Shoah-Verfolgte auf Grundsicherung angewiesen
Viele Juden kamen nach der Wende aus der Ex-Sowjetunion nach Deutschland. Einige leben heute in Altersarmut, ihre Berufsjahre werden nicht anerkannt. Der Staat ignoriert die Appelle von Shoah-Überlebenden - die hinter der Ignoranz eine kühle Strategie vermuten.
Der alte Mann wirkt etwas hilflos, hilflos und verbittert. Vor einem grauen Billig-Hotel in Berlin-Wilmersdorf steht ein 76-Jähriger mit hängenden Mundwinkeln und schwerer Akten-Tasche: Alexej Heistver, jüdischer Zuwanderer aus Moldawien. Im mecklenburgischen Wismar leitet Heistver die Überlebenden-Initiative "Phönix aus der Asche". Doch an diesem Tag ist er an die Spree gefahren, um auf einer Tagung für die aus seiner Sicht "vergessenen" Shoah-Verfolgten zu kämpfen, die aus der Ex-Sowjetunion stammen:
"Wir hatten an verschiedene Instanzen geschrieben. Zum Beispiel Frau Angela Merkel als Bundeskanzlerin, zum Bundestag, zum Bundesrat. Aber es war umsonst!"
Die meisten brauchen eine Grundsicherung
In Heistvers Verein haben sich 330 frühere Holocaust-Verfolgte aus dem ganzen Bundesgebiet zusammengeschlossen, die zumeist von der "Grundsicherung im Alter" leben müssen. Seit über zehn Jahren fordern sie mehr finanzielle Unterstützung und mehr Gerechtigkeit. Doch nichts sei passiert, klagt der Rentner:
"Der jüngste von uns ist fast 80, der älteste 95. Wir verstehen, dass deutsche Regierung rechnet mit biologischer Lösung des Problems. Das ist so."
Die Lebensgeschichte des Migranten ist voller Grausamkeiten: Heistver wurde 1941 in einem Getto geboren, das die Deutschen in Litauen errichtet hatten. Seine Eltern kamen ins KZ - und Alexej landete in einem Kinderheim. Hier experimentierte ein Nazi-Arzt an ihm herum. Der sadistische Mediziner schnitt Alexej das Gaumenzäpfchen ab.
"Er macht es sparsam, kann man sagen", sagt er und lacht etwas. "Ohne große Betäubung, mit so großen Scheren. Und als er das gemacht hat, ich war ohne Bewusstsein. Als ich aufwachte, alles war in Blut, das war schrecklich. Erste Worte habe ich gesprochen, als ich schon achteinhalb Jahre alt war."
Heistver wurde in der Sowjetunion Historiker, doch der KGB legte ihm Steine in den Weg, um die Karriere des Juden zu behindern. 1993 starb einer seiner Söhne in Moldawien an einer Lebensmittelvergiftung. Und vier Jahre später wurde sein zweiter Sohn von einem nationalistischen Schlägertrupp erschlagen. Kurz darauf entschloss sich Heistver, zusammen mit seiner Frau, nach Deutschland auszuwandern.
Streitigkeiten mit dem Sozialamt
Der jüdische Kontingentflüchtling erhält heute zwar eine Rente für Shoah-Verfolgte, 336 Euro im Monat. Aber da dies nicht zum Leben reicht, muss er zusätzlich Sozialhilfe beziehen. Dafür hat er den Behörden ständig seine Kontoauszüge vorzulegen und sich offiziell abzumelden, wenn er wegfahren möchte.
"Dann beginnen verschiedene Streitigkeiten mit Sozialamt. Es ist erniedrigend den Leuten, es ist nicht normal."
Anderen zugewanderten Holocaust-Überlebenden geht es noch schlechter: Sie erhalten lediglich die "Grundsicherung im Alter" in Höhe von 409 Euro im Monat plus Mietzuschuss – und keine zusätzliche Entschädigungsrente. Sie müssen also mit dem Existenzminimum auskommen. Das betrifft etwa Verfolgte, die die Leningrader Blockade überlebt haben. Diese Senioren erhalten keine Opferrente, da Leningrad einst zwar belagert, aber nicht okkupiert wurde. Rüdiger Mahlo von der internationalen Entschädigungs-Organisation Jewish Claims Conference fordert mehr Großzügigkeit von der Bundesregierung:
"Der Grund, den jüdischen Überlebenden aus Leningrad eine Rentenentschädigung zukommen zu lassen, ist erstens die extreme Grausamkeit der Leningrader Blockade und zweitens: Wenn die Deutschen es geschafft hätten, Leningrad zu erobern, wäre das der sichere Tod für die jüdische Bevölkerung gewesen."
Berufsjahre werden nicht anerkannt
Die verarmten Shoah-Überlebenden empfinden ihre Lage als ungerecht: Denn den zugewanderten Spätaussiedlern, die aus denselben GUS-Republiken stammen, geht es zumeist besser - weil sie eine reguläre Altersrente bekommen. Deren sowjetische Berufsjahre werden nämlich bei der Rentenberechnung angerechnet – da Spätaussiedler als Deutsche gelten. So will es das sogenannte Fremdrentengesetz. Bei den russischsprachigen Juden hingegen werden die früheren Berufsjahre zumeist nicht anerkannt. Für Günter Jek von der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland hat es einen bitteren Beigeschmack, dass die Spätaussiedler ausgerechnet aus ethnischen Gründen bevorzugt werden:
"Das Fremdrentengesetz geht von einer besonderen Volkszugehörigkeit zu Deutschland aus, dieser Begriff des Völkischen zieht sich da halt leider durch dieses Gesetz so durch."
"Das ist sehr schade, können sie sagen"
So leben heute bis zu 70 Prozent der älteren Juden aus den GUS-Staaten hierzulande in Armut. Darunter Holocaust-Verfolgte, denen keine Opfer-Rente zusteht. Rüdiger Mahlo von der Claims Conference verlangt für die Betroffenen eine reguläre Altersrente - ohne Kontrollen durch das Sozialamt:
"Das ist der springende Punkt. Und das ist auch die Forderung, die jüdische Organisationen stellen, dass die Holocaust-Überlebenden, die als Kontingentflüchtlinge nach Deutschland gekommen sind, den Spätaussiedlern gleichgestellt werden."
Die deutsche Regierung sieht jedoch insgesamt keinen Änderungsbedarf. So hat Alexej Heistvers Initiative "Phönix aus der Asche" vom Bundesarbeits- und Sozialministerium ein Schreiben erhalten, dass für die jüdischen Zuwanderer ein Wechsel von der Sozialhilfe zu einer Altersrente aus juristischen Gründen nicht möglich sei. Der Überlebenden-Verein ist überzeugt, dass der Staat Geld sparen will und deswegen eine Lösung des Armutsproblems auf die lange Bank schiebt.
"Und einmal kommt Tag, wo sie sagen: Gut, wie geben Ihnen diese Rente – aber wo sind sie? Ah – sie sind schon weg? Sie sind schon tot? Das ist sehr schade, können sie sagen."