Altersdiskriminierung

Der Verteilungskampf zwischen Alt und Jung

Illustration: Eine Gruppe weisshaariger Menschen.
Unser Altersbild ist kulturell geprägt. Heutzutage gilt es vielen als Übel. © Getty Images / iStockphoto / Nadia Bormotova
Ein Kommentar von Kerstin Hensel · 24.05.2022
Wie sehr Alter inzwischen als Makel gilt, zeigt sich auch auf dem Arbeitsmarkt. Als Ü50 ist man da weitgehend chancenlos. Doch dem liege eigentlich eine Angst vor dem Potenzial der Älteren zugrunde, meint die Schriftstellerin Kerstin Hensel.
Egal, welches Alter man hat, man ist immer für irgendwas zu jung oder zu alt. In unserer Gesellschaft, in der die smarte Jugend als First Player auf fast allen Lebensbühnen auftritt und protegiert wird, gilt alt werden beziehungsweise alt sein als Übel, wenn nicht gar als Makel.
Doch das Altersbild ist kulturell geprägt. So wurden zum Beispiel im antiken Athen alte Menschen systematisch ausgegrenzt, bei Konfuzius und im Judentum hingegen galt das Alter als ehrenwerter, beinahe idealer Lebensumstand. Auf der Wunschliste der Menschheit stehen Modelle wie der Jungbrunnen oder die Unsterblichkeit. Vormals hat Hebe, Göttin der Jugend, die Verwesungsängste ausgewählter Oldies mit Nektar und Ambrosia therapiert. Heute versuchen es Schönheitschirurgen mit Botox und Hyaluron.

Es drohen die Sphären der Senilität

Biologisch gesehen beginnt der Alterungsprozess im Moment der Zeugung. Danach geht er ab wie Schmidts Katze! Für Zweijährige sind Vierjährige reife Respektspersonen, für Achtjährige Teenager alte Säcke. Für Teenager tangieren Twens den Rand der Vergreisung. Manch Gerontologe behauptet, der Mensch altert, wenn er an seinem 20. Geburtstag nicht mehr alle Kerzen auf einmal ausblasen kann.
Andere meinen, erst mit 40 habe der Mensch seine geistigen Fähigkeiten zu Ende getestet und befände sich im Vollbesitz der Altersweisheit. Der Fachjargon umschreibt dies mit dem glanzvollen Begriff „kristalline Intelligenz“. Diese jedoch, wird behauptet, verflüchtige sich ab dem 65. Wiegenfest ebenfalls unweigerlich in die Sphäre der Senilität. Das Drohszenario heißt: Seniorenteller, Seniorenticket, Seniorenresidenz.

Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt

Wahr ist: Hierzulande sind viele Menschen, die in scheinheiliger Correctness gern als „Best Agers“ bezeichnet werden, bis weit über ihr Renteneintrittsalter voll leistungsfähig. Wobei ich Leistung nicht als alleinigen Maßstab für Lebenssinn gelten lasse. Eine Kalenderweisheit lautet: „Alte Hühner, gute Suppe“. Die Schriftstellerin Marie Ebner-Eschenbach fasst die Vorzüge der Bejahrtheit so zusammen: „In der Jugend lernt, im Alter versteht man.“ Doch in unserer hochzivilisierten Gesellschaft wirkt diese Erkenntnis altbacken.
Beispielsweise ist es schon ab der Lebensmitte schwer, sich erfolgreich auf eine attraktive Arbeitsstelle zu bewerben. In vielen Bereichen gilt: Jugend first! Ü50er – so das Stereotyp der Mutmaßungen – seien oft umständlich, technisch rückständig, besserwisserisch und wenig hierarchiekompatibel. Untergründig fürchtet man ihre Lebens- und Arbeitserfahrung, ihre Disziplin, Resilienz, Kritikfähigkeit, ihr Selbstbewusstsein, schlicht: ihr gesamtes Potenzial.
Das wiederum dient dem Argument: Man kann solcherart befähigte Personen nicht mit einem Minimalgehalt abspeisen. Also lässt man sie gar nicht erst die Stelle antreten und wünscht ihnen einen geruhsamen Lebensabend.

Alle werden alt

Hinter all dem steckt der ökonomische Verteilungskampf zwischen den Generationen. Ältere gelten als finanzielle Belastung, Junge als Investition in die Zukunft. Zwar ist Altersdiskriminierung bei uns laut Gesetz verboten, doch die Unternehmenskultur zeigt sich, trotz einiger Fortschritte, unflexibel. Arbeitszeit- und Rentenmodelle dümpeln in überholten Strukturen. Auch das Sprichwort „Altes und junges Fleisch ist nicht gut beisammen“ stammt aus der Mottenkiste.
Weder Jugend noch Alter ist ein Verdienst. Juvenile Dauerpräsenz ist genauso ertragsarm wie gerontokratische Machtverteidigung, und nicht jeder, der eine Glatze trägt, ist ein Greis. Altern ist ein komplexer und individueller Vorgang. Man sollte ihn nicht mit Vorurteilen und Dogmen belegen, weil wir alle irgendwann davon betroffen sind.

Kerstin Hensel, Jahrgang 1961, ist Professorin für Poetik an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin. Sie hat zahlreiche Gedichte, Romane und Essays geschrieben. Im März 2020 erschien ihre Novelle „Regenbeins Farben“.

Die Schriftstellerin Kerstin Hensel
© picture alliance / dpa / Jens Kalaene
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