Altkanzler

Willy Brandt unverstellt

Von Michael Meyer |
Der Film "19.September" galt lange als verschollen, ist jetzt aber wieder aufgetaucht: Es ist eine Dokumentation über den Wahlkampf Willy Brandts 1965. Der damals 20-jährige Regisseur Robert van Ackeren hatte das Wahlkampfteam begleitet. Beim Themenabend im Berliner Martin-Gropius-Bau kamen auch Zeitzeugen und Weggefährten zu Wort.
"September 65. Mit Sonderzug, Flugzeug und Autokolonnen suchen Politiker Wähler in Wohnbezirken, Veranstaltungszentren, an ihren Arbeitsplätzen auf. Willy Brandt führt die SPD in den Wahlkampf. 30 Tage Händeschütteln, Lächeln, Dialog mit Andersdenkenden, mit Prominenz, mit Meinungsmachern…."
"Es geht nicht nur um die beiden Kreuze auf dem Stimmzettel, es geht darum, den Willen in unserem Volk mitzuschaffen, ohne den wir den Weg nach vorn, die aktive Friedenssicherung und die strenge Sachlichkeit in der Politik nicht durchsetzen können…"
Film galt lange als verschollen
Der Film "19. September" von Robert van Ackeren ist nichts weniger als eine kleine Sensation. Denn: Obwohl er damals im Kino und im Fernsehen gezeigt wurde, galt er lange Zeit als verschollen, durch einen Zufall entdeckte Robert van Ackeren und der Publizist Michel Gaißmayer den Film wieder, und beschlossen, ihn der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Was den Film, der nur wenige Off-Kommentare hat, so interessant macht, ist die völlig unverstellte und ganz nahe Herangehensweise des damals jungen Regisseurs van Ackeren, der leider heute Abend krankheitsbedingt absagen musste. Der Film, in körnigem Schwarz-Weiß gehalten und mit teilweise verwackelter Handkamera kommt so nahe an Brandt heran wie kaum ein anderes Porträt über ihn. Brandt rauchend und Rotwein trinkend im Salonwagen, wie er erzählt, wie ein Tag des Wahlkampfs war, Brandt im offenen Cabrio, der Kamera fast auf seinem Schoß – dabei seinem Referenten lauschend, wie er erklärt, dass in einem Stadtteil von Oberhausen früher die KPD sehr erfolgreich war – Brandt dabei grimmig guckend. So unverstellt hat man Brandt wohl noch nie gesehen.
"Wir fahren hier an einem Gebiet vorbei….aber das ist heute bedeutungslos für die KP."
Michael Gaißmayer, heute Redakteur in der Fernsehproduktionsfirma dctp von Alexander Kluge, war damals der kulturpolitische Sprecher von Brandt – und hatte den Film in Auftrag gegeben.
"Es ist ein Film, der eine neue Form des Wahlkampfes zeigt, das sogenannte Campaigning, das Reisen durch Städte, nicht an einem Ort verharren , mehrere Kundgebungen an einem Tag, im ganzen Land. Das hat der Klaus Schütz '61 beim Kennedy-Wahlkampf studiert, und dann eben hier auf die Bundesrepublik übertragen. Und man sieht, beispielsweise habe ich damals organisiert ein Treffen mit Schauspielern, Erwin Piscator, Harry Buckwitz in Frankfurt, später dann ein großes Treffen 'Städtebau und Gesellschaft' in Bochum, wo eben Leute wie Mitscherlich und andere waren, also das war schon sehr qualifiziert."
Zurecht eine Verehrung Brandts
Alexander Kluge, Filmemacher , Autor und Publizist meint, dass es zurecht noch heute so eine große Willy Brandt- Verehrung gibt, denn niemand davor oder danach reiche an ihn heran:
"Es ist der Kanzler mit dem größten Charisma. Man kann sich das gar nicht mehr so richtig vorstellen, genauso wie man sich Kennedy nicht mehr so richtig vor Augen führt, was wir an ihm verloren haben. Das ist ein Mann, der hatte Visionen um sich herum zugelassen, es ist gar nicht so, dass er ein Macher ist, der Anordnungen oder Befehle gibt, aber um ihn herum scharte sich das Beste unseres Landes. (…) Insofern ist es ein bewundernswerter Mann, aber wir haben ihn verloren."
Im Film kommen auch mehrere seiner Referenten zu Wort, auch Journalisten. Ein Engländer sagt beispielsweise, wie enttäuscht er sei, dass Brandt noch immer vorgeworfen werde, dass er Emigrant gewesen sei und niemals eine deutsche Uniform getragen habe. Einer von Brandts Referenten war der spätere ARD-Koordinator Günter Struve, der noch blutjung, frei von der Leber weg über das Redenkonzept spricht, heute so wohl kaum vor laufender Kamera denkbar, zumindest nicht während des Wahlkampfs:
"Ja, es gibt eine Rede, die wir Standardrede nennen, die wird jede Woche neu aufgefrischt, jeweils kommen die besten Formulierungen stichpunktartig in eine Standardrede oder die Standardrede hinein, und an diese Stichpunkte hält sich dann der Kandidat, wie gesagt, wenn im Laufe der Woche bessere Formulierungen kommen, fällt eine andere heraus, und wir nehmen dann, oder Willy Brandt nimmt eine neue Formulierung hinein."
Brandt hat dennoch verloren
Der Wahlkampf 65 war der erste und letzte, in dem Ludwig Erhard Spitzenkandidat der CDU war – über dessen Wahlkampf wurde auch ein Film erstellt – vielleicht wäre es spannend, einmal beide Filme gegenüberzustellen. Interessant ist der Film "19.September" auch deshalb, weil er nur wenige Jahre vor den Studentenprotesten entstand, danach waren die Tonlage und die gesellschaftliche Stimmung eine völlig andere.
Die Wahl 1965 hat Willy Brandt denn doch mit knapp 40 Prozent verloren. Erst 1969, als die FDP zur SPD schwenkte, wurde Brandt Bundeskanzler, und das, obwohl er nach der verlorenen Wahl '65 sagte, dass er nie wieder antreten würde.
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