Glaubensgemeinschaft für Individualisten
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Viele Reformen, über die die römisch-katholische Kirche streitet, gibt es bereits: in der altkatholischen Kirche. Sie trennte sich von Rom, als der Papst sich für unfehlbar erklärte. Denn Altkatholiken setzen auf flache Hierarchien.
Ein Sonntagvormittag im August in Berlin-Wilmersdorf. Auf der Wiese vor der evangelischen Vater-Unser-Kirche in der Detmolder Straße warten etwa 30 Gläubige der Berliner altkatholischen Gemeinde im Schatten der Bäume auf den Beginn des Gottesdienstes. Sie sind heute zu Gast hier – ihr eigenes Gotteshaus ist viel zu klein, um in Coronazeiten so viele Menschen mit Abstandsregeln zu beherbergen.
Ulf-Martin-Schmidt und Ruth Tuschling schlüpfen vor den Augen der Gemeinde in ihre hellen Priestergewänder und legen jeweils eine bunte Stola um. Dann greift der Pfarrer zur Gitarre.
Enge Bindungen zwischen Anglikanern und Altkatholiken
Es ist ein besonderer Tag für die Gemeinde. Mit Ruth Tuschling wird heute eine Frau in ihr seelsorgerisches Amt eingeführt. Die 55-Jährige ist als Priesterin der anglikanischen Kirche ausgebildet und damit auch zum Dienst in der altkatholischen Kirche befugt: Seit 1931 besteht die Gemeinschaft zwischen beiden Kirchen: Wechselseitig erkennen sie ihre Sakramente und Geistlichen an.
"Ich habe in den späten 80er- und frühen 90er-Jahren in Freiburg studiert und war da zweigleisig in der anglikanischen Kirche und in der altkatholischen Kirche", erzählt Ruth Tuschling. "Ich habe mich dann zum Dienst in der Kirche beworben bei den Anglikanern in England, habe da die Ausbildung gemacht. Ich bin 1998 zur Priesterin geweiht worden. Bin da mit Unterbrechungen 20 Jahre im Dienst gewesen, wollte dann aber zur Familie zurück nach Deutschland ziehen, habe mich deshalb bei den Altkatholiken beworben – erstens, weil ich sie schön in Erinnerung hatte, und zweitens, weil die Art und Weise, wie die Anglikanische Kirche im Ausland läuft, nicht so mein Ding ist."
Pfarrer-Ulf Schmidt übernimmt die Beauftragung: "Liebe Ruth, im Namen von Bischoff Matthias beauftrage ich dich, in der altkatholischen Gemeinde Berlin als zweite Geistliche in der Pfarrei mitzuarbeiten. Du übernimmst damit das erste Mal einen pastoralen Dienst in der altkatholischen Kirche. Deshalb bitten wir dich um die öffentliche Zustimmung zur Erklärung der altkatholischen Bischöfe zur Utrechter Union von 1889."
Ruth Tuschling antwortet: "Ich stimme ohne Vorbehalt der Erklärung der altkatholischen Bischöfe der Utrechter Union zu, in der es heißt: Wir halten fest an dem kirchlichen Grundsatz 'Wahrhaft und eigentlich katholisch ist, was überall, was immer und von allen geglaubt worden ist'."
Abgespalten, als der Papst sich für unfehlbar erklärte
Wie die anglikanische Kirche ist auch die altkatholische Kirche eine Abspaltung der römischen Mutterkirche. Sie beruft sich auf den Urzustand der Kirche vor allen Spaltungen. Entstanden ist sie nach dem Ersten Vatikanischen Konzil 1871. Damals wurde das Unfehlbarkeitsdogma des Papstes eingeführt. Katholiken vor allem im deutschsprachigen Raum und in Tschechien lehnten das ab. Sie schlossen sich schließlich mit der altkatholischen Kirche der Niederlande zusammen, die schon im 18. Jahrhundert durch die zeitweise Abspaltung des Bistums Utrecht entstanden war. In der römisch-katholischen Kirche galten sie fortan als Häretiker.
Ihre Liturgie gestalten Altkatholiken nach traditionellem Ritus, aber ihre Theologie ist offen für die Anforderungen einer modernen Welt, sagt Ruth Tuschling: "Was ich bei den Altkatholiken und den Anglikanern schön finde ist, dass der Mann oder die Frau gleichermaßen als Ebenbild Christi dasteht. Und dass es eben nicht darum geht, irgendwelche Männerdomänen zu verewigen, sondern dass es uns darum geht zu sagen: Wir wollen Kirche geschwisterlich leben."
Gelebte katholische Gleichberechtigung
Dieser Aspekt ist auch Miriam Cremer besonders wichtig. Die 23-Jährige ist in Freiburg in einer altkatholischen Familie groß geworden, hat später in Passau Kultur und Wirtschaft studiert. Weil sie mit dem Gedanken spielt, Pfarrerin zu werden, hat sie im August in der Berliner Gemeinde ein seelsorgerisches Praktikum absolviert.
Dabei hat sie noch einmal gespürt, dass Kirche ohne Gleichberechtigung für sie undenkbar ist: "Es ist dieses Gefühl zu wissen, dass alle Menschen, egal welches Geschlecht sie haben, die gleichen Möglichkeiten und Chancen haben in dieser Kirche. Das ist für mich wahnsinnig wichtig, denn dann fühle ich mich auch ernst genommen und akzeptiert und anerkannt."
Jedes Mitglied habe in der altkatholischen Kirche eine Stimme, sagt Heiko Hartmann. Im weltlichen Leben unterrichtet er Buchwissenschaften in Leipzig. Hartmann vertritt seine Gemeinde auf den alle zwei Jahre in Mainz tagenden Synoden der Kirche, die deutschlandweit etwa 15.500 Mitglieder hat:
"Das ist eben ein ganz wichtiges Prinzip der altkatholischen Kirche, synodal verfasst zu sein", erläutert ert. "Die römisch-katholische Kirche versucht ja gerade auch einen synodalen Weg zu gehen, das heißt, aus den Kirchengemeinden und von den Gläubigen selbst Impulse für eine Veränderung einzuholen. Im Grunde ist das etwas, was die alt-katholische Kirche schon von Anfang an gelöst hat. Bei uns werden Pfarrer gewählt. Bei uns wird ein Bischof gewählt. Alle Mitglieder im Gemeindevorstand werden selbstverständlich gewählt."
Jeder hat eine Stimme – das Prinzip Synode
Im Mitspracherecht der Laien sieht Pfarrer Ulf-Martin Schmidt den entscheidenden Unterschied zur römisch-katholischen Schwesterkirche. "In der Synode sind zwei Drittel sogenannte Laien und ein Drittel Kleriker", sagt er. "Aus der Erfahrung heraus, auch damals schon: Würde man dem Klerus die Mehrheit lassen, würde sich nicht viel ändern, weil der Klerus ein sehr beharrungswürdiges Völkchen ist."
Synoden sind in der römisch-katholischen Kirche nicht wie bei Altkatholiken und Protestanten beschlussfassende Kirchenparlamente, sondern beratende Zusammenkünfte von Bischöfen, zu denen bisweilen Laien als Experten mit eingeschränktem Rederecht geholt werden. Die letztgültigen Entscheidungen fällt, zumindest auf der Ebene der Weltkirche, der Papst.
Veränderungen hart erkämpft – oft gegen den Klerus
In Deutschland haben römisch-katholische Kleriker und Laien nach dem Missbrauchsskandal das neue Format des Synodalen Wegs mit stärkerer Laienbeteiligung geschaffen, aber dafür schon Kritik aus Rom geerntet. Neben Machtstrukturen und Sexualmoral sollen die Teilnehmenden des Synodalen Wegs auch den Zölibat und die Rolle von Frauen in der Kirche verhandeln – Themen, die auch bei den Altkatholiken früher Grund zur Kontroverse waren.
Doch durch eine andere Kirchenstruktur ergaben sich im Laufe der Zeit Veränderungen, die die altkatholische Kirche heute so fundamental von der römischen Weltkirche unterscheiden – was nicht von Anfang an klar war, erklärt Ulf-Martin Schmidt: "Ohne diese Verfassung, sage ich sehr pathetisch: Keine einzige Reform. Die Aufhebung des Pflichtzölibats ist gegen den Widerstand unseres Klerus erwirkt worden, mit der Laienmehrheit in der Synode. Weil diese Kleriker damals alle zölibatär waren – warum sollten sie also ihren eigenen Lebensstil infrage stellen? Die nächste Priestergeneration hat das wie selbstverständlich angenommen und heute ist das so, dass 10 Prozent unserer Priester freiwillig im Zölibat leben und 90 Prozent in Partnerschaft. Die Aufhebung der Sonntagspflicht, die Aufhebung der Fastenvorschriften – alles quasi aufgrund dieser Strukturänderung. Nach langer Debatte die Einführung der Frauenordination, nach 40 Jahren synodalem Ringen."
Frauenweihe und flache Hierarchien
Seit 1996 werden auch Frauen in der altkatholischen Kirche ordiniert. Geistliche dominieren nicht das Glaubensverständnis der Kirche, sondern unterstützen die Gläubigen auf ihrer Suche nach Christus, sagt Heiko Hartmann:
"Wir denken antihierarchisch. Es gibt meines Wissens keine einzige Stelle im Neuen Testament, in der Jesus gesagt hätte: Bildet eine Hierarchie und unterteilt die, die nach mir suchen und an mich glauben, in Obere und Untere. Das kommt dort nirgendwo vor. Und das Zweite ist, dass wir das, was man so Klerikalismus nennt, dass wir das ablehnen."
In der Liturgie der altkatholischen Kirche spiegelt sich dieses demokratische Verständnis: So verlässt Pfarrer Ulf-Martin Schmidt in Berlin beim Vaterunser den Altar und reiht sich in die Gemeinde ein. Noch auffälliger ist die Gleichstellung der Gläubigen in der Liturgie der Eucharistiefeier. Beim Hochgebet, der Mitte und dem Höhepunkt der Eucharistiefeier, singt die Gemeinde gemeinsam das Lob- und Dankgebet auf den dreieinigen Gott – ein Text, der in der römischen Schwesterkirche dem Priester vorbehalten ist.
Offen für alle Getauften
Diese Nähe zu den Geistlichen hat den Mediendesigner Lothar Steffen sehr berührt. Protestantisch getauft und in einer römisch-katholischen Gemeinschaft aufgewachsen, hat er sich nach langen Jahren der Kirchenferne vor einigen Jahren den Altkatholiken angeschlossen.
"Was dann aber der Punkt war, warum ich hier geblieben bin auf der Suche, das war eigentlich nur ein Satz: Es ist jeder zur Eucharistie zugelassen, der getauft ist, welchen Glaubens auch immer. Und der mit uns glaubt, dass Jesus in Brot und Wein, wie auch immer, anwesend ist." Lothar Steffen erinnert sich: "Das ist etwas, wo ich ganz baff war. Hier kann man katholisch sein, ohne dieses Hickhack zu haben: diese Wiederverheirateten oder diese evangelisch Getauften, die nicht mitmachen dürfen. Man wird da nicht ausgeschlossen, sondern ist dabei."
Toleranz oder Gleichgültigkeit?
Aber wo endet Inklusion und wo beginnt Beliebigkeit? Barbara Müller-Heiden, die aus dem Süddeutschen stammt und ebenfalls Synodale der altkatholischen Kirche ist, erinnert sich an Konflikte in der eigenen Familie:
"Mein Vater war ja altkatholisch und meine Mutter katholisch und kam hier aus Berlin und es gab ewig Streit, der eigentlich durch die Kirchenzugehörigkeit begründet war. Und mein Vater hat immer gesagt: ‚Wir sind halt tolerant‘ und meine Mutter hat immer gesagt: ‘Eure Toleranz ist Gleichgültigkeit‘."
Pfarrer Ulf-Martin Schmidt kennt solche Vorwürfe: "Man kann, wenn man böse ist, uns auch bezeichnen, als die 'Man-muss-nix'-Kirche. Aber wenn man es rein dabei bestehen lässt, dann sind wir schnell tot: Ich muss nicht in den Gottesdienst, ich muss nicht beichten, ich muss gar nichts. Dann ist die Frage: Was machst du dann in der Kirche? Die Kunst ist, dass es eigentlich einen sehr reifen Menschen voraussetzt."
Eine Kirche für Menschen auf der Suche
Eine Kirche, die Wert auf Individualität und Freiwilligkeit legt, die traditionell ist und zugleich offen für Neues, scheint für ein städtisches, jüngeres Publikum attraktiv zu sein. Das zeigt die Entwicklung der Berliner Gemeinde: Vor genau dreißig Jahren, im September 1990 trat der inzwischen pensionierte Pfarrer Johannes Urbisch seinen Dienst in der wieder vereinten Stadt an. Er war, begleitet von seiner Frau Monika und der kleinen Tochter, aus Paderborn nach Berlin gezogen, um die bereits 1874 gegründete Gemeinde zu übernehmen.
Urbisch erinnert sich: "Als wir kamen, war die Gemeinde eigentlich nur noch rudimentär vorhanden. Natürlich, nach der Öffnung der Grenzen kam dann auch Ostberlin wieder dazu und Mecklenburg-Vorpommern und ganz Brandenburg, da gab es immer auch noch ein paar Altkatholiken. Insgesamt waren es dann am Ende 60 und in den Gottesdienst kamen 6 bis 10 am Sonntag. Wir waren die Jüngsten. Alles jenseits von 70, keine Kinder und ich dachte mir: Ist die Gemeinde noch überlebensfähig?"
Seine Frau Monika Tigges-Urbisch ergänzt: "Also ich hatte große Probleme damit, weil wir immer so wenig waren. Und hatte lange damit zu tun, warum sind wir nur vier oder fünf – wo sind die alle?"
Gemeindewachstum durch die Wende
Die Urbischs ließen sich nicht entmutigen: Er engagierte sich in der Ökumene, organisierte einen eigenen Gebetsraum, kaufte später mit Hilfe des Bistums einen ehemaligen Frisörsalon, daraus wurde die Hauskirche Maria von Magdala. Sie arbeitete als Erzieherin in einem evangelischen Kindergarten, warb für die Gemeinde. Die begann zu wachsen, Freundschaften entstanden:
"Die Leute waren durch die Öffnung der Mauer auf der Suche nach Werten", sagt Tigges-Urbisch. "Sind einige gekommen, wir haben ja auch heute einige Gäste in der Gemeinde, die intensiv gesucht haben – durch die Medien, auch heute noch. Damals sind sie rumgefahren, haben geguckt: Welche Werte passen zu mir – was sie früher nicht durften. Das war auch so ein Aufschwung für die alt-katholische Kirche, glaube ich."
Ihr Mann ergänzt: "In den 90er Jahren habe ich keine einzige Kindertaufe gehabt, aber 40 Erwachsenentaufen, insbesondere also aus dem Osten, ehemalige DDR. Aber nicht nur, sogar aus Westberlin."
Enttäuschung über Rom trifft auch die Altkatholiken
Heute zählt die Berliner Gemeinde über 850 Mitglieder, darunter viele junge Leute, viele Singles. Es kommen auch Menschen, die in der römisch-katholischen Schwesterkirche Verletzungen erfahren haben oder sich nicht mehr willkommen fühlen: Weil sie homosexuell sind oder geschieden. Weil sie Missbrauchserfahrungen gemacht haben oder die dortigen Moralvorstellungen als unzeitgemäß empfinden. Trotzdem sei der Zulauf Enttäuschter aus der römisch-katholischen Kirche geringer, als man vermuten würde, sagt Pfarrer Ulf-Martin Schmidt.
Er macht eher die Beobachtung, dass die Enttäuschung die Konfessionsgrenzen überschreitet: "Als vor zwei Jahren die Studie veröffentlicht wurde aus der römisch-katholischen Kirche, dass fünf Prozent des Klerus Kinder missbraucht hat in den vergangenen 40 Jahren, traten bei uns zehn Personen aus. Das hat mich sehr nachdenklich gemacht, weil es zeigt, dass wir alle in einem Boot sitzen. Es trifft nicht nur eine Kirche und der Rest kann machen, was er will – nein. Wir haben eine Leidensgemeinschaft. Eine negative Ökumene nenne ich das."
Wachsen gegen den Trend
Trotzdem blicken sie in Berlin optimistisch in die Zukunft. Denn die hiesige Gemeinde wächst, anders als manche anderen altkatholischen Gemeinden in Deutschland, die einen leichten Mitgliederschwund verzeichnen.
Die junge Pfarrpraktikantin Miriam Cremer sagt: "Ich denke: Kirche wird es immer weiter geben – sie wird sich auf jeden Fall verändern. Gemeinde wird sich verändern, aber ich glaube, diese Suche nach Spiritualität ist einfach ein Grundbedürfnis."
"Es macht mir Freude, wenn ich heute hier sehe: Die Kinder, die ich damals getauft habe, gehen heute zur Kommunion", sagt der pensionierte Pfarrer Johannes Urbisch. "Da sehe ich die Kontinuität also gewahrt. Und das macht mir Mut und gibt mir Zuversicht, dass es weitergeht."