Am Ende eine Art Täter

06.06.2008
Ein Schweizer Entwicklungshelfer ist der Protagonist in Lukas Bärfuss' Roman "Hundert Tage". Zunächst voller Idealismus wird der junge Mann Zeuge des Völkermordes an den Tutsi in Ruanda. Furcht und Schuldgefühle verändern ihn: Er wird fatalistisch, erschöpft und bitter.
"Nein, wir gehören nicht zu denen, die Blutbäder anrichten. Das tun andere. Wir schwimmen darin. Und wir wissen genau, wie man sich bewegen muss, um obenauf zu bleiben und nicht in der roten Soße unterzugehen."

Das sagt der Schweizer David Hohl über die Rolle seines Landes beim Genozid an den Tutsi in Ruanda. David Hohl ist der Protagonist des Romans "Hundert Tage" von Lukas Bärfuss. Er kommt 1990 als Angestellter der Schweizer Entwicklungshilfe in die ruandische Hauptstadt Kigali. Das Ruanda dieser Zeit erlebt er als eine "afrikanische Schweiz", in dem sich sein Land seit der Unabhängigkeit besonders gern engagiert.

Diszipliniert und fleißig arbeiten die Einheimischen bei den Projekten der Entwicklungshilfe mit, die Betreuung durch die ruandische Bürokratie lässt kaum etwas zu wünschen übrig, das Land ist bis in die kleinste Dorfgemeinde hinein strikt hierarchisch durchorganisiert. Dass Ruanda dabei von einer autokratischen Einparteien-Regierung beherrscht wird, scheint nur ein kleiner Schönheitsfehler zu sein.

Genau dieser reibungslos funktionierende Staatsapparat wird aber zur Voraussetzung des größten Völkermordes seit 1945. David Hohl macht die Schweizer Entwicklungshilfe für diesen höchst effizient organisierten Massenmord mitverantwortlich:

"Hätten sie sich nicht an unsere Vorgaben gehalten, so hätten sie keine achthunderttausend Menschen umbringen können, nicht in hundert Tagen."

Ein Beispiel dafür: Die Schweizer Helfer lassen vor Beginn des Genozids einen Medienspezialisten aus ihrer Heimat einfliegen, der einen Radiosender in Ruanda professionell durchorganisiert. Über diesen Sender werden wenig später die entscheidenden Mordaufrufe gegen die Tutsi verbreitet.

Nun ist Lukas Bärfuss' Buch kein reiner Thesenroman. Der Autor schickt seine Hauptfigur durch eine Liebesgeschichte, er lässt ihn die verschiedensten Typen von Entwicklungshelfern kennenlernen: die korrekten Beamten und die Desperados, die sich vom Leben in der Fremde aufsaugen lassen. Einer von ihnen wird zu einem der wenigen Helden in diesem Roman, wenn auch aus nicht überaus ehrenwerten Motiven. Weil er auf eine einheimische Frau scharf ist, rettet er ihre ganze weit verzweigte Familie.

Die pflichtbewussten Mitarbeiter der Schweizer Hilfsdirektion dagegen fliegen mit der letzten Maschine ab, ohne sich auch nur um die Sicherheit ihrer ruandischen Angestellten zu kümmern. David Hohl dagegen bleibt in Kigali, während der hundert Tage des massenhaften Tötens versteckt er sich, wie gelähmt von Furcht und Schuldgefühlen.

Lukas Bärfuss ist kein Zeuge der Ereignisse in Ruanda, aber er hat sich gründlich über das Geschehen im Jahr 1994 informiert. Sein Thema ist die Mitverantwortung der Europäer für den Völkermord, wobei ihn ganz offensichtlich auch das Leiden am eigenen Land beim Schreiben angetrieben hat.

Sein David Hohl ist anfangs ein idealistischer junger Mann, aber er wird zu einem schweigenden, passiven Zeugen massenhaften Mordens, am Ende sogar zu einer Art Täter. Seine Stimme ist die einzige, die man in diesem ganzen Roman vernimmt, fatalistisch, erschöpft und bitter erzählt er seine Version der Ereignisse. Ein sicherer Gewährsmann ist dieser moralisch zerrüttete Schweizer nicht, aber seine Geschichte zieht einen bis zuletzt in ihren Bann.

Rezensiert von Frank Meyer

Lukas Bärfuss: Hundert Tage
Roman, Wallstein, Göttingen 2008
200 Seiten, 19,90 Euro