Am Anfang war der Fehler
Aus Fehler lernen wir, trial and error – es gibt viele Sprüche und Weisheiten, die den Fehler loben. Manchmal wird er verziehen und akzeptiert, manchmal nicht. Er kann lange unentdeckt bleiben und doch zu einem guten Ende führen. Oder Anfang ?
Joschka Fischer: " - Ich habe Fehler gemacht.
- Wenn ich Fehler gemacht habe.
- Ich habe zwei Fehler gemacht.
- Wenn ich Fehler gemacht habe, mögliche Fehler von mir, von meinen Mitarbeitern, habe ich dafür gerade zu stehen."
Caspar Johannes Walter: "Indem es ein Bedürfnis gibt, vom Komponisten irgendetwas Bestimmtes zu machen, wo es keine Sprachregelung für gibt, durch Negieren von einer Konvention, also das wird dann von außen als Fehler wahrgenommen, aber der Komponist selbst wird das wahrscheinlich nicht als einen Fehler empfinden, sondern als eine Notwendigkeit, wo er dann halt dazu stehen muss, wo er einen gewissen Mut braucht und das so hinschreibt. Aber es werden viele als Fehler bezeichnen von außen, das schon."
"- Das war ein Fehler
- Du setzt nicht richtig ein.
- Das war falsch.
- So wird das doch nichts.
Aber ich hab' richtig eingesetzt!
- Mensch, das hört man doch!
- Zu früh, viel zu früh.
- Das war der Fehler!
- Noch mal!
Froh zu sein bedarf es wenig
und wer froh ist
der ist König.
- Das war doch wieder falsch.
- Diesmal war's zu spät.
- Hörst du nicht, wo du einsetzen musst?
- Tonedeaf. Total.
- Gibt es eigentlich ein deutsches Wort für diesen Begriff?
- Lenk nicht ab.
- Los, von vorne.
Froh zu sein bedarf es wenig
und wer froh ist
der ist König."
Schon sind wir eigentlich mittendrin im Thema: Fehler. Wir versuchen einen Kanon zu singen. Ein Kanon ist ein aus der notengetreuen Nachahmung einer vorgegebenen Melodie entwickeltes mehrstimmiges Musikstück: ein in bestimmten Abständen sich selbst wiederholendes Thema. In einem Kanon ist ein Fehler deutlich erkennbar. Es klingt einfach nicht gut. Die Harmonie ist gestört. Etwas an der Vorgabe wird nicht genau wiederholt, sondern verändert.
Am Anfang war der Fehler – Betrachtungen zu einem nicht ganz eindeutigen Phänomen von Nora Bauer.
"Es ist gut, dass niemand fehlerfrei ist, denn er würde keinen einzigen Freund in der Welt haben.
Der schlimmste aller Fehler ist, sich keines solchen bewusst zu sein.
Nicht unsere Tugenden, unsere Fehler machen uns zu Menschen.
Man wird nicht größer durch die Fehler anderer.
Ich glaube, jeder Mensch hat einen großen Lebensfehler, der ihn abhält, sein Wesen zur
Vollendung zu bringen.
Ein kluger Mensch macht nicht alle Fehler selbst. Er gibt auch anderen eine Chance.
Fehler des Tuns sind meist heilbringender als Fehler des Lassens."
Wir mögen einen Fehler nicht. Wir möchten uns nicht dabei ertappen lassen, einen Fehler zu machen. Wir neigen dazu, ihm eine ausschließlich destruktive Wirkung zu zuschreiben, weil er uns daran hindert, ein gestecktes Ziel zu erreichen. Wir möchten ihn lieber vermeiden. Aber es scheint, dass jedes Handeln, jede Erkenntnis auch immer den Fehler beinhaltet.
Guten Tag, Herr Fehler, danke, dass Sie zu uns ins Studio gekommen sind.
Herr Fehler: "Ich danke für die Einladung – guten Tag."
Sprechen Sie bitte direkt ins Mikrophon, wenn ich Sie schon nicht sehen kann, möchte ich Sie doch gern deutlich hören. Sie sind ein Formshifter, ist das richtig? können Sie uns erklären, was wir darunter zu verstehen haben.
Herr Fehler: "Ich bin an sich unsichtbar. Aber durch bestimmte Handlungen lasse ich mich evozieren. Und dann kann ich eben jede Form, jedes Gewand, jede Erscheinung annehmen. Was Ihnen gerade recht, beziehungsweise eben gerade nicht recht ist."
Sie haben schon ein beträchtliches Alter erreicht.
Herr Fehler: "Viele Milliarden Jahre. Ich war schon beim Urknall dabei. Am Anfang war weder das Wort und noch die Tat. Am Anfang war ich, der Fehler. Und ich werde bis zum Ende weiter dabei sein. Ich bin unsterblich. Alpha und Omega, das bin ich. Der Fehler."
Ich finde das extrem verwirrend. Wird denn auf dieser Welt gar nichts richtig gemacht?
Herr Fehler: "Alles oder nichts. Es kommt ganz auf die Perspektive an."
Christopher Kolumbus hatte nur ein großes Ziel: den Seeweg über den westlichen Ozean nach Indien zu entdecken. Indien war ein wichtiger Handelspartner für den Westen geworden, aber die Landroute war beschwerlich, sehr lang und gefährlich.
Nach der wissenschaftlich geltenden geographischen Lehre des Ptolemäus musste der westliche Ozean genauso breit sein wie Europa und Asien zusammen, 180 Längengrade, etwa 9000 Seemeilen. Nach Kolumbus' eigenen Berechnungen aber waren Europa und Asien größer und der westliche Ozean entsprechend schmaler, nur 7000 Seemeilen. Er berechnete damit, dass sechs Siebtel der Erde mit diesem Land bedeckt seien und deshalb auch auf der Erde kein Platz sei für einen weiteren Kontinent.
Dieser Rechenfehler gab Kolumbus die Überzeugungskraft, Finanzen für seine Seereisen zu akquirieren. Und ihm selbst den Mut 1492 in See zu stechen. Kolumbus glaubte, die Nadel seines Kompasses werde vom Polarstern angezogen. Das Wissen vom Magnetfeld der Erde fand erst um 1600 Eingang in die geltende Wissenschaftstheorie.
Bei der Überquerung des Atlantiks geriet die Mannschaft in Panik, als die Kompassnadel plötzlich herumschwang und in westlicher Richtung abwich. Kolumbus erklärte seinen verzweifelten Matrosen, die fürchteten, nie wieder Land zu sehen, der Polarstern wandere am Himmel in westliche Richtung. Das Land, das sie kurze Zeit später ansteuerten, musste also zu Indien gehören: die westindischen Inseln. Die Entdeckung Amerikas ist eigentlich ein Fehler.
Es war einmal ein kleines Mädchen, das war nicht sehr klug, aber kein Mensch merkte es, denn – ja denke dir – es hatte einen Fehlervogel.
Der Fehlervogel war dunkelblau wie dunkelblaue Tinte, und er glänzte und schillerte ganz herrlich.
Wenn nun das kleine Mädchen seine Hausaufgaben machte, so schrieb und rechnete es frisch drauflos. Aber es machte grässlich viele Fehler. Das tat jedoch nichts, denn wenn es seinen Schlusspunkt gesetzt hatte, so rief es einfach: "Fehlervogel friss!" Und Fehlervogel kam geflogen und fraß alle Fehler und Tintenkleckse weg.
Eines Tages sagte eine Schulkameradin: "Ach, ich möchte auch so klug sein wie du, nie hast du einen Fehler, und ich hab immer so viele."
"Ja", sagte das kleine Mädchen, "ich habe ja auch einen Fehlervogel. Wenn ich zu meinem Fehlervogel sage: 'Fehlervogel friss!', so frisst er mir alle Fehler weg."
"Oh", sagte die Schulkameradin, " da komme ich heute Nachmittag zu dir und bringe alle meine Hefte mit."
Aber am Nachmittag kamen mit der Schulfreundin viele Kinder und stolperten ins Zimmer hinein und brachten alle ihre Hefte mit. Und das kleine Mädchen breitete all die vielen Hefte vor dem Fehlervogel aus und sagte: "Fehlervogel friss!"
Und der Fehlervogel fraß und fraß und fraß und fraß – und auf einmal tat es einen dumpfen Knall – und da war der Fehlervogel geplatzt. Und da er voller Tinte und Fehler war, so flogen alle die Tintenflecken und alle die Fehler wieder in die Hefte hinein, und da standen die Kinder nun und hatten mehr Fehler und Kleckse in ihren Heften, als je zuvor. Der Fehlervogel aber lag auf dem Rücken und streckte die Beine von sich. Er war mausetot.
Das kleine Mädchen stand davor und weinte bitterlich. Die anderen Kinder aber gingen ganz leise zur Tür hinaus. Ach – sie wussten ganz genau, dass der einzige Fehlervogel, den es in der Welt je gegeben hatte, nicht so jämmerlich hätte sterben müssen, wenn sie in der Schule ein ganz klein wenig fleißiger gewesen wären und nicht so viele Fehler in ihre Hefte gemacht hätten.
"Froh zu sein bedarf es wenig
und wer froh ist
der ist König."
Gibt es tatsächlich ein eindeutiges Wissen darüber, was ein Fehler ist? Würde das nicht bedeuten, dass es objektive Gesetze gibt, nach denen alles berechenbar ist und machbar und auch korrigierbar? Alle Dinge, alle Prozesse, alles Denken in objektiver Wechselwirkung zueinander und kausal zusammenhängend?
Der französische Astronom und Mathematiker Pierre Laplace, er lebte von 1749 bis 1827, entwickelte tatsächlich 1814 eine Vorstellung, die zur Symbolfigur dieser Lehre, des Determinismus, wurde: eine allwissende Intelligenz,
" welche für einen gegebenen Augenblick alle in der Natur wirksamen Kräfte sowie die gegenseitige Lage der sie zusammensetzenden Elemente kennte - nichts würde ihr ungewiss sein, und Zukunft wie Vergangenheit würden ihr offen vor Augen liegen. "
Der Laplacesche Dämon. Noch Albert Einstein war tief von dieser Vorstellung geprägt. Sein Zeitgenosse und Diskussionspartner, der österreichische Philosoph Karl Popper, der noch vor dem Anschluss seiner Heimat an das tausendjährige Reich Hitlers nach England ins Exil gegangen war und in London an der School of Economics lehrte, hingegen begegnete Laplace mit der Logik der Induktion.
"Auch noch so viele Beobachtungen weißer Schwäne berechtigen nicht zu dem Satz, dass alle Schwäne weiß sind. Wir sind nicht logisch berechtigt, von besonderen Sätzen, und seien es noch so viele, auf allgemeine Sätze zu schließen."
Ein Kennzeichen von Wissenschaft ist die Suche nach Antworten, also ein Streben nach Erkenntnissen - nach objektiver Wahrheit - als ein Wissen über den Fehler. Der Laplacesche Dämon kann sich nach logischen Sätzen nicht seiner Allwissenheit versichern. Ein Beweis ist nach den Gesetzen der Logik zum Scheitern verurteilt. Damit ist Allwissenheit ausgeschlossen – auch für Dämonen. Auch sie können nicht wissen, was ein Fehler ist und was nicht.
Was bedeutet das für die Deduktionsmöglichkeit und reale Existenz des Fehlers?
Popper vertrat die Position, Beweise für die Richtigkeit einer Hypothese ließen sich nicht durch Verifikationen antreten. Lediglich der Fehler könne bewiesen werden, eine Hypothese könne nur durch Falsifikation widerlegt oder eben durch Widerstehen der Falsifikations-Versuche bestätigt werden.
"Wissenschaft, also das Suchen nach Wahrheit, beruht auf dem Lösen von Rätseln vor dem Hintergrund allgemein anerkannter wissenschaftlicher Erkenntnisse der Vergangenheit. Ich nenne diesen Hintergrund das "Paradigma". Aber ein Paradigma ist nicht falsifizierbar. Es gilt, bis ein neues auftaucht. Erkenntnisse schreiten nicht kontinuierlich und schrittweise oder dialektisch fort, sondern durch Revolutionen."
Der Mann, der durch diese These seines Buches "The Structure of Scientific Revolutions" 1962 heftige Auseinandersetzungen unter anderem auch mit Karl Popper auslöste und alle Wissenschaftstheoretiker seiner Zeit schockierte, war der Amerikaner Thomas Samuel Kuhn, geboren 1922. Er lehrte in Princeton und starb 1996 in Cambridge, Massachusetts.
"Ein Paradigma wirkt sich auf tieferen Ebenen aus: es betrifft selbst die Wahrnehmung der Wissenschaftler. Dann tauchen "Anomalien" auf, "
Anomalie: das Regelwidrige, das Mangelhafte, das Unpassende, das Andere, das Neue, der Fehler?
"- die sich mit dem Paradigma nicht fügen wollen. Es kommt zur Krise, zu einer grundsätzlichen Neubesinnung, einem neuen theoretischen Ansatz und schließlich wird der Paradigmenwechsel erzwungen. In den Köpfen der Wissenschaftler spielt sich das aber nicht so ab, dass immer mehr Anhänger des alten Paradigmas sich bekehren, sondern neue, junge Forscher sind von Anfang an mit dem neuen Paradigma vertraut und die Anhänger das alten sterben allmählich aus."
So kommt das Neue in die Welt: der Fehler frißt die geltende Wahrheit. Was ein Fehler ist und was nicht, ist also abhängig vom jeweilig gültigen Paradigma?
Der Fehler ist, wie so vieles andere auch, keine Gegebenheit, kein objektives Wissen aus der Berechnung von Erfahrung, sondern Teil einer Konstruktion. Ein Werkzeug. Eine Ordnung schaffende Kategorie, wie -
"- zum Beispiel: die Reihe der ganzen Zahlen auch eine Erfindung des Menschengeistes ist, ein selbstgeschaffenes Werkzeug, welches das Ordnen gewisser sinnlicher Erlebnisse erleichtert. Aber es gibt keinen Weg, diesen Begriff aus den Erlebnissen selbst gewissermaßen herauswachsen zu lassen. Ich wähle hier gerade den Begriff der Zahl, weil er dem vorwissenschaftlichen Denken angehört und an ihm der konstruktive Charakter noch leicht erkennbar ist."
Das war Albert Einstein.
Joschka Fischer: " Wenn ich Fehler gemacht habe.
- Ich habe zwei Fehler gemacht.
- Mögliche Fehler von mir, von meinen Mitarbeitern, habe ich dafür gerade zu stehen. Das ist das Prinzip der Ministerverantwortung."
Caspar Johannes Walter: "Ich würde es erst mal nicht "Fehler" nennen, sondern vielleicht "Zufälle", die nicht geplant sind, also die sich so von der Norm unterscheiden und das ist normalerweise ein guter Ansatzpunkt für eine kreative Situation. Also es gibt sozusagen was, was erwartet wird und es passiert irgendwas anderes, was man als Fehler bezeichnen würde in der Situation, das vielleicht irgendeine Regel nicht eingehalten wird, oder so, und das kann dann genau ein Punkt sein, wo man als Komponist darüber nachdenkt und überlegt, dass da vielleicht ein Ansatzpunkt für eine Idee wäre, oder so. Insofern ... man soll nicht immer die Regeln erfüllen und ein Fehler ist sozusagen genau das Gegenteil davon und insofern auch kann da was draus entstehen."
Caspar Johannes Walter ist Komponist. Er lebt und arbeitet in Köln. Er erhielt zahlreiche nationale und internationale Kompositionspreise und Stipendien, unter anderem in der Villa Massimo in Rom.
Caspar Johannes Walter: " Also Fehler nicht, weil das impliziert ja, dass man es nur korrigieren braucht, sozusagen, den Fehler verbessern, ... dazu ist die, eben so eine kreative Situation viel zu offen, es ist eher so, dass was vielleicht zu blass ist, also, dass ich mir irgendwas ausgedacht habe und dann merke ich nach einer Zeit, ich bin irgendwie nicht zu etwas Wesentlichem oder überhaupt zu einer Aussage gekommen. Und dann muss ich es irgendwie anders anpacken. Das ist dann aber nicht eine Fehlerkorrektur, sondern einfach das Gefühl, dass ich irgendwo in eine Sackgasse gelaufen bin oder einfach nicht genug innere Kraft darein gewendet, gegeben habe. "
Ein altes und ein neues Paradigma: Ockeghems Lamm – Bearbeitung von Kyrie und Agnus Dei aus Johannes Ockeghems Missa Prolationum von Caspar Johannes Walter, in einem Mitschnitt der Uraufführung durch das Thürmchen Ensemble Köln im März 2005.
Das alte Paradigma war einmal ein neues: Johannes Ockeghem lebte von 1425 bis 1496 und war ein Vertreter der "Ars nova", die die Anerkennung ursprünglich eines Fehlers, nämlich die Gleichberechtigung von dreizeitiger und zweizeitiger Unterteilung der vorherrschenden Notenwerte "Longa" und "Brevis" forderte. Daraus ergaben sich Veränderungen für die Definition des Modus, des Tempus und der Vortragsweise eines Musikstückes. Das heute neue Paradigma klingt wie ein Fehler, ist aber keiner: es bereichert das Klangspektrum durch Mikrotonalität und präpariertes Klavier. Eine musikalische Reise durch Zeit und Raum.
Caspar Johannes Walter: " Mit dem Publikum, das ist eine schwierige Frage, weil das Publikum kann ja eigentlich nicht wirklich nachvollziehen, wie der Entstehungsprozess von einem Stück gelaufen ist, aber vielleicht trotzdem gibt es Situationen, wo ein Publikum was Bestimmtes erwartet und wo man es ein bisschen schwer hat, wenn man was Originäres jetzt macht, vielleicht, was das Publikum überhaupt nicht gewohnt ist zu hören. Und ... das sind die Sachen, die eigentlich stehen bleiben, auch durchaus in der Musikgeschichte ist das so gewesen, dass die im ersten Moment ... als Fehler bezeichnet worden sind, und in Wirklichkeit ist es ein Aufbrechen von einer Kruste gewesen und also ein besonders bedeutsamer geschichtlicher Moment, wenn man so will."
Der Wert des Fehlers verkehrt sich in sein Gegenteil. Der Fehlervogel würde verhungern, er würde nicht mehr wissen, was er noch fressen soll.
Der Wert des Fehlers hat sich oft gewandelt. Bis zum Beginn der Neuzeit war die westliche Welt weitgehend von einer theokratisch streng reglementierten Ordnung bestimmt: die Menschen waren nicht eigenständig Handelnde, sondern alles geschah nach dem Willen Gottes und zu seinen Ehren.
"Ich weiß wohl, dass es viele gibt, die glauben, die Ereignisse seien derart von Fortuna und Gott vorherbestimmt, dass die Menschen mit ihrer Klugheit sie nicht lenken könnten, ja überhaupt nichts dagegen vermöchten, und die deshalb zu der Ansicht neigen, man solle sich nicht abmühen, sondern sich der Leitung des Zufalls überlassen. "
Was Fortuna im menschlichen Leben vermag und wie man sich ihrer erwehren soll – nannte Niccolo Machiavelli dieses Kapitel in seinem Buch "Il Principe".
"Ich möchte Fortunas Macht vergleichen mit einem reißenden Strom, der, wenn er wütend überschwillt, die Fluren überflutet, Bäume und Häuser niederreißt, hier Erde fortspült, um sie dort anzuschwemmen: jeder flieht vor ihm, alles weicht seinem Anprall, ohne irgendwelchen Widerstand leisten zu können."
Der Mensch kann gar nicht klug genug sein, der Fehler bricht über ihn herein wie ein Unwetter. Naturkatastrophen, Schicksalsschläge sind unausweichlich und von Gott gesandt. Machiavellis berühmter Text "Der Fürst" von 1513 markiert eine Grenze, einen Übergang in eine Zeit, die dem Menschen zum ersten Mal in seiner Geschichte Handlungsspielraum eröffnet und Verantwortung aufbürdet.
"Um unsere Willensfreiheit nicht ganz preiszugeben, halte ich dafür, dass Fortuna wohl zur Hälfte Herr ist über unsere Taten, aber die andere Hälfte, oder fast soviel, unserer Leitung überläßt. Fortuna zeigt ihre Macht dort, wo keine Kräfte zur Gegenwehr gerüstet stehen, und die Wogen des Schicksals wälzen sich dorthin, wo sie sicher sind, keine Dämme und Deiche zu finden, die sie hemmen. "
Von jetzt an ist der Fehler also vom Menschen gemacht.
Die Geschichte des Öl-Tankers "Prestige" und seiner Besitzer. Die Spuren führen nach Russland und in die Schweiz. Auf einer Reise durch Europa werden Verbindungen sichtbar und Abhängigkeiten, ein Geflecht von Beziehungen und eine große Gemeinsamkeit: das Schweigen. Wer mit Großtankern Öl über die Weltmeere bewegt, wer Tanker ordert oder vermietet, wer Öl zwischenlagert oder weiter verkauft, hält sich an Diskretion.
"14.11.2002, Prestige, 77.000 Tonnen ausgelaufenes Rohöl, Ort: Galizien.
12.12.1999, Erika, 20.000 Tonnen ausgelaufenes Rohöl, Ort: Bretagne.
16.2. 1996, Sea Empress, 70.000 Tonnen ausgelaufenes Rohöl, Ort: Westküste Groß Britannien.
03.12.1992, Aegean Sea, 70.000 Tonnen ausgelaufenes Rohöl, Ort: Galicien.
24.03.1989, Exxon Valdez, 41.000 Tonnen ausgelaufenes Rohöl, Ort: Alaska.
31.12. 1978, Andros Patra 50.000 Tonnen ausgelaufenes Rohöl, Ort: Galicien.
16.03.1978, Amoco Cadiz, 230.000 Tonnen ausgelaufenes Rohöl, Ort: Bretagne.
12.05.1976, Urquiola, 100.000 Tonnen ausgelaufenes Rohöl, Ort: Galicien.
18.03.1967 Torrey Canon, 120.000 Tonnen ausgelaufenes Rohöl, Ort: Südküste Groß Britannien. ..."
1952 erlebte London die schlimmste Smog-Katastrophe der Industriegeschichte. Etwa 12.000 Menschen überlebten den Smog nicht. Ruß und Schwefeldioxid aus Kaminen und Fabrikschloten sammelte sich am Boden, vermischte sich mit Gasen und Nebel, wurde schließlich so dicht, dass Fußgänger ihre Füße nicht sahen.
"Überschwemmungen in Afghanistan -
Hochwasser verwüstet Polens Südosten -
Ganze Dörfer wegen Lawine abgeschnitten -
Tote bei Überschwemmungen -
Waldbrände in Spanien -
Tschernobyl -
Terroristische Anschläge -
Ozonloch -
Hitzewellen -
Der Einsatz giftiger Chemikalien wie Zyanid -
Arbeitslosigkeit –"
Erst mit der Handlungsfreiheit kam der Fehler über die Welt. Aber das kann ja nicht stimmen, hatte der nicht gesagt: am Anfang war der Fehler?
Wenn man in einem Satz die fundamentale Eigenschaft der Materie dieses Universums beschreiben will, so müsste man sagen, die Materie sei so beschaffen, dass sie ständig beschleunigtes Musterwachstum zeigt. Das gilt in gleicher Weise für die unbelebten und die belebten und auch für die geistigen Strukturen unserer Welt. Jedes Ding besteht aus Materie und Muster. Alle Muster sind das Resultat eines Entwicklungsvorganges, den wir Evolution nennen: Geschichte, Prozess des Musterwachstums.
Ein Muster ist etwas Zusammengesetztes, eben eine Konstruktion. Es besteht aus Bausteinen. Ein Wort besteht aus Lauten, in geschriebener Form aus Buchstaben. Eine Melodie aus Noten. Aber diese Bausteine sind nicht in zusammenhanglosem Nebeneinander, wie in einem Haufen. Sie haben Beziehungen untereinander. Es existieren Abhängigkeiten, Bindungen, Relationen zwischen ihnen.
Und es ist Materie und Muster, die die Eigenschaften eines Dinges bestimmen. Ihr Zweck ist Stabilität, Überleben. Das Musterwachstum ist eine Folge des Zusammenwirkens von Zufall und der Beschränkung, die sich aus den Beziehungen der Bausteine ergibt. Muster wachsen also in beschränkter Freiheit. Die Beschränkung erzeugt das Gleiche, die Kopie. Der Zufall, die Freiheit das Neue und Andere. Den Fehler. Jedes qualitative Wachstum setzt den Fehler voraus.
Damit bin ich auch wieder am Anfang meiner Frage: woher soll man wissen, was ein Fehler ist und was nicht? Aber vielleicht kann das wirklich nur die Zeit entscheiden.
"Froh zu sein bedarf es wenig
und wer froh ist
der ist König.
… Froh zu sein bedarf es wenig"
- Wenn ich Fehler gemacht habe.
- Ich habe zwei Fehler gemacht.
- Wenn ich Fehler gemacht habe, mögliche Fehler von mir, von meinen Mitarbeitern, habe ich dafür gerade zu stehen."
Caspar Johannes Walter: "Indem es ein Bedürfnis gibt, vom Komponisten irgendetwas Bestimmtes zu machen, wo es keine Sprachregelung für gibt, durch Negieren von einer Konvention, also das wird dann von außen als Fehler wahrgenommen, aber der Komponist selbst wird das wahrscheinlich nicht als einen Fehler empfinden, sondern als eine Notwendigkeit, wo er dann halt dazu stehen muss, wo er einen gewissen Mut braucht und das so hinschreibt. Aber es werden viele als Fehler bezeichnen von außen, das schon."
"- Das war ein Fehler
- Du setzt nicht richtig ein.
- Das war falsch.
- So wird das doch nichts.
Aber ich hab' richtig eingesetzt!
- Mensch, das hört man doch!
- Zu früh, viel zu früh.
- Das war der Fehler!
- Noch mal!
Froh zu sein bedarf es wenig
und wer froh ist
der ist König.
- Das war doch wieder falsch.
- Diesmal war's zu spät.
- Hörst du nicht, wo du einsetzen musst?
- Tonedeaf. Total.
- Gibt es eigentlich ein deutsches Wort für diesen Begriff?
- Lenk nicht ab.
- Los, von vorne.
Froh zu sein bedarf es wenig
und wer froh ist
der ist König."
Schon sind wir eigentlich mittendrin im Thema: Fehler. Wir versuchen einen Kanon zu singen. Ein Kanon ist ein aus der notengetreuen Nachahmung einer vorgegebenen Melodie entwickeltes mehrstimmiges Musikstück: ein in bestimmten Abständen sich selbst wiederholendes Thema. In einem Kanon ist ein Fehler deutlich erkennbar. Es klingt einfach nicht gut. Die Harmonie ist gestört. Etwas an der Vorgabe wird nicht genau wiederholt, sondern verändert.
Am Anfang war der Fehler – Betrachtungen zu einem nicht ganz eindeutigen Phänomen von Nora Bauer.
"Es ist gut, dass niemand fehlerfrei ist, denn er würde keinen einzigen Freund in der Welt haben.
Der schlimmste aller Fehler ist, sich keines solchen bewusst zu sein.
Nicht unsere Tugenden, unsere Fehler machen uns zu Menschen.
Man wird nicht größer durch die Fehler anderer.
Ich glaube, jeder Mensch hat einen großen Lebensfehler, der ihn abhält, sein Wesen zur
Vollendung zu bringen.
Ein kluger Mensch macht nicht alle Fehler selbst. Er gibt auch anderen eine Chance.
Fehler des Tuns sind meist heilbringender als Fehler des Lassens."
Wir mögen einen Fehler nicht. Wir möchten uns nicht dabei ertappen lassen, einen Fehler zu machen. Wir neigen dazu, ihm eine ausschließlich destruktive Wirkung zu zuschreiben, weil er uns daran hindert, ein gestecktes Ziel zu erreichen. Wir möchten ihn lieber vermeiden. Aber es scheint, dass jedes Handeln, jede Erkenntnis auch immer den Fehler beinhaltet.
Guten Tag, Herr Fehler, danke, dass Sie zu uns ins Studio gekommen sind.
Herr Fehler: "Ich danke für die Einladung – guten Tag."
Sprechen Sie bitte direkt ins Mikrophon, wenn ich Sie schon nicht sehen kann, möchte ich Sie doch gern deutlich hören. Sie sind ein Formshifter, ist das richtig? können Sie uns erklären, was wir darunter zu verstehen haben.
Herr Fehler: "Ich bin an sich unsichtbar. Aber durch bestimmte Handlungen lasse ich mich evozieren. Und dann kann ich eben jede Form, jedes Gewand, jede Erscheinung annehmen. Was Ihnen gerade recht, beziehungsweise eben gerade nicht recht ist."
Sie haben schon ein beträchtliches Alter erreicht.
Herr Fehler: "Viele Milliarden Jahre. Ich war schon beim Urknall dabei. Am Anfang war weder das Wort und noch die Tat. Am Anfang war ich, der Fehler. Und ich werde bis zum Ende weiter dabei sein. Ich bin unsterblich. Alpha und Omega, das bin ich. Der Fehler."
Ich finde das extrem verwirrend. Wird denn auf dieser Welt gar nichts richtig gemacht?
Herr Fehler: "Alles oder nichts. Es kommt ganz auf die Perspektive an."
Christopher Kolumbus hatte nur ein großes Ziel: den Seeweg über den westlichen Ozean nach Indien zu entdecken. Indien war ein wichtiger Handelspartner für den Westen geworden, aber die Landroute war beschwerlich, sehr lang und gefährlich.
Nach der wissenschaftlich geltenden geographischen Lehre des Ptolemäus musste der westliche Ozean genauso breit sein wie Europa und Asien zusammen, 180 Längengrade, etwa 9000 Seemeilen. Nach Kolumbus' eigenen Berechnungen aber waren Europa und Asien größer und der westliche Ozean entsprechend schmaler, nur 7000 Seemeilen. Er berechnete damit, dass sechs Siebtel der Erde mit diesem Land bedeckt seien und deshalb auch auf der Erde kein Platz sei für einen weiteren Kontinent.
Dieser Rechenfehler gab Kolumbus die Überzeugungskraft, Finanzen für seine Seereisen zu akquirieren. Und ihm selbst den Mut 1492 in See zu stechen. Kolumbus glaubte, die Nadel seines Kompasses werde vom Polarstern angezogen. Das Wissen vom Magnetfeld der Erde fand erst um 1600 Eingang in die geltende Wissenschaftstheorie.
Bei der Überquerung des Atlantiks geriet die Mannschaft in Panik, als die Kompassnadel plötzlich herumschwang und in westlicher Richtung abwich. Kolumbus erklärte seinen verzweifelten Matrosen, die fürchteten, nie wieder Land zu sehen, der Polarstern wandere am Himmel in westliche Richtung. Das Land, das sie kurze Zeit später ansteuerten, musste also zu Indien gehören: die westindischen Inseln. Die Entdeckung Amerikas ist eigentlich ein Fehler.
Es war einmal ein kleines Mädchen, das war nicht sehr klug, aber kein Mensch merkte es, denn – ja denke dir – es hatte einen Fehlervogel.
Der Fehlervogel war dunkelblau wie dunkelblaue Tinte, und er glänzte und schillerte ganz herrlich.
Wenn nun das kleine Mädchen seine Hausaufgaben machte, so schrieb und rechnete es frisch drauflos. Aber es machte grässlich viele Fehler. Das tat jedoch nichts, denn wenn es seinen Schlusspunkt gesetzt hatte, so rief es einfach: "Fehlervogel friss!" Und Fehlervogel kam geflogen und fraß alle Fehler und Tintenkleckse weg.
Eines Tages sagte eine Schulkameradin: "Ach, ich möchte auch so klug sein wie du, nie hast du einen Fehler, und ich hab immer so viele."
"Ja", sagte das kleine Mädchen, "ich habe ja auch einen Fehlervogel. Wenn ich zu meinem Fehlervogel sage: 'Fehlervogel friss!', so frisst er mir alle Fehler weg."
"Oh", sagte die Schulkameradin, " da komme ich heute Nachmittag zu dir und bringe alle meine Hefte mit."
Aber am Nachmittag kamen mit der Schulfreundin viele Kinder und stolperten ins Zimmer hinein und brachten alle ihre Hefte mit. Und das kleine Mädchen breitete all die vielen Hefte vor dem Fehlervogel aus und sagte: "Fehlervogel friss!"
Und der Fehlervogel fraß und fraß und fraß und fraß – und auf einmal tat es einen dumpfen Knall – und da war der Fehlervogel geplatzt. Und da er voller Tinte und Fehler war, so flogen alle die Tintenflecken und alle die Fehler wieder in die Hefte hinein, und da standen die Kinder nun und hatten mehr Fehler und Kleckse in ihren Heften, als je zuvor. Der Fehlervogel aber lag auf dem Rücken und streckte die Beine von sich. Er war mausetot.
Das kleine Mädchen stand davor und weinte bitterlich. Die anderen Kinder aber gingen ganz leise zur Tür hinaus. Ach – sie wussten ganz genau, dass der einzige Fehlervogel, den es in der Welt je gegeben hatte, nicht so jämmerlich hätte sterben müssen, wenn sie in der Schule ein ganz klein wenig fleißiger gewesen wären und nicht so viele Fehler in ihre Hefte gemacht hätten.
"Froh zu sein bedarf es wenig
und wer froh ist
der ist König."
Gibt es tatsächlich ein eindeutiges Wissen darüber, was ein Fehler ist? Würde das nicht bedeuten, dass es objektive Gesetze gibt, nach denen alles berechenbar ist und machbar und auch korrigierbar? Alle Dinge, alle Prozesse, alles Denken in objektiver Wechselwirkung zueinander und kausal zusammenhängend?
Der französische Astronom und Mathematiker Pierre Laplace, er lebte von 1749 bis 1827, entwickelte tatsächlich 1814 eine Vorstellung, die zur Symbolfigur dieser Lehre, des Determinismus, wurde: eine allwissende Intelligenz,
" welche für einen gegebenen Augenblick alle in der Natur wirksamen Kräfte sowie die gegenseitige Lage der sie zusammensetzenden Elemente kennte - nichts würde ihr ungewiss sein, und Zukunft wie Vergangenheit würden ihr offen vor Augen liegen. "
Der Laplacesche Dämon. Noch Albert Einstein war tief von dieser Vorstellung geprägt. Sein Zeitgenosse und Diskussionspartner, der österreichische Philosoph Karl Popper, der noch vor dem Anschluss seiner Heimat an das tausendjährige Reich Hitlers nach England ins Exil gegangen war und in London an der School of Economics lehrte, hingegen begegnete Laplace mit der Logik der Induktion.
"Auch noch so viele Beobachtungen weißer Schwäne berechtigen nicht zu dem Satz, dass alle Schwäne weiß sind. Wir sind nicht logisch berechtigt, von besonderen Sätzen, und seien es noch so viele, auf allgemeine Sätze zu schließen."
Ein Kennzeichen von Wissenschaft ist die Suche nach Antworten, also ein Streben nach Erkenntnissen - nach objektiver Wahrheit - als ein Wissen über den Fehler. Der Laplacesche Dämon kann sich nach logischen Sätzen nicht seiner Allwissenheit versichern. Ein Beweis ist nach den Gesetzen der Logik zum Scheitern verurteilt. Damit ist Allwissenheit ausgeschlossen – auch für Dämonen. Auch sie können nicht wissen, was ein Fehler ist und was nicht.
Was bedeutet das für die Deduktionsmöglichkeit und reale Existenz des Fehlers?
Popper vertrat die Position, Beweise für die Richtigkeit einer Hypothese ließen sich nicht durch Verifikationen antreten. Lediglich der Fehler könne bewiesen werden, eine Hypothese könne nur durch Falsifikation widerlegt oder eben durch Widerstehen der Falsifikations-Versuche bestätigt werden.
"Wissenschaft, also das Suchen nach Wahrheit, beruht auf dem Lösen von Rätseln vor dem Hintergrund allgemein anerkannter wissenschaftlicher Erkenntnisse der Vergangenheit. Ich nenne diesen Hintergrund das "Paradigma". Aber ein Paradigma ist nicht falsifizierbar. Es gilt, bis ein neues auftaucht. Erkenntnisse schreiten nicht kontinuierlich und schrittweise oder dialektisch fort, sondern durch Revolutionen."
Der Mann, der durch diese These seines Buches "The Structure of Scientific Revolutions" 1962 heftige Auseinandersetzungen unter anderem auch mit Karl Popper auslöste und alle Wissenschaftstheoretiker seiner Zeit schockierte, war der Amerikaner Thomas Samuel Kuhn, geboren 1922. Er lehrte in Princeton und starb 1996 in Cambridge, Massachusetts.
"Ein Paradigma wirkt sich auf tieferen Ebenen aus: es betrifft selbst die Wahrnehmung der Wissenschaftler. Dann tauchen "Anomalien" auf, "
Anomalie: das Regelwidrige, das Mangelhafte, das Unpassende, das Andere, das Neue, der Fehler?
"- die sich mit dem Paradigma nicht fügen wollen. Es kommt zur Krise, zu einer grundsätzlichen Neubesinnung, einem neuen theoretischen Ansatz und schließlich wird der Paradigmenwechsel erzwungen. In den Köpfen der Wissenschaftler spielt sich das aber nicht so ab, dass immer mehr Anhänger des alten Paradigmas sich bekehren, sondern neue, junge Forscher sind von Anfang an mit dem neuen Paradigma vertraut und die Anhänger das alten sterben allmählich aus."
So kommt das Neue in die Welt: der Fehler frißt die geltende Wahrheit. Was ein Fehler ist und was nicht, ist also abhängig vom jeweilig gültigen Paradigma?
Der Fehler ist, wie so vieles andere auch, keine Gegebenheit, kein objektives Wissen aus der Berechnung von Erfahrung, sondern Teil einer Konstruktion. Ein Werkzeug. Eine Ordnung schaffende Kategorie, wie -
"- zum Beispiel: die Reihe der ganzen Zahlen auch eine Erfindung des Menschengeistes ist, ein selbstgeschaffenes Werkzeug, welches das Ordnen gewisser sinnlicher Erlebnisse erleichtert. Aber es gibt keinen Weg, diesen Begriff aus den Erlebnissen selbst gewissermaßen herauswachsen zu lassen. Ich wähle hier gerade den Begriff der Zahl, weil er dem vorwissenschaftlichen Denken angehört und an ihm der konstruktive Charakter noch leicht erkennbar ist."
Das war Albert Einstein.
Joschka Fischer: " Wenn ich Fehler gemacht habe.
- Ich habe zwei Fehler gemacht.
- Mögliche Fehler von mir, von meinen Mitarbeitern, habe ich dafür gerade zu stehen. Das ist das Prinzip der Ministerverantwortung."
Caspar Johannes Walter: "Ich würde es erst mal nicht "Fehler" nennen, sondern vielleicht "Zufälle", die nicht geplant sind, also die sich so von der Norm unterscheiden und das ist normalerweise ein guter Ansatzpunkt für eine kreative Situation. Also es gibt sozusagen was, was erwartet wird und es passiert irgendwas anderes, was man als Fehler bezeichnen würde in der Situation, das vielleicht irgendeine Regel nicht eingehalten wird, oder so, und das kann dann genau ein Punkt sein, wo man als Komponist darüber nachdenkt und überlegt, dass da vielleicht ein Ansatzpunkt für eine Idee wäre, oder so. Insofern ... man soll nicht immer die Regeln erfüllen und ein Fehler ist sozusagen genau das Gegenteil davon und insofern auch kann da was draus entstehen."
Caspar Johannes Walter ist Komponist. Er lebt und arbeitet in Köln. Er erhielt zahlreiche nationale und internationale Kompositionspreise und Stipendien, unter anderem in der Villa Massimo in Rom.
Caspar Johannes Walter: " Also Fehler nicht, weil das impliziert ja, dass man es nur korrigieren braucht, sozusagen, den Fehler verbessern, ... dazu ist die, eben so eine kreative Situation viel zu offen, es ist eher so, dass was vielleicht zu blass ist, also, dass ich mir irgendwas ausgedacht habe und dann merke ich nach einer Zeit, ich bin irgendwie nicht zu etwas Wesentlichem oder überhaupt zu einer Aussage gekommen. Und dann muss ich es irgendwie anders anpacken. Das ist dann aber nicht eine Fehlerkorrektur, sondern einfach das Gefühl, dass ich irgendwo in eine Sackgasse gelaufen bin oder einfach nicht genug innere Kraft darein gewendet, gegeben habe. "
Ein altes und ein neues Paradigma: Ockeghems Lamm – Bearbeitung von Kyrie und Agnus Dei aus Johannes Ockeghems Missa Prolationum von Caspar Johannes Walter, in einem Mitschnitt der Uraufführung durch das Thürmchen Ensemble Köln im März 2005.
Das alte Paradigma war einmal ein neues: Johannes Ockeghem lebte von 1425 bis 1496 und war ein Vertreter der "Ars nova", die die Anerkennung ursprünglich eines Fehlers, nämlich die Gleichberechtigung von dreizeitiger und zweizeitiger Unterteilung der vorherrschenden Notenwerte "Longa" und "Brevis" forderte. Daraus ergaben sich Veränderungen für die Definition des Modus, des Tempus und der Vortragsweise eines Musikstückes. Das heute neue Paradigma klingt wie ein Fehler, ist aber keiner: es bereichert das Klangspektrum durch Mikrotonalität und präpariertes Klavier. Eine musikalische Reise durch Zeit und Raum.
Caspar Johannes Walter: " Mit dem Publikum, das ist eine schwierige Frage, weil das Publikum kann ja eigentlich nicht wirklich nachvollziehen, wie der Entstehungsprozess von einem Stück gelaufen ist, aber vielleicht trotzdem gibt es Situationen, wo ein Publikum was Bestimmtes erwartet und wo man es ein bisschen schwer hat, wenn man was Originäres jetzt macht, vielleicht, was das Publikum überhaupt nicht gewohnt ist zu hören. Und ... das sind die Sachen, die eigentlich stehen bleiben, auch durchaus in der Musikgeschichte ist das so gewesen, dass die im ersten Moment ... als Fehler bezeichnet worden sind, und in Wirklichkeit ist es ein Aufbrechen von einer Kruste gewesen und also ein besonders bedeutsamer geschichtlicher Moment, wenn man so will."
Der Wert des Fehlers verkehrt sich in sein Gegenteil. Der Fehlervogel würde verhungern, er würde nicht mehr wissen, was er noch fressen soll.
Der Wert des Fehlers hat sich oft gewandelt. Bis zum Beginn der Neuzeit war die westliche Welt weitgehend von einer theokratisch streng reglementierten Ordnung bestimmt: die Menschen waren nicht eigenständig Handelnde, sondern alles geschah nach dem Willen Gottes und zu seinen Ehren.
"Ich weiß wohl, dass es viele gibt, die glauben, die Ereignisse seien derart von Fortuna und Gott vorherbestimmt, dass die Menschen mit ihrer Klugheit sie nicht lenken könnten, ja überhaupt nichts dagegen vermöchten, und die deshalb zu der Ansicht neigen, man solle sich nicht abmühen, sondern sich der Leitung des Zufalls überlassen. "
Was Fortuna im menschlichen Leben vermag und wie man sich ihrer erwehren soll – nannte Niccolo Machiavelli dieses Kapitel in seinem Buch "Il Principe".
"Ich möchte Fortunas Macht vergleichen mit einem reißenden Strom, der, wenn er wütend überschwillt, die Fluren überflutet, Bäume und Häuser niederreißt, hier Erde fortspült, um sie dort anzuschwemmen: jeder flieht vor ihm, alles weicht seinem Anprall, ohne irgendwelchen Widerstand leisten zu können."
Der Mensch kann gar nicht klug genug sein, der Fehler bricht über ihn herein wie ein Unwetter. Naturkatastrophen, Schicksalsschläge sind unausweichlich und von Gott gesandt. Machiavellis berühmter Text "Der Fürst" von 1513 markiert eine Grenze, einen Übergang in eine Zeit, die dem Menschen zum ersten Mal in seiner Geschichte Handlungsspielraum eröffnet und Verantwortung aufbürdet.
"Um unsere Willensfreiheit nicht ganz preiszugeben, halte ich dafür, dass Fortuna wohl zur Hälfte Herr ist über unsere Taten, aber die andere Hälfte, oder fast soviel, unserer Leitung überläßt. Fortuna zeigt ihre Macht dort, wo keine Kräfte zur Gegenwehr gerüstet stehen, und die Wogen des Schicksals wälzen sich dorthin, wo sie sicher sind, keine Dämme und Deiche zu finden, die sie hemmen. "
Von jetzt an ist der Fehler also vom Menschen gemacht.
Die Geschichte des Öl-Tankers "Prestige" und seiner Besitzer. Die Spuren führen nach Russland und in die Schweiz. Auf einer Reise durch Europa werden Verbindungen sichtbar und Abhängigkeiten, ein Geflecht von Beziehungen und eine große Gemeinsamkeit: das Schweigen. Wer mit Großtankern Öl über die Weltmeere bewegt, wer Tanker ordert oder vermietet, wer Öl zwischenlagert oder weiter verkauft, hält sich an Diskretion.
"14.11.2002, Prestige, 77.000 Tonnen ausgelaufenes Rohöl, Ort: Galizien.
12.12.1999, Erika, 20.000 Tonnen ausgelaufenes Rohöl, Ort: Bretagne.
16.2. 1996, Sea Empress, 70.000 Tonnen ausgelaufenes Rohöl, Ort: Westküste Groß Britannien.
03.12.1992, Aegean Sea, 70.000 Tonnen ausgelaufenes Rohöl, Ort: Galicien.
24.03.1989, Exxon Valdez, 41.000 Tonnen ausgelaufenes Rohöl, Ort: Alaska.
31.12. 1978, Andros Patra 50.000 Tonnen ausgelaufenes Rohöl, Ort: Galicien.
16.03.1978, Amoco Cadiz, 230.000 Tonnen ausgelaufenes Rohöl, Ort: Bretagne.
12.05.1976, Urquiola, 100.000 Tonnen ausgelaufenes Rohöl, Ort: Galicien.
18.03.1967 Torrey Canon, 120.000 Tonnen ausgelaufenes Rohöl, Ort: Südküste Groß Britannien. ..."
1952 erlebte London die schlimmste Smog-Katastrophe der Industriegeschichte. Etwa 12.000 Menschen überlebten den Smog nicht. Ruß und Schwefeldioxid aus Kaminen und Fabrikschloten sammelte sich am Boden, vermischte sich mit Gasen und Nebel, wurde schließlich so dicht, dass Fußgänger ihre Füße nicht sahen.
"Überschwemmungen in Afghanistan -
Hochwasser verwüstet Polens Südosten -
Ganze Dörfer wegen Lawine abgeschnitten -
Tote bei Überschwemmungen -
Waldbrände in Spanien -
Tschernobyl -
Terroristische Anschläge -
Ozonloch -
Hitzewellen -
Der Einsatz giftiger Chemikalien wie Zyanid -
Arbeitslosigkeit –"
Erst mit der Handlungsfreiheit kam der Fehler über die Welt. Aber das kann ja nicht stimmen, hatte der nicht gesagt: am Anfang war der Fehler?
Wenn man in einem Satz die fundamentale Eigenschaft der Materie dieses Universums beschreiben will, so müsste man sagen, die Materie sei so beschaffen, dass sie ständig beschleunigtes Musterwachstum zeigt. Das gilt in gleicher Weise für die unbelebten und die belebten und auch für die geistigen Strukturen unserer Welt. Jedes Ding besteht aus Materie und Muster. Alle Muster sind das Resultat eines Entwicklungsvorganges, den wir Evolution nennen: Geschichte, Prozess des Musterwachstums.
Ein Muster ist etwas Zusammengesetztes, eben eine Konstruktion. Es besteht aus Bausteinen. Ein Wort besteht aus Lauten, in geschriebener Form aus Buchstaben. Eine Melodie aus Noten. Aber diese Bausteine sind nicht in zusammenhanglosem Nebeneinander, wie in einem Haufen. Sie haben Beziehungen untereinander. Es existieren Abhängigkeiten, Bindungen, Relationen zwischen ihnen.
Und es ist Materie und Muster, die die Eigenschaften eines Dinges bestimmen. Ihr Zweck ist Stabilität, Überleben. Das Musterwachstum ist eine Folge des Zusammenwirkens von Zufall und der Beschränkung, die sich aus den Beziehungen der Bausteine ergibt. Muster wachsen also in beschränkter Freiheit. Die Beschränkung erzeugt das Gleiche, die Kopie. Der Zufall, die Freiheit das Neue und Andere. Den Fehler. Jedes qualitative Wachstum setzt den Fehler voraus.
Damit bin ich auch wieder am Anfang meiner Frage: woher soll man wissen, was ein Fehler ist und was nicht? Aber vielleicht kann das wirklich nur die Zeit entscheiden.
"Froh zu sein bedarf es wenig
und wer froh ist
der ist König.
… Froh zu sein bedarf es wenig"

Ein Nachbau von Christoph Columbus' Schiff "Santa Maria"© AP

Karl Raimund Popper bei der Verleihung der Goethe-Medaille in Weimar, März 1992© AP Archiv

Spanisches Marinepersonal räumt Öl des gesunkenen Tankers Prestige von den Stränden Galiziens 20. November 2002© AP