Firma ohne Chef, aber mit "Verfassung"
Verantwortung ja, strenge Hierarchie nein. Das Berliner Unternehmen "Betterplace Lab" arbeitet seit gut einem Jahr ohne Chef. Wichtige Entscheidungen werden hier mit einer Zweidrittelmehrheit getroffen.
Im fünften Stock eines Loftgebäudes am Spreeufer in Berlin-Kreuzberg öffne ich eine Bürotür. Zwölf Mitarbeiter, die hier tagein tagaus reingehen, müssen keinen nervigen Boss befürchten. Das Betterplace Lab arbeitet seit etwa einem Jahr ohne ihre Chefin, die kürzer treten wollte. Statt sich einen Ersatzchef zu suchen, stießen die Mitarbeiter auf ein vielversprechendes Buch, "Reinventing Organisations".
"Kompetenzbasierte Hierarchie"
In der lichtdurchfluteten Küche erklärt mir Mitarbeiter Dennis Buchmann, worum es dem Buch-Autor Frederic Laloux geht:
"Da beschreibt an verschiedenen Beispielen von großen Firmen bis zu kleinen Firmen wie diese kompetenzbasierte Hierarchie angewendet wird, also einfach nur dieses Prinzip, dass die Leute entscheiden, die die beste Ahnung haben und Verantwortung nicht immer nur in einer Spitze konzentriert ist."
Kompetenzbasiertes Arbeiten sieht hier so aus: Das Betterplace Lab ist eine Art Forschungsabteilung der gemeinnützigen Aktiengesellschaft gut.org, die unter anderem eine Internet-Spendenplattform betreibt. Das Lab erforscht digitale Trends und fragt dabei, wie die sich für gute Zwecke nutzen lassen können. Zum Beispiel, welche App-Angebote könnten wie verändert werden, um sie für Flüchtlinge attraktiver zu machen. Die Arbeit ist in Projekten organisiert. Statt einer Chefin hat die Abteilung viele selbstverantwortliche Projektleiter. Geregelt ist das in einer "Verfassung", die sich die Mitarbeiter selbst gegeben haben - nach monatelangem Diskutieren.
Wichtige Entscheidungen, die das Lab als Ganzes betreffen, werden mit Zweidrittelmehrheit entschieden. Wo? Im Teammeeting, zu dem ich mich heute mal dazu setze. Tagesordnungpunkt 1: Wie geht es uns eigentlich? Tim Meyer guckt etwas strenger und antwortet:
"Ja, mir geht es so mittelmäßig. Das Schöne hat Franzi gerade jetzt schon, was heißt hat Franzi nicht erwähnt, aber dass das Betterplace Storytelling-Lab-Video endlich fertig ist. Deswegen geht es mir eigentlich gut, aber mir geht's nicht so gut mit dem Projekt, das Pia gerade erwähnt hat."
Tim befürchtet, dass zusätzliche Kosten auf das Lab zukommen und fragt sich, wie er damit umgehen soll. In Rechnung stellen oder nicht? Ob das Angebot rechtzeitig fertig wird, ist auch nicht klar. Es ist beeindruckend, wie offen das Team darüber spricht. Ich stelle mir vor, wie in klassischen Firmen mit einem Chef sowas jetzt vielleicht runtergespielt würde, um bloß nicht blöd dazustehen.
Alles muss auf den Tisch
Im Betterplace Lab muss aber alles auf den Tisch, was die Mitarbeiter tun und entscheiden: Projektfortschritte, Erfolge, Misserfolge, Urlaubszeiten und Abwesenheiten. Regelmäßig berichten die Mitarbeiter über ihre sogenannte Meilensteine auf dem Weg zu ihrem Projektziel. Das soll verhindern, dass Dinge ausufern, nicht vorankommen oder zu viel kosten.
Nach anderthalb Stunden ist das Teammeeting vorbei. Ich will wissen, wie die besonders pikanten Themen geregelt werden. Wie legt ihr fest, wer wieviel Geld bekommt? Franziska Kreische holt aus:
"Dem Ganzen geht bisschen was voraus. Feedbackprozesse, Feedbackschleifen. Dann schreibe ich meinen Gehaltspitch. Dann gibt's parallel natürlich auch noch 'nen Blick auf das Budget, im nächsten Jahr. Dann gibt es dieses Meeting, an der Stelle treffen sich alle. Dann darf jeder jedem nochmal Feedback geben nochmal so kurz, also meine Kollegin will nächstes Jahr Gehalt X verdienen und ich darf dann praktisch meine Meinung dazu abgeben und ganz konstruktiv eben sagen: 'Ja, find' ich gut oder hey du, ganz ehrlich vielleicht noch bisschen weiter runter oder weiter hoch.' Im Endeffekt gilt auch hier Zweidrittelmehrheit."
Okay, und was ist, wenn ich mich mit einem Mitarbeiter streite, was passiert dann?
"Wir haben vier Konfliktstufen. Ich suche die Lösung in mir. Dann suche ich die Lösung mit dir, wir suchen die Lösung mit einem Vermittler und der vermittelt dann und die vierte Stufe wäre dann, wir suchen die Lösung mit einem Entscheider also derjenige entscheidet dann auch für oder gegen die Meinung des Einen von uns."
Nach dem Teammeeting führt mich Dennis Buchmann ins Herzstück des Büros und ich bekomme einen Einblick, wie der Laden so läuft:
"Hier links ist die erste sogenannte Insel. Da arbeiten die ganzen Projekt- und Organisationsbetreuer. Die kümmern sich um die Leute, die Spendenprojekte online stellen und Fragen haben. Das ist das gut.org-Großraumbüro mit einigen Rückzugsmöglichkeiten. Mit dieser schönen Almhütte. Dann gibt es noch die Telefonzelle, in der man telefonieren kann und nicht die anderen stört und hier hinter, das ist die sogenannte Nerdecke, sind gerade keine Nerds da, denn die sind ja auch sehr scheu immer, aber das sind alles hier Programmierer, die hier hard coden."
Auf dem Kreativ-Spielplatz
Hard coden - noch nie gehört, aber so nennt sich das also, wenn Programmierer arbeiten. Almhütte, Nerdecke, Telefonzelle: Vielleicht funktioniert das cheflose Lab gerade deshalb, weil sich die Kollegen nicht so ernst nehmen, das Büro wie ein kreativer Spielplatz rüberkommt, alle miteinander unverkrampft reden. So scheint das Team für bisher jedes Problem irgendwie eine Lösung gefunden zu haben - für wirklich jedes, wie mir Dennis Buchmann an einem Beispiel deutlich machen will:
"Bei der Ablassapp hatten wir die grandiose Idee, dass man doch eine App dafür bauen könnte, um von seinen Sünden abzulassen: Da gibt es doch diesen - wie heißt der Tetzlaff, der hat damals diese Ablassbriefe verkauft und wir dachten, das ist doch ein Supermodell, wenn man abends zu hart gesoffen hat, dann kann man nächsten Tag sich von seinem schlechten Gewissen freikaufen, indem man an die anonymen Alkoholiker spendet. Das ist durchaus provokant, aber sowas gefällt uns ja im Betterplace Lab, die einzelnen Todsünden, die es so gibt."