Marc Engelhardt (Hrsg.): Völlig utopisch. 17 Beispiele einer besseren Welt
Pantheon Verlag, München 2014
272 Seiten, 14,99 Euro
Vom Mut zum Anderssein
"Utopische Träume sind oft nur vorzeitige Wahrheiten." Der Satz des französischen Romantikers Alphonse de Lamartine wäre ein gutes Motto für dieses Buch. Hier kommen Menschen zu Wort, die versuchen ihren Alltag anders zu leben als es die herrschende Logik des "immer mehr, immer schneller, immer eigennütziger" verlangt. Die Lebensentwürfe regen zum Nachdenken an.
17 Autorinnen und Autoren des Journalistennetzwerkes "Weltreporter" berichten hier von Menschen aus Neuseeland, Süd- und Nordamerika, aus Russland und China, Indonesien und Israel sowie einigen europäischen und afrikanischen Ländern. Sie schreiben über den Einsiedler Robert Long, der sich drei Tageswanderungen vom nächsten Ort entfernt im neuseeländischen Busch ansiedelte, und dem sich seine Frau Catherine anschloss.
Am Anfang besaßen die beiden nur einen Meißel, heute ziert ihre Hütte dank seiner gut verkäuflichen Kunstwerke eine Solarstromanlage und eine Satellitenschüssel. Sie erzählen von den Bewohnern von Slab City, einer Wohnwagen-Siedlung in der kalifornischen Wüste: Hier herrscht weitgehend Anarchie, ein rechtsfreier Raum, den einige selbst gesucht haben und gut nutzen, in den andere aber nur aus nackter Not zogen. Oder sie erklären, warum die argentinischen Arbeiter in Neuquén im nördlichen Patagonien 2001 eine Fliesenfabrik besetzten und wie sie es seither schaffen, die Fertigung ohne Chefs und mit Einheitslohn erfolgreich zu betreiben.
Nicht alle Geschichten berichten von "besseren" Menschen
Die Autoren beschreiben genau, was ihre Protagonisten fühlen und denken. Ihre Reportagen sind alle gut geschrieben. Die "Weltreporter" verstehen ihr Handwerk. Zwar entsprechen die beschriebenen Lebensentwürfe nicht immer dem Anspruch, den Ilja Trojanow im Vorwort formuliert, Keimzellen einer besseren Welt zu sein. Doch das ist nur ein vermeintliches Manko. Am Ende wird es zu einer Stärke des Buches. Weil nicht alle Geschichten zwanghaft von einer "besseren" Welt und "besseren" Menschen berichten, bleibt die Lektüre bis zum Ende interessant.
Die Geschichte der Urwaldbewohner in Neuseeland ist eher ein Beispiel von individueller Flucht, die einer Hippiekommune in Brasiliens eins von gelebter Esoterik und gutem Geschäftssinn. Faszinierend ist das Leben der Sedulur Sikep Gemeinschaft im Kendeng-Gebirge der indonesischen Insel Java, die eine ländliche Art von Ursozialismus lebt - Konflikte mit dem Staat sind wegen der Ablehnung von Religion, Schulpflicht und Steuern an der Tagesordnung. Ob es sich dabei um eine "Keimzelle" handelt oder eine bizarre Lebensform, das bleibt dem Urteil des Lesers überlassen.
Wenn Träume zu Wahrheiten werden
Beindruckend erzählt wird, wie in Israel im Dorf Kishorit nahe der libanesischen Grenze in einem Kibbuz 155 Menschen mit Behinderungen als Kollektiv zusammenleben - und zwar Araber, Juden und Christen. Oder was passierte, als im namibischen Dorf Otjivero das bedingungslose Grundeinkommen eingeführt wurde. Das ermöglichte einen beispiellosen Aufschwung. An all diesen Orten beginnen im Kleinen große Veränderungen - und nach der Lektüre versteht man, warum Alphonse de Lamartine Recht hat: Träume können zu Wahrheiten werden.