Alternativer Nobelpreisträger

"Bei Belo Monte geht man über Leichen"

Menschen protestieren am 8.2.2011 gegen das Staudamm-Projekt Belo Monte am Rio Xingu in Brasilien
Demonstration gegen das Staudamm-Projekt Belo Monte am Rio Xingu in Brasilien © picture-alliance / dpa / Joedson Alves
Erwin Kräutler im Gespräch mit Philipp Gessler |
Seit Jahrzehnten setzt sich Erwin Kräutler für die Rechte der Indianer am Amazonas ein. Es gehe nicht an, dass ein Wirtschaftssystem Menschen für überflüssig erkläre, sagt der österreichisch-brasilianische Bischof.
Philipp Gessler: 354.000 Quadratkilometer – so riesig ist die größte Diözese Brasiliens, 354.000 Quadratkilometer, das entspricht etwa der Fläche Deutschlands. Diese Mega-Diözese mit dem Namen Xingu liegt im Amazonas-Gebiet – und sie wird geleitet von dem österreichisch-brasilianischen Bischof Erwin Kräutler. Seit Jahrzehnten setzt sich Dom Erwin, wie er genannt wird, für die Rechte der Indios ein – er sorgt dafür, dass ihre natürlichen Lebensgrundlagen nicht zerstört werden, die Natur, von der sie leben. Das hat ihm den Hass von Landbesitzern und von Unternehmensführern eingebracht, die diese Gegend ausbeuten wollen. Es gab schon mehrere Morddrohungen gegen Bischof Kräutler – aber der Träger des Alternativen Nobelpreises lässt sich nicht abbringen von seinem befreiungstheologisch inspirierten Kampf für die Ausgebeuteten. So kämpft er nicht zuletzt gegen ein riesiges Staudammprojekt mit dem Namen Belo Monte. Nun ist Dom Erwins Autobiografie erschienen, in wenigen Wochen wird er 75 Jahre alt. Ein guter Anlass für ein Interview mit Bischof Kräutler. Ich konnte ihn in seiner österreichischen Heimat anrufen, wo er sich derzeit befindet. Meine erste Frage an ihn war, ob er sich wenigstens im Vorarlbergischen sicher fühle – trotz der Morddrohungen gegen ihn in Brasilien.
Erwin Kräutler: Ja, das ist irgendwie eine Insel der Seligen, wo ich jetzt bin. Ich bin in meinem Heimatort, und da brauche ich natürlich keine polizeiliche Unterstützung. Ich kann gehen und kommen, wann und wie ich will, und für mich ist das persönlich auch sehr gut.
Gessler: Das heißt, normalerweise sind Sie in Brasilien immer von Body Guards umgeben?
Kräutler: Ich bin unter Polizeischutz, 24 Stunden, rund um die Uhr.
Gessler: Fühlen Sie sich tatsächlich immer sehr nahe am Tod?
"Immer darauf hingewiesen, dass es zu gefährlich ist"
Kräutler: Nein, das ist nicht so. Also, klar, es hat damals unmissverständliche Drohungen gegeben und die Polizei hat dann, oder die Sicherheitsbehörden haben beschlossen, dass ich unter Polizeischutz zu stehen komme. Und man weiß ja nie – öfters habe ich gebeten, man soll die Polizisten jetzt zurückziehen, aber die Sicherheitsbehörden haben immer darauf hingewiesen, dass es zu gefährlich ist. Und ich müsste da eine richtige Erklärung abgeben, dass ich auf alles und jedes verzichte, und dann hat man mir gesagt, die Behörden werden sich natürlich, wenn nur irgendwas Kleines passiert, werden sie sich die Hände waschen. Und da hat man mir einfach angeraten, ich soll das weiterhin in Anspruch nehmen.
Gessler: Aber Sie schlafen jetzt nicht schlecht, weil es diese Morddrohungen gibt?
Erwin Kräutler, Bischof von Xingu, der flächenmäßig größten Diözese Brasiliens, bei einer Pressekonferenz am 6.12.2010 in Stockholm
Erwin Kräutler, Bischof von Xingu, der flächenmäßig größten Diözese Brasiliens© picture-alliance / dpa / Jessica Gow
Kräutler: Ja, mit dem Schlaf – ja, am Anfang war das nicht so einfach. Am Anfang, klar, psychologisch ist man da unter Druck. Aber heute – ich würde nicht sagen, das ich mich daran gewöhnt habe, aber heute ist das so wie eine Realität, die ich ja jetzt nicht abwenden kann. Ich stehe unter Polizeischutz, die gehen überall hin mit mir, wo ich bin. Ich kann keinen Schritt über die Schwelle, Hausschwelle tun. Bei allen Versammlungen oder Messfeiern, wo immer ich einfach bin, ob das jetzt im Busch ist oder vor Ort, das ist egal, sie sind immer mit dabei, zwei oder drei.
Gessler: Ich würde gern mit Ihnen auch noch ein bisschen über die Befreiungstheologie sprechen, der Sie sich verpflichtet fühlen. Sie sagen ja immer wieder, sie sei nicht tot, sondern lebendig. Ich hab mich da gefragt, hat denn die jahrelange De-facto-Bekämpfung der Befreiungstheologie durch den Vatikan keinerlei Wirkung gezeigt?
"Etwas unternehmen, dass diese Armut wenigstens gemildert wird"
Kräutler: Ja, man hat nicht mehr viel darüber gesprochen, sagen wir mal so. Also das Wort Befreiungstheologie oder Befreiung, das kam nicht mehr oft vor im täglichen Jargon von der Kirche. Aber die Anliegen der Befreiungstheologie sind nach wie vor da, und ich möchte den Papst jetzt nicht vereinnahmen als Befreiungstheologe, aber er vertritt genau die Anliegen, die wir immer vertreten haben. Es geht darum, nicht nur auf die Armut hinzuweisen, sondern mit den Leuten etwas zu unternehmen, dass diese Armut wenigstens gemildert wird, und auch die Strukturen anzuprangern, die schlussendlich verantwortlich sind für die Kluft zwischen reich und arm. Darum geht es. Es geht nicht nur um Almosen, dass man irgendetwas gibt den Leuten, damit sie nicht am Hungertuch nagen, sondern es geht auch um die Klärung oder Definition der Strukturen, die tatsächlich verantwortlich sind, dass Menschen in Armut leben oder an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Und da will man, auch im Dokument von Apericida, wie es heißt, dass man Menschen als überflüssig oder Abfallprodukt erklärt. Da gehen wir eben auf die Barrikaden und sagen, so geht es nicht, das ist nicht im Sinne des Evangeliums. Wir bekämpfen solche Strukturen, die kurz- oder mittelfristig Leute in den Abgrund jagen.
Gessler: Jetzt sagt Pater Klaus Mertes hier in Deutschland, der Papst betreibe Befreiungstheologie minus Marxismus plus Volksfrömmigkeit. Wie finden Sie diese Definition? Kommt das hin?
Kräutler: Eine interessante Definition, ich habe die noch nicht gehört. Aber die klingt wirklich interessant. Obwohl ich sage, ich habe die Befreiungstheologie nie als marxistisch eingestuft. Meine Befreiungstheologie, die ich immer vertreten habe, ist grundbiblisch. Ich habe mich da nicht in marxistischer, leninistischer Nähe da gesehen oder interpretiert, der Papst natürlich auch. Aber plus Volksfrömmigkeit, da bin ich absolut überzeugt davon, weil der Papst ist ja auch gerade für Brasilien und für unsere kleinen Gemeinden – das gehört einfach dazu. Es sind Traditionen, die im tiefsten Herzen der Brasilianer verankert sind. Das kann man Europa noch sehr verstehen.
Gessler: Kann man denn eigentlich Befreiungstheologie betreiben, ohne dass marxistische Vokabular und ohne die marxistische Gesellschaftsanalyse?
Kräutler: Das ist eine gute Frage. Wie gesagt, es sind viele Dinge, die aus der Gesellschaftsanalyse gekommen sind, die heute allgemein in der Soziologie verwendet werden, auch in päpstlichen Enzykliken. Das heißt jetzt nicht, wenn man von den Klassen beispielsweise spricht, heißt das nicht, dass wir für den Klassenkampf sind, für blutige Revolutionen, die man vom Zaun bricht. Es geht ja nicht darum. Aber bestimmte Ausdrücke, Begriffe, die aus dieser Ecke her kommen, die sind heute allgemein gut, auch in der Soziologie und in den anderen Wissenschaften.
Gessler: Glauben Sie denn, dass der, sagen wir mal, antikapitalistische Kurs des Papstes, also dieser berühmte Satz mittlerweile "Diese Wirtschaft tötet" von Dauer sein wird, oder wird dieser Kurs sterben, sobald der Papst gestorben ist?
"Es gibt Wirtschaftssysteme, die tatsächlich töten"
Kräutler: Nein, das glaube ich wirklich nicht. Aber man muss das auch richtig interpretieren, meine ich. Die Wirtschaft tötet – es gibt Wirtschaftssysteme, die tatsächlich töten. Das heißt, das kann man nicht verallgemeinern sozusagen. Wir in Europa, da schaut die Geschichte manchmal ein bisschen anders aus, als gerade in Brasilien oder in Südamerika. Und ich weiß das, ich kann das auch selber sagen, dass bestimmte Wirtschaftsformen und -systeme töten. Das erlebe ich am Xingu, gut, das erlebe ich jetzt im Zusammenhang mit Belo Monte, wo man über Leichen geht und auch die Verfassung bricht, wenn es notwendig ist. Da, meine ich, das stirbt nicht aus. Das sehen wir nach wie vor. Das hängt nicht nur vom Papst ab, sondern das sind einfach Gegebenheiten, wo wir nicht mit können und sagen, das ist nicht im Sinne des Evangeliums.
Gessler: "Diese Wirtschaft tötet", damit meint er eine Wirtschaft, die ausbeutet.
Kräutler: Diese Wirtschaft, die tatsächlich Menschen degradiert zu Überflüssigen. Wenn ich an die indigenen Völker denke, die werden als überflüssig oder sogar als Wegwerfprodukte angesehen ist. Das ist Tod, physischer Tod oder auch kultureller Tod.
Gessler: Jetzt ist ja die soziale Marktwirtschaft hier in Deutschland oder auch in Österreich eine Institution oder eine Errungenschaft, auf die manche Leute sehr stolz sind, sozusagen, das hat eigentlich den Kapitalismus besänftigt, während in Brasilien angeblich der ganz harte Manchester-Kapitalismus noch funktioniert. Und deswegen sie dort das Reden von Ausbeutung gerechtfertigt, aber hier in Europa nicht. Finden Sie diese Unterscheidung sinnvoll?
Kräutler: Ich würde jetzt sagen, nicht, ich würde sagen, nicht so sehr. Weil es gibt natürlich auch oft Firmen, die beispielsweise die Turbinen liefern und denen es vollkommen egal ist, wie viele Menschen da im Zusammenhang mit Xingu, mit Belo Monte draufgehen. Das ist kein Thema, und da kann ich auch nicht mit.
Gessler: Das heißt, es sind im Grunde europäische Firmen, die solche Turbinen liefern und dann de facto mithelfen bei der Ausbeutung in Brasilien.
"Man schert sich keinen Deut darum, ob diese Verfassung tatsächlich eingehalten wird"
Kräutler: Ja, das kann man so sagen, weil man spricht immer von der Sicherung der Arbeitsplätze, aber ich frage mich, ist das ethisch, wenn man Arbeitsplätze hier in Europa sichert auf dem Schweiß und dem Blut von anderen Menschen? Oder, wie es ganz klar ist, man sagt, Brasilien ist ein Rechtsstaat, sagt man hier in Europa, und hat eine demokratisch gewählte Regierung, also ist der Fall jetzt in Ordnung. Aber man schert sich keinen Deut darum, überhaupt nicht, ob diese Verfassung tatsächlich eingehalten wird, ob dieser Rechtsstaat tatsächlich konkret realisiert wird. Und kein Komitee, keine Kommission kommt von einer dieser Firmen hinüber und schaut sich vor Ort an, was passiert. Da, meine ich, liegt der große Fehler.
Gessler: Wir haben ja über die Befreiungstheologie gesprochen und die Frage, wie lebendig sie ist. Allerdings, zumindest von hier, von Europa aus betrachtet, dann doch etwas in die Defensive gekommen in den letzten Jahren. Liegt das nicht eher an den Pfingstkirchen als an anderen Entwicklungen?
Kräutler: Man sagt immer, die katholische Kirche verliert gegenüber diesen Freikirchen. Ich meine, es gibt Leute, die sind getauft worden, aber haben nie ein, sagen wir mal, ein gemeinschaftliches Leben geführt. Das ist genauso wie in Österreich. Es gibt Leute, die sind getauft, die haben kaum was am Hut mit der Kirche. Das ist in Brasilien auch wieder der Fall. Da kommen solche Prediger daher, und oft verspricht man Ihnen auch den Himmel auf Erden und so, und es gibt viele Leute, die gehen da dazu, gehen dann wieder weg oder schließen sich anderen Gemeinschaften an. Das ist alles fluktuierend. Pfingstkirchen versus Befreiungstheologie, das glaube ich nicht, dass das so verstanden werden kann. Beispielsweise der ehemalige Kardinal von Rio de Janeiro, Eugenio Salis, ist schon verstorben, war ja wirklich kein Vertreter der Befreiungstheologie, absolut nicht, im Gegenteil. Und gerade in dieser Erzdiözese von Rio de Janeiro, da sind diese Freikirchen sehr, sehr stark vertreten, während in anderen Diözesen quer durch Brasilien, in denen ein Bischof eher auf der Linie dieser befreiungstheologischen Reflexion ist, das nicht so der Fall ist.
Gessler: Ich möchte Ihnen doch noch zwei Fragen stellen zur Fußballweltmeisterschaft, das bietet sich einfach an. Die wichtigste Frage ist natürlich, wer wird Fußballweltmeister?
Kräutler: Ich denke schon, dass es Brasilien wird. Ich kann da nicht anders, ich bin selber Brasilianer.
Gessler: Und wer ist im Finale mit Brasilien?
Kräutler: Das weiß ich nicht, also da – ich weiß nicht, ob Deutschland – Deutschland hat natürlich Chancen. Spanien – das kann man nicht absehen. Ich weiß es wirklich nicht. Man muss jetzt schauen, ich glaube, die ersten Matches, die sind jetzt wichtig, dass man sich ein Bild machen kann davon.
Gessler: Noch mal ernst gefragt: Braucht das Land, also braucht Brasilien den Sieg in der Fußballweltmeisterschaft, um wieder zusammenzuwachsen?
"Vor allem junge Leute sind sehr, sehr skeptisch geworden"
Kräutler: Nein. Das hat mit dem nichts zu tun, meine ich. Der Schuss geht ins Knie, weil die Leute sind heute – seit Juni vergangenen Jahres sind vor allem junge Leute sehr, sehr skeptisch geworden. Es gibt den Slogan "WM – für wen und wofür". Es ist ganz anders geworden, weil die Leute spüren, dass da unendlich viele Gelder verschwendet worden sind, damit diese Stadien WM-Standards bekommen. Es sind ja zwölf Austragungsorte. Ich möchte sagen, vier oder fünf, da sind die Stadien, ich möchte fast sagen, auch nachher wieder voll. Aber in allen anderen nicht. Das sind weiße Elefanten, die man da gebaut hat. Und da geht es um über zehn Milliarden Euro. Ich meine, das ist ja kein Gnadenwasser, was man da hineingebuttert hat. Und dieses Geld wird fehlen und fehlt. Unsere Leute sagen heute, wenn man schon vom FIFA-Standard für Stadien spricht und diese Infrastruktur. Wir brauchen FIFA-Standards für die Bildung, für die Erziehung, für die Schulen, ganz besonders im Gesundheitswesen, für öffentliche Sicherheit, für das Transportwesen. Also das, was wir als Lebensqualität anschauen, da brauchen wir die FIFA-Standards, und die gibt es eben nicht.
Gessler: Also ist Fußball auch in Brasilien nicht mehr Opium des Volkes?
Kräutler: Nein. Genauso würde ich das sagen. Es gibt sicher wieder Ausschreitungen in dieser Hinsicht, dass die Leute hier einfach jubeln. Ich meine, wenn wir Weltmeister werden, gibt es sicher drei Tage eine Jubelstimmung sondergleichen, aber es gibt dann auch das Erwachen nach diesem Jubel. Und da ist die Realität dann eben nicht anders geworden, und da kommt es dann schön langsam: Was hat uns eigentlich der Weltmeister wieder gebracht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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