Ungleichheit bis in den Tod

Wer arm ist, stirbt früher

Eine jüngere Hand hält eine ältere Hand.
Sterben muss jeder: Doch wer in Deutschland Geld hat, lebt im Durchschnitt einige Jahre länger © Getty Images / Catherine Falls Commercial
Ein Kommentar von Silke van Dyk |
Unsere Gesellschaft wird älter. Einen Generationenkonflikt gibt es trotzdem nicht, sagt die Soziologin Silke van Dyk. Das Problem sei vielmehr die ungleiche Verteilung von Eigentum – mit tödlichen Folgen.
Die wachsende Zahl älterer Menschen werde ihre Machtposition für eine Klientelpolitik zulasten jüngerer Generationen nutzen. So oder ähnlich hört man es immer wieder. Wer über den real existierenden Zustand vieler Pflegeheime nachdenkt, mag sich bei solchen Aussagen bereits jetzt verwundert die Augen reiben.

Altersfeindlichkeit statt Lösungen

Dass der Anteil älterer Menschen infolge steigender Lebenserwartung und niedriger Geburtenraten zunimmt, ist ein empirischer Fakt. Dass diese Entwicklung selbstverständlich als Überalterung beschrieben wird, ist hingegen Ausdruck von Altersfeindlichkeit. Es gibt keine ideale oder richtige Altersstruktur einer Gesellschaft. Selbstverständlich sind mit einer wachsenden Anzahl älterer Menschen Herausforderungen für die Gesundheits-, Pflege- und Rentenpolitik verbunden. Versorgungsprobleme oder Altersarmut entstehen aber nicht durch die bloße Anzahl Älterer, sondern durch politische Entscheidungen.

Kein Generationenkonflikt

Öffentlichkeitswirksam wird ein potenzieller Verteilungskonflikt zwischen Alt und Jung beschworen, während der eigentliche Skandal – die Verteilung zwischen Arm und Reich – in der Debatte um die alternde Gesellschaft kaum thematisiert wird. Beharrlich hält sich das Szenario zunehmender Generationenkonflikte, obwohl Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler seit Jahren vergeblich nach ihnen suchen.
Wonach man hingegen nicht lange suchen muss, ist die gut belegte Konzentration privater Vermögen in Deutschland: Das reichste Prozent der Bevölkerung besitzt mehr als ein Drittel aller Vermögenswerte, während die untere Hälfte der Bevölkerung so gut wie nichts ihr Eigen nennt. Wenn etwa Erbschaften ebenso versteuert würden wie Einkommen aus Arbeit, wäre mehr Geld für Bildung, Alterssicherung, Kinderbetreuung und Pflege vorhanden – für Jung und Alt.

Armut verringert die Lebenserwartung

Damit ist die größte soziale Ungerechtigkeit noch gar nicht angesprochen: In einem so wohlhabenden Land wie Deutschland unterscheiden sich nicht nur die Lebensbedingungen, auch die Länge des Lebens ist nicht für alle gleich. Alle wissen, dass Frauen länger leben als Männer. Dass auch Beamte einige Jahre länger leben als Arbeiter, ist hingegen kaum bekannt. Wie auch: Politisch und medial ist diese existenzielle Ungleichheit ein Tabu, obwohl die Daten des Robert-Koch-Instituts keinen Zweifel zulassen: Ungleichheit tötet und die Länge des Lebens ist eine Klassenfrage.
Männer, die weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens verdienen, leben achteinhalb Jahre kürzer als Männer aus der höchsten Einkommensgruppe. Neben individuellen Faktoren wie Rauchen sind vor allem soziale Bedingungen entscheidend für diesen Skandal: wirtschaftliche Prekarität und Armut, belastende Arbeit, schwierige Wohnverhältnisse. Nicht die vermeintliche Überalterung der Gesellschaft sollte uns Sorgen bereiten, sondern das Über-Leben der weniger privilegierten Älteren.

Umverteilung von unten nach oben

Mit der klassenspezifischen Lebenserwartung ist zudem eine Umverteilung von unten nach oben verbunden: Die früh versterbenden Armen und weniger Begüterten finanzieren mit ihren Beiträgen die Renten der Privilegierten. Infolge der Absenkung des Rentenniveaus führt dies für immer mehr Menschen zu einer negativen Rendite. Diese Versicherten erhalten weniger Rentenleistungen als sie mit ihren Beiträgen eingezahlt haben. Das ist ungerecht und in einer Gesellschaft, die das Leistungsprinzip hochhält, ein Skandal.
Hier findet eine Enteignung statt, über die niemand spricht. Es ist eine politisch brisante Enteignung, denn Rentenanwartschaften sind in Deutschland eigentlich als Eigentum grundrechtlich geschützt. Doch für das soziale Eigentum der Mittellosen interessieren sich viele nicht, die den Schutz des Privateigentums immer dann hochhalten, wenn es um die Ressourcen der Vermögenden geht.

Silke van Dyk, geboren 1972, ist Professorin für Politische Soziologie am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Sie promovierte an der Universität Göttingen und habilitierte sich an der Universität Jena. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Soziologie des Alters und der Demografie, die politische Soziologie sowie die Soziologie der Sozialpolitik und des Wohlfahrtsstaats.

Die Soziologin Silke van Dyk
© Universität Jena / Anne Günther
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