Mut zur Wahrheit’ hat und sich über Sprechverbote hinwegsetzt. Das ist unbequem und riskant, macht sie aber vor allem für diejenigen attraktiv, die das längst auch so sehen.
"Die AfD gilt als Schmuddelkind, sie wird auch als solches behandelt, es ist eine Ausgrenzungs- und Etikettierungsstrategie, die wir schon in vielen Bereichen kennen gelernt haben, die bei der AfD, wie mir scheint, unzutreffend ist."
Der Politikwissenschaftler Werner Patzelt hat keine Berührungsängste. An seinem Lehrstuhl an der Dresdner Universität findet eine Langzeitstudie zu Pegida statt, er kennt die Sorgen und Nöte der Anhänger.
Vieles am Aufstieg der AfD erinnere ihn an die Anfänge der Grünen in der alten Bundesrepublik. Damals, vor mehr als 40 Jahren. Auch die Grünen gefielen sich in der Rolle, Kämpfer gegen das Establishment zu sein. Auch sie schockierten die Gesellschaft mit abwegigen Ideen und seltsamen Führungsfiguren.
"Die Grünen fingen an als eine linke Protestpartei auch aus der Studentenrevolution kommend, die damals noch sehr konservative Sozialdemokratie sah dem Ganzen hilflos zu, hatte kein Gefühl für die Brisanz ökologischer Themen, und dann erst besann sich die SPD eines anderen, statt einer Bekämpfung der Grünen wurden die Grünen dann plötzlich zu Bündnispartnern, als in einer Wahlsendung Willy Brandt erklärte, man müsse doch die Stimmenanteile von SPD und Grünen zusammen zählen. Der CDU könnte in einer fernen Zukunft dasselbe Schicksal drohen, nur dass die Grünen für die CDU eben AfD heißen."
So weit geht der Parteienforscher Oskar Niedermayer in seiner Analyse nicht.
"Weil die Grünen im Hintergrund hatten eine neue Konfliktlinie, die in der Gesellschaft entstanden ist: Ökonomie versus Ökologie, wenn so etwas da ist, wenn ein neuer zentraler Konflikt aufkommt, den eine Partei dann aufgreift und politisch umsetzt, dann hat sie sehr viel größere Chancen als wenn eine Partei, wie jetzt momentan die AfD, eben auf ein Thema setzt. Also ich bin noch sehr skeptisch, ob sich die AfD wirklich mittel- bis langfristig im deutschen Parteiensystem etablieren kann, das ist bisher ja in der Vergangenheit extrem wenigen Parteien gelungen, momentan sieht es noch nicht so aus, dass die AfD einen festen, ideologisch auch an sie gebundenen Wählerstamm hätte, der sie problemlos bei der Bundestagwahl über die fünf Prozent schafft."
Aber es spricht vieles dafür, dass es der AfD am kommenden Sonntag mühelos gelingen wird, in drei weitere Landesparlamente einzuziehen. Erstmals dann auch in zwei Flächenstaaten im Westen der Republik.
Ob sich die Erfolgsgeschichte auch auf Bundesebene fortsetzt, hängt davon ab, ob die Partei es schaffen wird, sich von den Rechtsextremen im eigenen Lager abzugrenzen. Wobei unklar ist, ob sie das überhaupt will. Der Münsteraner Soziologe Andreas Kemper bezweifelt das.
Seit Jahren beschäftigt er sich mit der AfD, er hat ein Buch über sie geschrieben und mehrere Expertisen über den Rassismus des thüringischen AfD-Vorsitzenden Björn Höcke. Andreas Kemper sagt: Die AfD ist gefährlich. Weil sie die Liberalisierung des Waffenrechts in Deutschland erreichen will. Und dieses unmissverständlich und eindeutig in den Sozialen Netzwerken verbreitet.
"Es gibt da fünf verschiedene Postings, wo Pistolen abgebildet werden, es sind immer wieder diese Knarren, diese Pistolen, durchgeladen, mit `ner Hand, die schießt, das wird ja alles bei Facebook gepostet, wenn man sich dann die Kommentare durchliest, dann geht es darum, wie man sich gegen die so genannten Musels, gegen die Invasoren, in Anführungszeichen, wehren kann, da wird dann über Kampfsport diskutiert, Kampfsport würde nicht ausreichen, man muss sich schon mit scharfer Munition bewaffnen, und es wird ernsthaft diskutiert, wie man welche Musels abknallen kann, aus diesen Kreisen werden dann auch noch sehr viel radikalere, noch eindeutigere Bilder gepostet. Zum Beispiel hat ein Anhänger der AfD ein Wehrmachtsbild gepostet, von Soldaten der Wehrmacht, wie sie Frauen beibringen, wie sie halt schießen. Direkter NS-Bezug."
"Die AfD ist Biedermann UND Brandstifter"
Das sei eine Form von Gewaltbereitschaft, die nicht nur von rechten Spinnern ausginge, sondern von ganz oben. Zum Beispiel von Marcus Pretzell, Europaabgeordneter und Vorsitzender der AfD in Nordrhein-Westfalen, dem größten Landesverband in Deutschland, und neuer Lebenspartner der Bundesvorsitzenden Frauke Petry. Biedermann oder Brandstifter? Die Frage stellt sich nicht, die AfD ist beides, sagt der Soziologe Andreas Kemper.
"Wenn zum Beispiel ein Plakat gepostet wird: ‚Selbstjustiz ist die neue Polizei’, dann können die ganz Rechten da raus lesen ‚okay, wir können zur Selbstjustiz greifen’, und die eher Konservativen sagen ‚wenn wir nicht aufpassen, wenn wir nicht den Rechtsstaat stärken, dann greift die Bevölkerung zur Selbstjustiz’. Und genauso machen die das: Die bedienen immer gleichzeitig beide Milieus, also ein konservatives Milieu und ein rechtsextremes Milieu, und reden sich dann, wenn es skandalisiert wird, immer wieder raus und sagen ‚so war das ja gar nicht gemeint".
"… zum Beispiel mir den Herrn Höcke angucke, der mir so als einziges Beispiel einfällt, wenn man es mal aus einer linken Perspektive sieht, würde man es, glaube ich, als teilweise hetzerisch sehen."
Zurück beim Kennenlerntreffen der AfD in einem Restaurant in Berlin-Mitte. Erst ganz am Ende der Veranstaltung fragt einer, wie es die Partei denn mit Björn Höcke halte, dem Landesvorsitzenden in Thüringen, der immer wieder mit rassistischen Aussagen die Öffentlichkeit irritiert. Er habe Angst, so der Fragesteller, dass die AfD wegen solcher Personen am rechten Rand kleben bleibe.
"Das ist ein Riesenproblem. Weil … also ich … das ist insofern ein Problem, weil … wenn man … also es ist wirklich eine schwierige Geschichte, weil wenn man sozusagen, in unserem Kreise, jetzt sind wir uns alle irgendwie einig."
Der Aufstieg der AfD macht den Extremismus im Land salonfähig
Frank-Christian Hansel vom Berliner Landesvorstand der AfD findet die richtigen Worte erst nach der Veranstaltung.
Frank-Christian Hansel vom Berliner Landesvorstand der AfD findet die richtigen Worte erst nach der Veranstaltung.
"Die AfD begreift sich als eine Partei aus der Mitte der Gesellschaft, ich sage mal Mitte-Rechts, politischer Sachverstand und politischer Realismus, jetzt gerade ist diese historische Chance, dass sich viele von der CDU abwenden, die eigentlich bei der AfD die politische Heimat finden müssten, und wenn wir denen aber sozusagen die Tür quasi zumachen, indem wir die Schamschwelle erhöhen, dass sie eben nicht einer in Anführungsstrichen "rechten" Partei angehören wollen, dann haben wir halt ein Problem. Ja, es ärgert einen, weil: es ist überflüssig, und es hilft uns wirklich nicht weiter."
Eines hat die Entwicklung der vergangenen zwölf Monate gezeigt: Der Aufstieg der AfD macht den Extremismus im Land salonfähig. Die Gesellschaft radikalisiert sich. Brandsätze fliegen auf Asylbewerberheime, Wutbürger verprügeln Journalisten, Pegida marschiert durch Ostdeutschland, Facebook wird zur Heimat der Hassbotschaften.
"Eigene Begriffsherrschaft aufbauen"
Stück für Stück verschiebt das AfD-Spitzenpersonal die Grenze des Sagbaren immer weiter nach rechts. Der Parteienforscher Oskar Niedermayer.
"Die AfD hat durchaus mit dazu beigetragen, dass wir eine Debattenkultur in den letzten Monaten bekommen haben, die ich selbst für nicht sehr glücklich halte, weil wir eine starke Polarisierung in der Diskussion feststellen, und in so `ner Situation, die dann aufgeheizt ist, wird es umso schwerer dann, ein so kompliziertes Thema wie die Flüchtlingskrise einigermaßen rational zu diskutieren."
In der Flüchtlingsfrage hat die AfD keine realistisch umsetzbaren Lösungsvorschläge. Will sie auch nicht. Sie würde sich ihres Top-Themas berauben. Doch wohin geht die Reise der AfD, wenn sie am Sonntag auch in Stuttgart, Mainz und Magdeburg erfolgreich ist? Immerhin ist die Partei dann in insgesamt acht deutschen Landesparlamenten vertreten. Der Soziologe Andreas Kemper ist überzeugt: der weitere Weg der AfD ist völlig offen:
"Petry, Pretzell, die wollen tatsächlich eine starke AfD, während Björn Höcke jetzt auch sehr deutlich gesagt hat, er fordert als Landesfraktionsvorsitzender in Thüringen seine Landtagsabgeordneten auf, nicht mehr so viel Parlamentsarbeit zu machen, sondern auf die Straße zu gehen. Weil: das Ziel der AfD, die historische Mission der AfD besteht darin, ne eigene Begriffsherrschaft quasi aufzubauen, die Straßen zu erobern, also ein kultureller Kampf. Und da ist die AfD Mittel zum Zweck. Das ist quasi eine ähnliche Spaltung wie man die hatte bei den Grünen, zwischen den Realos und den Fundis, die gibt es jetzt auch innerhalb der AfD, da gibt es die Leute, die die AfD als Mittel zum Zweck sehen und die sehr viel radikaler sind, und die Leute, die eher karriereorientiert sind und eine starke AfD wollen, um auch ihre Pöstchen zu sichern."
"Petry, Pretzell, die wollen tatsächlich eine starke AfD, während Björn Höcke jetzt auch sehr deutlich gesagt hat, er fordert als Landesfraktionsvorsitzender in Thüringen seine Landtagsabgeordneten auf, nicht mehr so viel Parlamentsarbeit zu machen, sondern auf die Straße zu gehen. Weil: das Ziel der AfD, die historische Mission der AfD besteht darin, ne eigene Begriffsherrschaft quasi aufzubauen, die Straßen zu erobern, also ein kultureller Kampf. Und da ist die AfD Mittel zum Zweck. Das ist quasi eine ähnliche Spaltung wie man die hatte bei den Grünen, zwischen den Realos und den Fundis, die gibt es jetzt auch innerhalb der AfD, da gibt es die Leute, die die AfD als Mittel zum Zweck sehen und die sehr viel radikaler sind, und die Leute, die eher karriereorientiert sind und eine starke AfD wollen, um auch ihre Pöstchen zu sichern."
Der Brandenburger AfD-Landeschef Alexander Gauland hält die Strategie seines Amtskollegen in Thüringen für richtig.
"Jede gut gelungene Demonstration ist wichtiger als eine Debatte im Landtag."
Aber widerspricht eine solche Haltung nicht dem Wählerwillen? Die Menschen wählen die AfD doch ins Parlament, damit sie die Möglichkeiten des Politikbetriebs nutzt, um ihre Interessen und die ihrer Wähler in der parlamentarischen Debatte durchzusetzen.
"Es widerspricht ja auch den parlamentarischen Gepflogenheiten, dass die Konsensparteien diese aufkündigen uns gegenüber, so haben wir im Landtag folgende Situation: wenn wir einen Antrag stellen, sprechen nicht, wie sonst zu allen anderen Anträgen, alle Parteien, und jeder für eine Partei, sondern es wird ein Abgeordneter ausgeguckt, und der CDU-Abgeordnete spricht dann auch für die Linke, und die Debatte wird bewusst abgewürgt. Und warum soll ich mich in einer parlamentarischen Debatte auseinandersetzen, die die anderen längst aufgegeben haben?"
Die Zeiten sind kompliziert, einfache Lösungen existieren nicht. Noch steht nicht fest, ob sich die AfD – anders als ihre vielen rechtspopulistischen Vorläufer von Republikanern bis Schill-Partei – dauerhaft im politischen Spektrum der Republik festsetzen kann. Bei der letzten Bundestagswahl 2013 scheiterte sie knapp an der Fünf-Prozent-Hürde. Oskar Niedermayer wagt eine vorsichtige Prognose für die Wahl im kommenden Jahr.
"Sie wird es dann schaffen, wenn 2017 das Flüchtlingsproblem noch in der Weise besteht wie es heute besteht oder noch schlimmer wird in den Augen der Bevölkerung. Wenn das in einer sinnvollen Weise gelöst werden kann, dann gebe ich ihr keine große Chance."
Gehen wir davon aus, dass viele der Gründe, warum die Menschen AfD wählen, auch 2017 noch gelten. Dann stehen die Politik-Strategen und auch die Wähler vor einem neuen Problem. An den Rändern des politischen Spektrums hätten sich im Bund zwei Parteien etabliert, die nicht koalitionsfähig sind: links ‚Die Linke’, rechts die AfD. Ergebnis: weiter mit der GroKo – denn nur die Große Koalition könnte vermutlich eine regierungsfähige Mehrheit zustande bringen. Welch absurde Perspektive für die AfD: Ausgerechnet die Partei, die Deutschland eine politische Alternative geben will, würde die Alternativlosigkeit zum Dauerzustand machen.