Unvergessen!
Ihr grausamer Tod ist ein halbes Jahr her, Tugce Albayraks Name ist seitdem untrennbar mit dem Wörtchen "Zivilcourage" verbunden. In ihrer hessischen Heimat besuchen bis heute viele Freunde und Angehörige das Grab der jungen Frau.
Eine ungewöhnlich hohe Birke direkt neben der Friedhofskapelle. Direkt darunter das Grab von Tugce Albayrak. Eine Einfassung aus hellem Holz, genauso wie das Schild mit ihrem Namen unter einer arabischen Kaligraphie. Das Grab ist vollständig bedeckt mit Blumensträußen und Windlichtern, in denen Kerzen brennen. Am Stamm der Birke lehnen zwei goldene Herzen, davor ein Foto von Tugce – ebenfalls von Blumen umkränzt. Eine kleine Frauengruppe steht ganz in der Nähe. Renate Kaiser ergreift als erste das Wort:
"Die Leute kommen eigentlich immer her, jeden Tag."
"Ich bin ja alt, ich werde ja 80 jetzt. Ich hätte das nicht gemacht, auch als ich jung war, glaube ich. Ich hätte Angst gehabt, um mich. Aber die hatte ja Courage, irgendwie. Für mich ist das ein Vorbild. Ich habe mich gefreut, wie es hieß, sie ist in Bad Soden-Salmünster."
"Ich bin jemand, der viel zum Friedhof geht. Das Grab meiner Eltern, meiner Geschwister besuchen. Es gibt immer Leute, die zum Grab von der Tugce gehen. Ich habe die Tugce selber nicht gekannt, aber ich kann mir vorstellen, wie schlimm es ist für die Eltern und für die Geschwister, eine Schwester zu verlieren. Ganz schlimm."
Eine ungewöhnliche Frau
Wenn sie aus ihrem Grab nach Norden schauen könnte – Tugce blickte auf einen Vulkan. Der Vogelsberg ist nicht irgendein Basalthaufen, der früher Feuer spuckte. Er ist das größte zusammenhängende Vulkangebiet Mitteleuropas. An seinem Fuße wurde Tugce Albayrak geboren. Hier liegt sie begraben. Eine ungewöhnliche Frau an einem ungewöhnlichen Berg.
"Ich bin sehr viel hier am Friedhof und es kommen immer welche. Und auch viele junge Leute. Viele junge Männer mit Blumen. Und es gibt auch viele Tränen. Jetzt immer noch."
"Manchmal kommt schon die eine oder andere Träne, die man nicht halten kann."
Ismail Tipi ist nicht mehr ganz jung – ein Mann um die 60, ein hessischer CDU-Landtagsabgeordneter mit türkischen Wurzeln. Seit der Gewalttat am 15. November 2014 gegen Tugce Albayrak kümmert sich Ismail Tipi um die Familie. Alle zwei bis drei Tage spricht er mit den Tugces Eltern. Bis heute. Auch Tugces Grab besucht er regelmäßig:
"Und ich gehe auch mal dort hin und gucke mir mal an, wen trifft man dort. Und man trifft auch Monate danach noch viele Menschen, die dort hinkommen und sich ihrem stillen Gebet anschließen und einfach Blumen oder Rosen niederlegen. Das ist etwas, was einem rührend in Erinnerung bleibt. Das ist wirklich ein großer Schmerz, den heute noch viele Menschen in sich tragen."
Nach dem Freitagsgebet besuchen viele das Grab
Der Friedhof, auf dem Tugce begraben ist, liegt am Rande des osthessischen Kleinstädtchens Bad-Soden-Salmünster. In den Orten am Fuße des Vogelsberg-Vulkans lebt die weitverzweigte Familie Albayrak seit Jahrzehnten. Auch die Moschee in Wächtersbach, in der Anfang Dezember 2014 Tausende Abschied von Tugce nahmen, steht nur wenige Kilometer entfernt. Nach dem Freitagsgebet brechen auch vor dort aus die Gläubigen regelmäßig zu Tugces Grab auf. Hakan Akbulut ist der Vorsitzende des Wächtersbacher Moscheevereins:
"Der Friedhof an sich, die Tote, die wird von vielen Leuten besucht. Von Seiten unserer Gemeinde auch. Man macht dort seine Gebete, man liest seinen Koran und dann entfernt man sich wieder."
Das schöne Frühlingswetter sorgt dafür, dass der Friedhof belebt ist. Er sind überwiegend Frauen, die mit Gießkannen auf den Wegen unterwegs sind. Immer wieder kommt jemand an Tugces Grab vorbei. Renate Kaiser ist fast täglich auf dem Friedhof und fotografiert das Grab immer wieder:
"Mein Weg ist immer hier rum, ich gehe immer hier vorbei. Ich habe sie jetzt auch wieder fotografiert, das Grab. Weil sich das ja verändert hat. Das war ja ein Hügel. Und der ganze Hügel war bedeckt mit lauter Blumen."
"Sie liegt sehr schön"
Renate Kaiser hat mal in der Schule gearbeitet, die mehrere Kinder der Familie Albayrak besuchten:
"Die haben ja früher in Salmünster gewohnt. Ich war in der Schule, in der Verwaltung. Und da habe ich die Brüder gekannt und sie auch. Sie war nett und konnte gut Klavier spielen."
Reporter: "Wo haben sie sie gehört, in der Schule?"
"In der Schule. Ja."
"In der Schule. Ja."
Tugce Albayrak spielt bei ihrem Abi-Ball von ein paar Jahren auf der Schulbühne ein Klavierstück. Mit einem Handy hat dies jemand damals etwas verschwommen aufgenommen und ins Internet gestellt. Tugce trägt bei ihrem Auftritt ein rotes Ballkleid. Rot ist auch die dominierende Farbe des gestreiften Hemdes, das Tugce auf dem Foto trägt, das mit den zwei großen goldenen Herzen am Baum hinter ihrem Grab lehnt. Das Foto ist nicht so oft gedruckt worden wie das, auf dem Tugce eine Strickmütze tief in die Stirn gezogen hat und frech in die Kamera schaut.
Renate Kaiser sagt, sie müsse jetzt nach Hause. Sie wirft einen letzten Blick auf Tugces Grab. Für sie – wie auch viele andere, die regelmäßig hier herkommen - gibt es einen Trost:
"Sie hat den richtigen Platz gekriegt. Sie liegt sehr schön."