Alternativen zu den wirtschaftspolitischen Grausamkeiten
Rudolf Hickel, renommierter Wirtschafts- und Finanzwissenschaftler an der Universität Bremen hat mit seinem kleinen Büchlein eine Streitschrift gegen die herrschende ökonomische Orthodoxie des Neoliberalismus vorgelegt.
Was ihn von anderen Kritikern der derzeit dominierenden Vodoo-Ökonomie unterscheidet, ist der sachlich zurückhaltende Tonfall. Hickel vermeidet das anklagende Pathos und bleibt im Rahmen traditioneller ökonomischer Redeweisen. Er appelliert nicht an Gefühle, sondern an den Verstand seiner Leser. Damit natürlich wird er zum Rufer in der Wüste:
"In den letzten Jahren ist die Globalisierung zur Rechtfertigung des Abbaus der sozialen Marktgesellschaft hinzugefügt worden. Die große Mehrheit der Medien sieht sich heute der Aufgabe verpflichtet, die neoliberalen Welterklärungsmodelle als 'Sachzwänge' zu verdolmetschen. Statt gesamtwirtschaftlicher Analyse dominiert Denkfaulheit, deren Ergebnisse zugleich Sympathien bei den hochgelobten Unternehmen und ihren Verbänden auslösen."
Hickel geht die gesamte Litanei durch: Lohnkürzung, Abbau von Arbeitnehmerrechten, Begrenzung der Staatstätigkeit, Deregulierung der Wirtschaft – das gesamte Repertoire der aktuellen wirtschaftspolitischen Grausamkeiten wird in den verschiedenen Kapiteln kenntnisreich und didaktisch gut aufbereitet dekliniert. Im Grunde genommen geht es dabei immer um das alte Problem, dass der individuelle Gewinn sich selten zu einem kollektiven Nutzen saldiert. Die aus der Sicht des Einzelunternehmens klug erscheinende Lohnkürzung führt gesamtwirtschaftlich zu sinkender Nachfrage und hat negative Einflüsse auf das Wirtschaftswachstum. Alles bekannte Zusammenhänge, die Hickel hier auflistet. Aber Theorien haben bekanntlich wichtigere Eigenschaften als wahr zu sein. In kaum verhohlenem Zorn zieht er über die Zunft seiner Kollegen her, die eine offensichtlich problematische Denkweise propagieren.
"Dass heute in der deutschen Wirtschaftswissenschaft ein gegen innerwissenschaftliche Kritik gerichtetes Großkartell der ökonomischen Mehrheitsmeinung vorherrscht, steht im Widerspruch zu einer der Aufklärung verpflichteten Wissenschaft in einer offenen Gesellschaft. ... Die beherrschende 'mainstream economics' neigt dazu, selbst auf das von Karl Popper entwickelte Prinzip der Falsifizierung zu verzichten, also jenes wissenschaftlichen Beweisverfahrens, nach dem eine Theorie nur dann gültig sein kann, wenn die Versuche ihrer Widerlegung gescheitert sind."
Hickels ansonsten unaufgeregte und fundierte Darstellungsweise ist zugleich auch sein größtes Problem. Er hat im Prinzip nichts Neues zu sagen, keine revolutionären Einsichten oder Forderungen. Er erinnert an die Lehren von Keynes und die Ideen der sozialen Marktwirtschaft – Konzepte, die nicht schon deshalb falsch sind, weil sie die kleinen Funktionäre der ökonomischen Orthopädie in den Redaktionsstuben, Think Tanks und Universitäten wie intellektuellen Sondermüll behandeln. Arbeit und Kapital stehen sich eben nicht unter idealen Marktbedingungen gegenüber, Lohnverzicht führt nicht zu mehr Arbeitsplätzen und die Kategorie der Macht muss in der ökonomischen Theoriebildung berücksichtigt werden, wenn man zu realistischen Modellen und Erkenntnissen kommen will. Hickel zeigt es für jeden nachvollziehbar auf.
Ziemlich am Schluss, im abschließenden Kapitel des Buches, in dem Hickel sieben Gründe für eine andere Wirtschaftspolitik auflistet, fällt der Satz, auf den der Leser, der sein ökonomischen Wissen nicht nur aus dem Wirtschaftsteil der bürgerlichen Presse bezieht, 200 Seiten lang gewartet hat.
"Deutschland lebt nicht über, sondern durch eine falsche Politik unter seinen sozial-ökonomischen Verhältnissen. Die geistigen und materiellen Produktivkräfte sind immer noch gut. Das Problem ist der Umgang mit ihnen; zugespitzt sind es die heute prägenden Produktionsverhältnisse. Die Ausrichtung des Wirtschaftens an den Regeln einzelwirtschaftlicher Gewinninteressen hat überhand genommen – auf Kosten der politischen Gestaltungsmöglichkeiten."
Dass selbst ein Autor wie Hickel den Ausdruck Produktionsverhältnisse nur mit dem Zusatz, es handle sich dabei um eine Zuspitzung, verwendet, ist ein kleiner, aber deutlicher Hinweis, wie weit die auferlegte Selbstzensur reicht.
Hickel ist alles andere als ein Revolutionär. Er ist gemäßigt in Ansatz und Sprache. Im Vergleich zu Autoren wie Paul Krugman, dem amerikanischen Renegaten unter den Wirtschaftswissenschaftlern wirkt sein Text geradezu bieder deutsch. Wenn man seine Auseinandersetzung mit den Hedgefonds, die Müntefering als Heuschrecken tituliert hat, liest, dann könnte man diesen Text durchaus auch beim Jahrestreffen des BDI als kritisch-exotisches Rahmenprogramm vortragen: differenziert, zurückhaltend und klar zeigt er, wie das international frei flottierende Kapital auf dem Rücken der abhängig Beschäftigten seine Profite macht.
Bleibt am Schluss die Frage, warum Hickels Einsichten nur die Position einer Minderheit darstellen. Vermutlich liegt es daran, dass die meisten, die es betrifft, sich nicht mit wirtschaftstheoretischen Überlegungen auseinandersetzen. Für die Thesen, die man der Öffentlichkeit mediengerecht in kleine Happen als eherne ökonomische Gesetzmäßigkeit verkauft, gilt der Satz jenes Autors, der sich schon vor langer Zeit erhellend über Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse im Kapitalismus ausgelassen hat: die herrschende Meinung ist in aller Regel die Meinung der Herrschenden. Leider läuft Hickel nicht zur rhetorischen Form eines Karl Marx auf, ihm gelingt es nicht, griffig zuzuspitzen, dafür ist er zu sehr deutscher Professor. Und diese Spezies hofft bekanntlich auf die Kraft des besseren Arguments, das sich in vielen gelehrten Büchern zu entfalten hat. Hickels Buch ist da leider keine Ausnahme. Es ist lesenswert, man wünscht ihm eine weite Verbreitung und intensive Lektüre. Doch ob durch die bessere Einsicht sich schon etwas an den ökonomisch bedingten Machtverhältnissen ändert, die der Autor so gekonnt beschreibt, daran mag man am Ende doch zweifeln.
Rudolf Hickel: Kassensturz. Sieben Gründe für eine andere Wirtschaftspolitik
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2006
"In den letzten Jahren ist die Globalisierung zur Rechtfertigung des Abbaus der sozialen Marktgesellschaft hinzugefügt worden. Die große Mehrheit der Medien sieht sich heute der Aufgabe verpflichtet, die neoliberalen Welterklärungsmodelle als 'Sachzwänge' zu verdolmetschen. Statt gesamtwirtschaftlicher Analyse dominiert Denkfaulheit, deren Ergebnisse zugleich Sympathien bei den hochgelobten Unternehmen und ihren Verbänden auslösen."
Hickel geht die gesamte Litanei durch: Lohnkürzung, Abbau von Arbeitnehmerrechten, Begrenzung der Staatstätigkeit, Deregulierung der Wirtschaft – das gesamte Repertoire der aktuellen wirtschaftspolitischen Grausamkeiten wird in den verschiedenen Kapiteln kenntnisreich und didaktisch gut aufbereitet dekliniert. Im Grunde genommen geht es dabei immer um das alte Problem, dass der individuelle Gewinn sich selten zu einem kollektiven Nutzen saldiert. Die aus der Sicht des Einzelunternehmens klug erscheinende Lohnkürzung führt gesamtwirtschaftlich zu sinkender Nachfrage und hat negative Einflüsse auf das Wirtschaftswachstum. Alles bekannte Zusammenhänge, die Hickel hier auflistet. Aber Theorien haben bekanntlich wichtigere Eigenschaften als wahr zu sein. In kaum verhohlenem Zorn zieht er über die Zunft seiner Kollegen her, die eine offensichtlich problematische Denkweise propagieren.
"Dass heute in der deutschen Wirtschaftswissenschaft ein gegen innerwissenschaftliche Kritik gerichtetes Großkartell der ökonomischen Mehrheitsmeinung vorherrscht, steht im Widerspruch zu einer der Aufklärung verpflichteten Wissenschaft in einer offenen Gesellschaft. ... Die beherrschende 'mainstream economics' neigt dazu, selbst auf das von Karl Popper entwickelte Prinzip der Falsifizierung zu verzichten, also jenes wissenschaftlichen Beweisverfahrens, nach dem eine Theorie nur dann gültig sein kann, wenn die Versuche ihrer Widerlegung gescheitert sind."
Hickels ansonsten unaufgeregte und fundierte Darstellungsweise ist zugleich auch sein größtes Problem. Er hat im Prinzip nichts Neues zu sagen, keine revolutionären Einsichten oder Forderungen. Er erinnert an die Lehren von Keynes und die Ideen der sozialen Marktwirtschaft – Konzepte, die nicht schon deshalb falsch sind, weil sie die kleinen Funktionäre der ökonomischen Orthopädie in den Redaktionsstuben, Think Tanks und Universitäten wie intellektuellen Sondermüll behandeln. Arbeit und Kapital stehen sich eben nicht unter idealen Marktbedingungen gegenüber, Lohnverzicht führt nicht zu mehr Arbeitsplätzen und die Kategorie der Macht muss in der ökonomischen Theoriebildung berücksichtigt werden, wenn man zu realistischen Modellen und Erkenntnissen kommen will. Hickel zeigt es für jeden nachvollziehbar auf.
Ziemlich am Schluss, im abschließenden Kapitel des Buches, in dem Hickel sieben Gründe für eine andere Wirtschaftspolitik auflistet, fällt der Satz, auf den der Leser, der sein ökonomischen Wissen nicht nur aus dem Wirtschaftsteil der bürgerlichen Presse bezieht, 200 Seiten lang gewartet hat.
"Deutschland lebt nicht über, sondern durch eine falsche Politik unter seinen sozial-ökonomischen Verhältnissen. Die geistigen und materiellen Produktivkräfte sind immer noch gut. Das Problem ist der Umgang mit ihnen; zugespitzt sind es die heute prägenden Produktionsverhältnisse. Die Ausrichtung des Wirtschaftens an den Regeln einzelwirtschaftlicher Gewinninteressen hat überhand genommen – auf Kosten der politischen Gestaltungsmöglichkeiten."
Dass selbst ein Autor wie Hickel den Ausdruck Produktionsverhältnisse nur mit dem Zusatz, es handle sich dabei um eine Zuspitzung, verwendet, ist ein kleiner, aber deutlicher Hinweis, wie weit die auferlegte Selbstzensur reicht.
Hickel ist alles andere als ein Revolutionär. Er ist gemäßigt in Ansatz und Sprache. Im Vergleich zu Autoren wie Paul Krugman, dem amerikanischen Renegaten unter den Wirtschaftswissenschaftlern wirkt sein Text geradezu bieder deutsch. Wenn man seine Auseinandersetzung mit den Hedgefonds, die Müntefering als Heuschrecken tituliert hat, liest, dann könnte man diesen Text durchaus auch beim Jahrestreffen des BDI als kritisch-exotisches Rahmenprogramm vortragen: differenziert, zurückhaltend und klar zeigt er, wie das international frei flottierende Kapital auf dem Rücken der abhängig Beschäftigten seine Profite macht.
Bleibt am Schluss die Frage, warum Hickels Einsichten nur die Position einer Minderheit darstellen. Vermutlich liegt es daran, dass die meisten, die es betrifft, sich nicht mit wirtschaftstheoretischen Überlegungen auseinandersetzen. Für die Thesen, die man der Öffentlichkeit mediengerecht in kleine Happen als eherne ökonomische Gesetzmäßigkeit verkauft, gilt der Satz jenes Autors, der sich schon vor langer Zeit erhellend über Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse im Kapitalismus ausgelassen hat: die herrschende Meinung ist in aller Regel die Meinung der Herrschenden. Leider läuft Hickel nicht zur rhetorischen Form eines Karl Marx auf, ihm gelingt es nicht, griffig zuzuspitzen, dafür ist er zu sehr deutscher Professor. Und diese Spezies hofft bekanntlich auf die Kraft des besseren Arguments, das sich in vielen gelehrten Büchern zu entfalten hat. Hickels Buch ist da leider keine Ausnahme. Es ist lesenswert, man wünscht ihm eine weite Verbreitung und intensive Lektüre. Doch ob durch die bessere Einsicht sich schon etwas an den ökonomisch bedingten Machtverhältnissen ändert, die der Autor so gekonnt beschreibt, daran mag man am Ende doch zweifeln.
Rudolf Hickel: Kassensturz. Sieben Gründe für eine andere Wirtschaftspolitik
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2006