Alternative zum Kapitalismus

Genosse Bürger

Von Tobias Barth |
Sie scheint eine Alternative zum kapitalistischen System zu sein: die Genossenschaft. Das Jahr 2012 war von den Vereinten Nationen zum Jahr der Genossenschaften erklärt worden. Angesichts der Krisen des Finanzkapitalismus hat die alte Idee gemeinschaftlichen Wirtschaftens wieder Konjunktur.
Ein Dorfaden fast wie jeder andere: In den Regalen Zahnpasta neben Süßwaren, in den Kühltheken Wurst und Käse, neben der Kasse eine Lottostelle. Doch der Name des Geschäftes lässt aufhorchen. "Unser Laden Falkenau eG". 2007 taten sich einige Falkenauer zusammen, um wieder ein Geschäft in den kleinen sächsischen Ort zu holen.
Thilo Walter:
"Die großen Firmen, das hat der Bürgermeister damals verhandelt, der hat ein paar große Lieferanten angeschrieben, Edeka, Aldi und was auf dem Markt so zur Verfügung stand, und die hatten sich negativ geäußert."
Thilo Walter war Außendienstler im Handel. Nun hat er wieder Arbeit in dem 1200-Seelen-Ort.
"Genossenschaft ist das, dass die Bürgerinnen und Bürger oder die Mitglieder, dass die mitbestimmen können über das Sortiment oder die Artikel, die man führt und dass die Mitglieder sich auch einen Einkaufsvorteil verschaffen können. Und deswegen haben wir gesagt, wir entscheiden uns für die Genossenschaft und sind damit auch ganz gut gefahren. Die Tendenz ist steigende Mitgliederzahl."
Am Anfang waren es eine Handvoll Frauen, die sich für den Laden stark machten. Eine von ihnen ist jetzt Marktleiterin. Gabriele Hübner ging von Haus zu Haus, erklärte das Geschäftsmodell, überzeugte. 50 Euro kostet die Mitgliedschaft in der Genossenschaft, 50 Euro, die sich am Ende des Jahres rechnen:
"Das was du einkaufst wird auflaufend zusammengezählt, und am Ende des Jahres, da können wir eine bestimmte Summe auszahlen und da bekommt jeder Prozente auf den geleisteten Umsatz. Und da kann er eben dann umsonst einkaufen, bis das Geld alle ist. Und das ist doch nicht schlecht."
Heute ist jeder Dritte in Falkenau Mitglied der Genossenschaft, knapp 400 Menschen stützen den Laden, mehr noch nutzen ihn. Der Laden läuft. Er hat 5000 Artikel im Angebot und macht 50000 Euro Umsatz im Jahr.
Eine Rentnerin kommt in den Laden. Sie geht zur Fleischertheke, holt sich einen Kaffee. Frau Richter kommt fast täglich hierher:
"Da hole ich mal ein paar Kleinigkeiten, auf jeden Fall die Zeitung, und was es ist ja alles da: von der Zeitung über die Molkereiprodukte, über Brot, ist ja alles da. Und auf dem kleinen Dorf ist das schon ganz schön, dass wir so einen Laden haben."
Bürger helfen sich selbst, Ihr Unternehmen löst ein soziales Problem. Der Dorfladen in Falkenau wäre wohl ganz nach dem Geschmack von Hermann Schulze gewesen. Der Jurist und Liberale gilt als der Urvater der deutschen Genossenschaftsbewegung.
"Der Weg, auf den die Genossenschaften ihre Mitglieder hinweisen, ist der Weg des Emporkommens durch eigene Tüchtigkeit."
Es klingt wie ein frommer Mahnspruch, was Enrico Hochmuth da von der Museumswand abliest. Hochmuth ist Direktor des Genossenschaftsmuseums in Delitzsch bei Leipzig. Der Spruch stammt von Hermann Schulze aus Delitzsch, 1849 Begründer der ersten deutschen Produktivgenossenschaft.
"Hier vereinten sich über 50 Delitzscher Schumacher zu einer Assoziation, diese Assoziation kaufte gemeinsam Rohstoffe ein, um also auch zu einem günstigeren Kalkulieren zu kommen und war natürlich auch an gemeinsamen Auftritten hinsichtlich des Vertriebes interessiert."
Es war die Zeit, als die industrielle Revolution Fahrt aufnahm und mit ihr das Fabrikwesen und das Monopolkapital. Handwerk verlor seinen sprichwörtlichen "Goldenen Boden", und das traf alle Gewerke. Erich Kästner – Sohn eines Dresdner Sattlers – beschreibt den Wandel so:
"Das Maschinenzeitalter rollte wie ein Panzer über das Handwerk und die Selbständigkeit hinweg. Die Schuhfabriken besiegten die Schuhmacher, die Möbelfabriken die Tischler, die Textilfabriken die Weber, die Porzellanfabriken die Töpfer und die Kofferfabriken die Sattler."
Wilhelm Raiffeissen begann mit "Hülfsvereinen"
Hermann Schulze ist in den 1840er-Jahren Patrimonialrichter, also Richter für diverse Rittergüter in und um Delitzsch bei Leipzig. Dort wird der Liberale konfrontiert mit den Nöten derer, die unter den Folgen der Industrialisierung leiden:
Enrico Hochmuth:
"Das Erschreckende war ja, dass es eben nicht nur die sozial schwächste Schicht war, sondern auch die Mittelschicht. Und Schulze-Delitzsch meinte, es kann ja nicht sein, dass hoch qualifizierte Handwerker sich von ihrer eigenen Hände Arbeit nicht ernähren können. Und das war eigentlich der Ausgangspunkt, um zu sagen wir müssen denen Instrumente in die Hand geben, damit sie sich ernähren können, selbstbewusst werden und damit der Gesellschaft etwas zurückgeben können, die Gesellschaft mit formen dadurch."
Mehlsack, Mehlsieb, Brotform: Die Vitrinen im Delitzscher Genossenschaftsmuseum zeigen Relikte des Wohlfahrtsvereins, den Hermann Schulze 1846 ins Leben ruft. Er sammelt Geld und lässt Brote für die Ärmsten backen, die sie auf Bezugsschein verbilligt kaufen können. Ein Jahr später gründet der damals 39-jährige Jurist die erste deutsche Produktivgenossenschaft. Die Assoziation der Schuhmacher hilft den Handwerkern, sich am Markt zu behaupten. Mengenrabatt beim gemeinsamen Einkauf drückt die Kosten für Leder und Garn, und auch beim Verkauf lässt sich gemeinsam mehr erreichen als allein. Man mietet Kojen auf der Leipziger Messe und kann so Aufträge bis nach Amerika akquirieren.
"Aber Schulze merkte schon recht schnell, dass das in gewisser Weise noch zu kurz gegriffen war. Denn um Rohstoffe in solchen Mengen einkaufen zu können und auch in neue Technologien zu investieren, braucht man natürlich Kapital. Das hatte der Einzelne nicht, das hatte auch die Gemeinschaft nur in beschränktem Maße. Und hier griff dann die Idee der genossenschaftlichen Kreditwirtschaft, Fortschrittsvereine, oder nach Raiffeisen auch Darlehensvereine. Raiffeisen hatte ja ähnliche Ansätze, nur in einer anderen Region, im Westewald."
Zitat Raiffeisenlied:
"Wir ziehen getrost in den Morgen und rufen es weit in das Land!
Wir brechen gemeinsam die Sorgen, denn innig umschlingt uns ein Band!
Vater Raiffeisen! Wir tragen dein Werk froh in die Zukunft hinein!"
Wilhelm Raiffeisen war eher christlich-pietistisch inspiriert. Auch er begann mit "Hülfsvereinen", als Bürgermeister von Heddersdorf bei Neuwied am Rhein sah er die Armut der Bauern. Zwar war die Leibeigenschaft überwunden, doch die nunmehr freien Bauern hatten kein Geld, um sich genügend Land oder Saatgut zu kaufen. Wucherzinsen trieben manchen Landmann in den Ruin. Selbst Otto von Bismarck gab zu bedenken:
Zitat:
"Ich kenne eine Gegend, wo es Bauern gibt, die nichts ihr Eigen nennen auf ihrem ganzen Grundstück. Vom Bett bis zur Ofengabel gehört alles Mobiliar den Geldverleihern. Das Vieh im Stall gehört ihnen, und der Bauer zahlt für jedes Stück Vieh seine tägliche Miete."
Raiffeisen setzt auf das Solidarprinzip: Tun sich die Armen zusammen, so sein Gedanke, können sie sich selbst helfen. 1862 entsteht im Westerwald ein Vorschussverein, die erste Genossenschaftsbank.
Peter Gleber:
"Entscheidend bei Raiffeisen war eben dieses überschaubare Sprengelprinzip. Das war ganz wichtig, dass man eben in einem kleinen Dorf – ein Kirchspiel sollte eine Bank haben, das war sein Prinzip."
Der Historiker Peter Gleber leitet das Genossenschaftliche Informationszentrum. Das ist das Archiv der Volks- und Raiffeisenbanken.
"Es gab zum Beispiel lange Jahre keine eigentlichen Bankgebäude. Bei Raiffeisen war das lange eine Institution der Gemeinde, beispielsweise in den Gemeindehäusern in den Dörfern angegliedert, dass man dort sparen konnte, oder in der Kirche, man hat eben nach dem Kirchgang beim Gemeindediener seine Spargroschen abgegeben. Es war sehr stark an die Staatsgemeinde oder Kirchgemeinden angeschlossen und sein christlicher Impetus, christliche Selbsthilfe zu leisten, das war eben ein wichtiger Antrieb und das war ihm fast wichtiger, als Gewinne."
Aus den Vorschussvereinen entwickeln sich ländliche Raiffeisenbanken, meist gekoppelt an genossenschaftliche Warenläden. Der Erfolg bringt Größe mit sich – und neue Abhängigkeiten. In den 1980er-Jahren resümiert der Agrarwissenschaftler Onno Poppinga von derGesamthochschule Kassel im Deutschlandfunk:
Onno Poppinga:
"Innerhalb der Organisation haben kleine Landwirte nie eine Rolle gespielt. Es gab zwar das juristische Recht: 'Ein Mann - eine Stimme!'. Das ist ja erst in den letzten Jahren in manchen Genossenschaften geändert worden. Wenn man sich aber die Vorstandsstruktur zum Beispiel anschaut, wenn man sich anschaut, wer Rechner gewesen ist - damals also eine wichtige Funktion; wir würden heute sagen: Geschäftsführer -, dann muss man feststellen, dass die Genossenschaften im Wesentlichen geführt worden sind von Gutsbesitzern, von großen Bauern, vereinzelt von größeren Handwerkern. Vor allem aber von Pfarrern und Lehrern.
Wobei die Lehrer meistens die niedrigeren und die Pfarrer die höheren Funktionen in der Hand hatten. Das verweist noch einmal, dass es sich bei Raiffeisen um eine stark staatlich geförderte Organisation handelte. Die Pfarrer waren damals wichtige Bestandteile des Obrigkeitsstaates, und es war praktisch so etwas wie ein Dienstauftrag, die Raiffeisenbewegung zu fördern."
Raiffeisen und Schulze-Delitzsch korrespondieren. Sie schaffen in Theorie und Praxis eine Rechtsform, die Selbsthilfe auf eine solide Basis stellen soll. Was ihnen dabei zu Gute kommt, sind auch die Erfahrungen von Kooperativwirtschaften, wie sie die utopischen Sozialisten in Frankreich und England erprobt hatten, allen voran der Fabrikant und Reformer Robert Owen, der Vorzeigeunternehmen mit hohen Sozialleistungen ohne Kinderarbeit aufbaut und wirtschaftlich erfolgreich ist.
Enrico Hochmuth:
"Ob das nun Raiffeisen ist, Schultze-Delitzsch, Robert Owen – da kamen natürlich die Lösungsansätze aus einem bürgerlichen Bereich. Aber ich glaube, das war auch aus der visionären Weitsicht heraus, wenn diese Lösungen nicht von oben erfolgen, dann würden sie irgendwann von unten erfolgen. Also, das geschah durchaus im eigenen Interesse, hier auch perspektivisch langfristige Lösungsansätze zu finden."
Auflösung kurz nach Gründung: Die erste Konsumgenossenschaft Deutschlands
Das Gespenst des Kommunismus geht um in Europa. Im kommunistischen Manifest schreiben Karl Marx und Friedrich Engels 1848:
"Ist die Ausbeutung des Arbeiters durch den Fabrikanten soweit beendigt, dass er seinen Arbeitslohn bar ausbezahlt bekommt, so fallen die anderen Teile der Bourgeoisie über ihn her, der Hausbesitzer, der Krämer, der Pfandleiher usw."
Was liegt näher, als wenigstens Einkauf und Versorgung unabhängig zu organisieren? In England entsteht 1844 nach Owens Ideen die erste Konsumgenossenschaft, gegründet von 28 Webern, die sich die "Redlichen Pioniere von Rochdale" nennen.
Enrico Hochmuth:
"Es fing ja mit diesem Laden der redlichen Pioniere an, dort sollte zur Selbstversorgung Waren des täglichen Bedarfs abgegeben werden an die Mitglieder. Und ging es weiter, dass man selber landwirtschaftlich tätig war, um Nahrungsmittel für den Laden zu erzeugen, aber auch um Arbeitsplätze zu schaffen. Und sich auch den Siedlungsbau auf die Fahnen geschrieben hatte, eine gemeinschaftliche Großsiedlung. Und in der Summe waren das dann Ansätze auch in der Produktivität und Effektivität, die dann vorbildhaft wirkten."
Vorbildhaft auch für Arbeiter und Sozialreformer in den deutschen Kleinstaaten. Der Kulturwissenschaftler Enrico Hochmuth vom Genossenschaftsmuseum in Delitzsch nennt als erste Konsumgenossenschaft die Eilenburger Lebensmittelassoziation, gegründet in einer Kleinstadt wenige Kilometer von Delitzsch entfernt.
Enrico Hochmuth:
"Da wird davon berichtet, dass der Erfolg der Eilenburger sogar den der redlichen Pioniere von Rochdale übertraf. Bei der Gründung waren es 50 Mitglieder und nach 17 Tagen konnte man schon 317 Familien verzeichnen. Und 1851, also ein Jahr nach der Gründung, waren es bereits 400 Familien."
Und das in einem Ort, der damals 10.000 Einwohner zählt. Die preußische Verwaltungsstatistik rechnet auf einen Haushalt fünf Leute – also hat in Eilenburg jeder fünfte Einwohner direkte Anbindung an die Genossenschaft.
Enrico Hochmuth:
"Und die hatte richtig zu tun und zwar nicht nur in der Auseinandersetzung mit der Amtsverwaltung, weil man dort meinte, da raufen sich welche zusammen, die man vielleicht nicht kontrollieren kann und wer weiß, welche Gedanken da noch so diskutiert werden, sondern da spielte auch der konkurrierende Mittelstand eine Rolle, der Kaufmann um die Ecke, der dort seine Pfründe bedroht sah, der einen Kolonialwarenladen betrieb und jetzt liefen die ganzen fast mittellosen Arbeiter in den Konsum und deckten sich dort ein. Das sah der als Bedrohung."
Beschwerden, Anklagen, Strafandrohungen - die erste Konsumgenossenschaft Deutschlands muss bald nach der Gründung aufgelöst werden. Jahrelang zieht sich der Kampf um die Rechtsform Genossenschaft hin.
Hermann Schulze ist inzwischen Abgeordneter des preußischen Landtages, Mitglied der radikalliberalen Fortschrittspartei. 1867 wird das von ihm erarbeitete Genossenschaftsgesetz verabschiedet. Gegen Widerstände von links und rechts:
Peter Gleber:
"Schulze-Delitzsch muss man auch aus seiner Zeit begreifen, er war Demokrat und sein Gegner war Bismarck, der der Auffassung war, Genossenschaften sind die Kriegskassen der Demokratie. Und die Demokratie, das war etwas, das war eine Terrororganisation für Bismarck. Und Schulze-Delitzsch war ein Protagonist davon und war jemand, der sich durch Selbsthilfe eine eigene Macht aufbauen wollte."
Diese Macht kämpft auch gegen die Ideen des Staatssozialismus. Ferdinand Lassalle und Hermann Schulze-Delitzsch sind erbitterte Feinde. Denn dem Begründer der deutschen Sozialdemokratie schwebt eine Art Planwirtschaft vor, die sich auf staatlich gelenkte und subventionierte Produktivgenossenschaften stützt. Schulze lehnt das kategorisch ab:
Peter Gleber:
"Schulze-Delitzsch ist einer der ersten Begründer der sozialen Marktwirtschaft, während die Sozialisten eine andere Staatsform wollten. Schulze-Delitzschs Ausspruch im Reichstag ist da sehr deutlich, er hat gesagt, der Staat ist ein Röhrensystem, der das Geld des Bürgers von der einen Tasche in die andere pumpt, er hat also diese Subventionsmentalität angeprangert und das ist ja heute das 'linke Tasche, rechte Tasche' – das kommt eigentlich ursprünglich von Schulze-Delitzsch, das Zitat."
Kollektivierung der Landwirtschaft in der DDR
Zeitsprung. Hundert Jahre nach Gründung der ersten deutschen Genossenschaften wird das Modell staatstragend. In einem Staat, der sich selbst Staat der Arbeiter und Bauern nennt.
Archivton: Ansprache Walter Ulbrichts vor LPG-Vorsitzenden 6.12.1952:
"Die Kapitalisten Westberlins und Westdeutschlands wollen eben, dass die Bauern in alter Unterwürfigkeit bleiben. Dass sie den Kopf nicht hochheben. Denn wenn die werktätigen Bauern ihren Kopf erheben, dann sehen sie das neue Leben des Sozialismus in der Sowjetunion, und dann erkennen sie, dass es in der Deutschen Demokratischen Republik auch die Kraft gibt, den Sozialismus im Dorfe aufzubauen." (Beifall)
Walter Ulbricht propagiert im Dezember 1952 den Aufbau des Sozialismus auf dem Lande, die Kollektivierung der Landwirtschaft.
Enrico Hochmuth:
"Bekannt ist natürlich, dass die LPGs nicht immer auf freiwilliger Basis sich genossenschaftlich fanden, sondern dass es da eine Menge Zwangsmitgliedschaften sozusagen gab. Andererseits war es natürlich auch für viele Neubauern, Umsiedler etc. eine Chance, dort in so einer Genossenschaft tätig zu sein."
Lautsprecherwagen fahren durch die Dörfer und agitierten die Bauern. Vergünstigungen sollen die Bauern in die LPG locken. Die Maschinen-Traktoren-Stationen verleihen ihre Geräte verbilligt an die Genossenschaften. Doch die SED belässt es nicht beim Zuckerbrot, sie gibt auch die Peitsche.
Wer sich noch Ende der 50er-Jahre der Kollektivierung widersetzt, wird unter Druck gesetzt, ideologisch und ökonomisch. Steuerfahnder tauchen auf und zeigen die Bauern wegen vermeintlicher Steuerschulden an. Wer sich offen dem Eintritt in die LPG widersetzt, wird verhaftet und wegen "staatsfeindlicher Umtriebe" vor Gericht gestellt.
Archivton: Walter Ulbricht:
"Wenn das einem Gutsbesitzer oder Großbauern nicht gefällt, dann soll er sich darüber mit dem zuständigen Gericht unterhalten, aber nicht mit uns."
Auch wenn manche Neu- und Kleinbauern vielleicht davon profitieren, weil ihre Höfe nicht überlebensfähig sind: Im Kern ist die LPG Teil der Staatswirtschaft – und hat nichts mit dem alten Gedanken der Genossenschaft gemein.
Auch in der Bundesrepublik entfernen sich die real existierenden Genossenschaften von ihrer ursprünglichen Idee. Aus Raiffeisens Dorfläden und genossenschaftlichen Landbanken werden einflussreiche Großunternehmen. Unterhöhlt in der DDR der Staatssozialismus die Genossenschaftsidee, so sind es in der Bundesrepublik die Kapitalkräfte. In den bäuerlichen Genossenschaften etwa etablieren sich Machtverhältnisse, die nichts mehr mit der Stärkung der kleinen Produzenten, der kleinen Genossen, zu tun haben – wie 1988 Josef Jacobi im Deutschlandfunk moniert, ein Bauer aus Körbecke bei Warburg.
Archivton Deutschlandfunk 1988:
"Auch bei den Genossenschaften gibt es inzwischen gestaffelte Preise. Das heißt, wer sehr viel abliefert, kriegt einen hohen Preis. Und wer wenig verkauft, an Getreide zum Beispiel, kriegt einen niedrigeren Preis, auch die Qualität des Getreides spielt nicht mehr so die Rolle. Es werden zunehmend Qualitätskriterien wichtig, die nichts mehr mit der eigentlichen Qualität des Getreides zu tun haben. Dass eben Nährstoffe oder Wirkstoffe oder Vitamingehalte oder ähnliche Stoffe eine Rolle spielen, sondern es spielen eine Rolle: Lagerfähigkeit, Trockengehalt - man muss es möglichst lange lagern können, dann ist es möglichst gut. Die Genossenschaften sind vermehrt zu Abnehmern von Rohprodukten geworden, die der Bauer erzeugt. Und es werden zunehmend Massenprodukte. Der Bauer verliert auch die Verbindung zu seinem Produkt, eigentlich."
Die Rechtsform der wirtschaftlichen Selbsthilfe und Selbstorganisation – in manchen Ausprägungen ähnelt sie in den 80er-Jahren immer mehr den Kapitalgesellschaften. Marktbeobachter wie der damalige Professor für Landnutzung und regionale Agrarpolitik Onno Poppinga von der Gesamthochschule Kassel richten den Blick auf die gesellschaftlichen Folgen.
"Generell zur Einschätzung der Größenordnung der Genossenschaften muss man ja heute sagen, dass es sich um ausgesprochen konzernähnliche Gebilde handelt. Das heißt, durch diese starke Betonung der Fusion, die die Genossenschaften betreiben, um ihre eigenen Interessen abzusichern, wird die ohnehin schwierige Situation von bäuerlichen Betrieben noch verschlechtert."
Der Ruf der Genossenschaften wird durch zwei Skandale nachhaltig beschädigt. 1982 kommt das Wohnungsunternehmen Neue Heimat in die Schlagzeilen. Ein Filz aus korrupten Geschäftsführern und Vorständen hat sich über Jahre bereichert – auf Kosten der Mieter. Und auch die traditionsreiche Handelsgenossenschaft coop-Deutschland – vormals Konsum - gerät durch Misswirtschaft und Korruption einzelner Führungskräfte ins Schleudern. Die Genossenschaftsidee scheint komplett in Verruf zu geraten – und aus heutiger Sicht erscheint es wie ein Wunder, dass sie inzwischen eine Renaissance erlebt, als hätte es die großen Krisen nie gegeben. Die linksalternative Tageszeitung taz hätte wahrscheinlich nicht überlebt, wenn sie sich 1992 nicht als Genossenschaft neu gegründet hätte; genossenschaftlich organisierte Projekte schießen seit einigen Jahren wie Pilze aus dem Boden; Bauwillige zum Beispiel schließen sich zu Genossenschaften zusammen, Energiegenossenschaften investieren in Biogas- und Fotovoltaikanlagen.
Finanzkrise als neuer Schub für Genossenschaftsbanken
Die Renaissance der Genossenschaftsidee ist kein Zufall: Denn der Gedanke, durch Zusammenschlüsse wirtschaftlich überlebensfähig zu werden und Inseln im harten kapitalistischen Wettbewerb zu bilden, hatte sich nicht überlebt. Ausgerechnet im Finanzsektor ist schon 1974 etwas Neues entstanden – die von Anthroposophen in Bochum gegründete Gemeinschaftsbank für Leihen und Schenken – abgekürzt GLS-Bank.
Werner Landwehr:
"Man muss sich vorstellen, das war eine Zeit, in der man eher den Bankbeamten kannte als den Bankmitarbeiter, das heißt, Banken waren eher eherne Instanzen."
Werner Landwehr leitet die Berliner Zweigstelle der GLS-Bank. Die Geschäftsräume liegen gleich neben dem Friedrichstadtpalast – aber Casinomentalität liegt den Bankern fern.
"Der Impuls kam aus der Sozialwirtschaft, konkret aus einer Waldorfschule, und der Erfahrung, dass für eigentlich sinnvolle Vorhaben es relativ schwierig ist, insbesondere für zukunftsweisende Verfahren, die noch nicht erprobt waren, es immer wieder schwierig war, Finanzierung zu finden - obwohl viele gesagt haben, das finden wir doch eigentlich sinnvoll, das ist doch eine gute Sache."
1974 gründen die Anthroposophen ihre Bank. Zehn Millionen Mark Eigenkapital müssen dafür eingesammelt werden. Was hilft, ist die solidarische Vernetzung der Waldorfszene und die Rechtsform der Genossenschaft. Das Prinzip, jeder Einleger hat eine Stimme, gibt Vertrauensvorschuss:
Werner Landwehr:
"Man kann als Genosse bei einer Bank mit Fug und Recht behaupten, ich bin Miteigentümer einer Bank und natürlich bestimmen die Genossen auch die Geschicke der Bank. Sie wählen den Aufsichtsrat, der bestellt den Vorstand und insofern haben sie auf der demokratischen Ebene unmittelbarer Einfluss auf die Geschäftsentwicklung einer Bank. Der Gedanke, dass jemand, der mehr Geld einlegt, mehr bestimmen soll, war von Anfang an fremd und von daher lag es nahe, das als Genossenschaft zu machen, eben weil es die Möglichkeit bietet, das Kapital breit einzusammeln."
Gemeinschaftsbank für Leihen und Schenken – das Schenken findet in zwei Richtungen statt. Anleger verzichten auf Zinsanteile, bekommen Rendite unter den üblichen Marktkonditionen. Mit dem gesparten, quasi der Bankgenossenschaft geschenkten Geld kann die Bank günstige Kredite vergeben. An soziale oder ökologische Projekte. Oft an solche, die bei anderen Banken kaum eine Kreditchance hätten. Die Bank agiert erfolgreich und solide, sie wächst.
In den 90er-Jahren übernimmt sie die in Schieflage geratene Ökobank. Mit der Finanzkrise erlebt das Modell der Genossenschaftsbank einen neuen Schub: Immer mehr Menschen wollen dort Geld anlegen, Mitglied werden oder zumindest ihre Bankgeschäfte über eine Geldinstitut abwickeln, das sich nicht an riskanten Spekulationen beteiligt, das nicht von der Gier nach Profit dominiert wird, sondern von der Suche nach gesellschaftlich nützlichen Investitionen.
Werner Landwehr nennt als Beispiel die Landwirtschaftsfonds, die schon mehrfach von den Genossen der GLS-Bank aufgelegt worden sind, jeweils mit Millionensummen. Und mit Werbegags des besonderen Art.
"Man bekam da nicht irgendeinen Zins oder eine Rendite drauf, sondern bekam einen Warengutschein, damit konnte man an den beteiligten Höfen Möhren oder Kartoffeln kaufen. Und diese Vorstellung, dass man Geld anlegt und Kartoffeln bekommt, das fanden die so gigantisch, das ging dann durch die ganze Presse. Dabei ist das eigentlich banal, weil es ein Grundprinzip der Wirtschaft ist."
Vom Geld der Fonds wurde in der brandenburgischen Uckermark Land – wie es Landwehr nennt – freigekauft. Die Fonds waren schnell gezeichnet, auch wenn sie eine extrem niedrige Rendite versprachen.
Selbsthilfe, Zusammenarbeit, Gemeinwohlorientierung: Nach der Erfahrung des Neoliberalismus finden die Werte der genossenschaftlichen Idee wieder zunehmend Beachtung. Günter Faltin lehrt Ökonomie an der Freien Universität Berlin und ist dort für den Praxisbezug der Studierenden zuständig.
"Das geglückte Leben hat was zu tun mit Beziehungen. Und wenn ich andere über's Ohr haue oder übervorteile und die sehen hinterher, sie bekommen es an anderer Stelle billiger und vielleicht sogar besser als bei mir, dann fördert das nicht meine Beziehung und nicht meine Anerkennung und meine Geborgenheit in einer community. Und diese Werte - diese ja über basic-needs hinausgehenden Werte - werden in der postindustriellen Gesellschaft natürlich wichtiger. Und das spüren die Leute. Vielleicht mehr als sie es artikulieren."
Faltin ist der Erfinder der Teekampagne. 1985 gründete er an der Freien Universität Berlin eine Projektwerkstatt, um direkt importierten Tee aus Darjeeling zu verkaufen. Abgefüllt in Ein-Kilo-Packungen, fair gehandelt und dank einer Umgehung des Zwischenhandels weit unter dem üblichen Preis. Heute ist die Teekampagne die größte Nichtregierungsorganisation in Darjeeling, sagt Faltin voller Stolz, das Unternehmen tue viel für den Umweltschutz und für die Bevölkerung vor Ort.
Günter Faltin:
"Ich hatte ein ganz großes Vorbild. Das heißt Gottlieb Duttweiler. Oder ich hab das noch. Und ich habe in der Schweiz studiert. Und dann muss man sparen. Und da hab ich natürlich immer bei Migros eingekauft. Mein Frühstück war eine Tafel Schokolade. Bei Migros für 40 Rappen, das waren damals 30 Pfennig. Vorzügliche Schokolade!"
Migros, das ist die schweizerische Variante der Konsumgenossenschaft. Firmengründer Duttweiler wandelte seinen Laden 1941 in eine Genossenschaft um, übergab das Geschäft den Angestellten und Kunden. Das Filialnetz wuchs durch clevere Ideen Duttweilers, schwärmt Günter Faltin:
"Einfach sein, sparsam wirtschaften, versuchen, alles wegzulassen, was man nicht braucht, den Vergleich herzustellen - das war damals was Neues. Also, er hat immer alles auf 100 Gramm umgerechnet und auf seine Produkte gemacht. Große Packungen. Natürlich Großpackungen. Und seine Idee war: Nicht Geschäfte zu machen, sondern stattdessen Lastwagen, also ein Lastwagen ersetzte ungefähr 20 Geschäfte, die Leute mussten wie bei der Omnibushaltestelle zu den festgelegten Zeiten warten und dann wurde vom Lastwagen darunter verkauft. Das ist für mich ein großes Vorbild."
Faltin ist kein Apologet der Rechtsform Genossenschaft. Die Teekampagne wird über eine GmbH organisiert, demnächst soll sie in eine Stiftung umgewandelt werden. Und doch findet der Ökonom die alten Ideen der Genossenschaften gerade für uns heute inspirierend:
"Mit anderen zusammenarbeiten, auf die Interessen der anderen achten. Nicht so ein Egomane-'Ichling' sein. Das ist ein alter Teil des Genossenschaftsgedankens gewesen. Den Profit zu sehen, dass er wichtig ist, aber ihn nicht als das alleinige oder wichtigste Ziel sehen, also Aufgeschlossenheit für Überschüsse, aber auch ein Stück weit es richtig einordnen, und dem nicht so als höchstes oder einziges Ziel - Überschuss ansehen. Das geglückte Leben, das geglückte Leben hat viel mit den Beziehungen zu anderen zu tun. Genossenschaft war ja immer: Nicht ich allein, sondern ich mit anderen. Das ist ein hochmoderner Gedanke."
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