Am untersten Ende der Gesellschaft
Fast 20 Jahre ist es her, dass in Rostock-Lichtenhagen 1992 ein Ausländerheim brannte. Der Schrecken in Ost und West war groß. Dabei wurde deutlich, dass sich der Hass der Brandstifter vor allem auch auf "die Zigeuner" bezog. Bogdal ist dem Phänomen des Antiziganismus nachgegangen.
"Wären Zigeuner verbrannt, hätte es mich nicht gestört – Vietnamesen schon, aber Sinti und Roma egal."
So die 16jährige Schülerin Ramona, nachdem sie gemeinsam mit anderen Jugendlichen im August 1992 in Rostock-Lichtenhagen Benzinbomben in ein Ausländerheim geschleudert hatte, das voller Menschen gewesen war.
Es war vor allem das mit kalter Leichtigkeit dahingesagte Wörtchen "egal", das den Bielefelder Literaturwissenschaftler Klaus-Michael Bogdal veranlasste, dem Furor der Verachtung auf den Grund zu gehen, der sich hinter der Haltung der Schülerin verbirgt – und nicht nur bei ihr. Das Ergebnis seiner Recherche liegt jetzt vor. Außerordentlich detailliert und für ein Sachbuch ungewöhnlich spannend beschreibt er, wie die Romvölker seit ihrer Ankunft vor 600 Jahren in den europäischen Gesellschaften aufgenommen werden. Klaus-Michael Bogdal:
"Das ist ein Exempel dafür, wie man eine Gruppe durch Ausschluss einschließt in die Gesellschaft. Also man kann ja nicht sagen, dass man sie 600 Jahre ausschließt. Sondern man ordnet ihr einen Platz zu. Aber das ist immer eine Platzierung am untersten Ende der Gesellschaft, eine Position ohne Recht und Würde."
Dieser Prozess der Marginalisierung und Entehrung lässt sich bereits in den Stadtchroniken nachlesen, die als erste über die neuen Einwanderer berichten. In der Bairischen Chronik des Aventinus heißt es zum Beispiel:
"Zur selben Zeit beginnt jenes sehr diebische Volk (oder: Menschengeschlecht), ein Gemisch und Auswurf verschiedener Völker (wir nennen sie Zigeni) unsere Gebiete zu durchstreifen."
Sie werden als "diebisch" bezeichnet – sogar als "Auswurf", ohne dass dieses Imago der Wirklichkeit entspräche: In den Gerichtsakten der damaligen Zeit tauchen sie kaum auf; so schlimm kann es also nicht gewesen sein mit ihrem verbrecherischen Naturell.
Diesen komplexen Prozess, wie Europa die Zigeuner erfindet und sie zu Fremden macht, hat Klaus-Michael Bogdal nicht nur anhand von Chroniken, Rechtsepisteln oder ethnographischen Abhandlungen untersucht, sondern vor allem auch an zahlreichen Beispielen aus der Literatur.
Selbst geachtete Kulturträger wie Goethe, Shakespeare oder Strindberg schreckten nicht davor zurück, um des dramatischen Effekts willen mit den von ihnen erdichteten Zigeunerfiguren an der Stigmatisierung mitzuwirken. Da wird bei Cervantes die junge Adlige Preciosa von Zigeunern geraubt, obwohl solche Fälle nicht aktenkundig sind; und Mérimée stellt den Mord an Carmen, dem Inbegriff der "schönen Zigeunerin", im nachhinein als "sinnvolle Säuberung" dar:
"Sehr jung mögen die spanischen Zigeunerinnen für angenehm häßlich gelten, sind sie aber erst einmal Mütter, werden sie widerlich. Die Unsauberkeit beider Geschlechter ist unglaublich, und wer die Haare einer Zigeunermatrone nicht gesehen hat, kann sich unmöglich einen Begriff davon machen, selbst wenn er sich die gröbsten, fettigsten und staubigsten Pferdehaare vorstellt."
Eine Geschichte von Faszination und Verachtung lautet der Untertitel von Bogdals Studie. Doch wird schnell klar, dass die Faszination nur so lange anhält, wie der Abstand zur realen Lebenswelt der Romvölker eingehalten wird. Kommt man sich zu nahe, schlägt die Faszination in Verachtung um. Dies wird unter anderem offenkundig, wenn sich im 17. Jahrhundert die Damen des Hofes als verführerische Zigeunerinnen verkleiden, während Romfrauen an der Landesgrenze ohne Prozess erhängt werden. Klaus-Michael Bogdal:
"Adorno hat von der Dialektik der Aufklärung geredet, aber jetzt kann man das mal handfest und konkret zeigen, wie an einem ganz schizophrenen Nebeneinander die europäischen Gesellschaften hochtechnisierte Kulturen entwickeln und gleichzeitig doch auf eine sehr archaische Weise mit einer Minderheit umgehen, die ich als Dezivilisation und Entzivilisierung bezeichne. Und das ist sie, weil sie ja in letzter Konsequenz zum Holocaust führt."
Vor dem Holocaust hat die Literatur im Verein mit pseudowissenschaftlichen Abhandlungen ihren Phantasien freien Lauf gelassen, wie Sinti und Roma zu behandeln und zu beseitigen seien, solange bis nichts mehr von all dem, als Verbrechen empfunden wurde. Diese "Erfindungen", wie sie Klaus-Michael Bogdal bezeichnet, haben sich nach dem Genozid mitnichten als Schimären aufgelöst. Es gibt eine erschreckend lange Reihe jener, die unfähig waren, von den bewährten Zigeunerklischees Abschied zu nehmen. In der deutschsprachigen Literatur reicht sie von Günter Grass über Christa Wolf bis zu Herta Müller.
Bogdal versteht Antiziganismus nicht als eine weitere Variante des üblichen Täter-Opfer-Schemas, sondern als konstitutiven Bestandteil der europäischen Geschichte: Als sich die ersten Nationalstaaten bilden, lässt sich keine Gruppe so wenig wie die Zigeuner mit einem oder mehreren Siedlungsräumen verbinden, weshalb sie der verarmten, nicht sesshaft gewordenen Unterschicht zugeordnet werden.
Von der sozialen Ortlosigkeit ist es dann nur ein kleiner Schritt zur Entrechtung, denn die Anerkennung als Rechtssubjekt wird an eine geographische Herkunft geknüpft, die wiederum den Zigeunern abgesprochen wird. Später zählt man sie zu den verachteten, außereuropäischen Völkern wie den "Hottentotten", die sich angeblich jeglicher Zivilisierung widersetzen.
Selbst berühmte Vertreter des Humanismus und der Aufklärung wie Herder, Pestalozzi oder Kant empfehlen deshalb Zwangsarbeit und andere rigide Maßnahmen zur "Austreibung der Wildheit" und Vertreibung der "Wilden" selbst.
Nicht einmal die Entdeckung, dass die Romvölker aus Indien stammen und über eine eigene Sprache, dem Romanes (sprich Romanäss), verfügen, kann diese Ordnung des scheinbaren Wissens über Zigeuner ins Wanken bringen: Schnell wird die Verwandtschaft des Romanes mit dem Sanskrit als Fortbestand verwahrloster Formen indischer Dialekte herunter gespielt.
Sie waren - und sind - unerwünscht; und dennoch kamen sie wie gerufen. Wie sonst wäre die Vehemenz und Beständigkeit zu erklären, mit der die "Erfindung" der Zigeuner vonstatten ging und noch immer betrieben wird? Klaus-Michael Bogdal:
"Man misst sich an ihnen. Sie sind sozusagen alles das, was die europäischen Gesellschaften nicht sein wollen. Und dann kann man auch sehen, wie weit man selbst als Gesellschaft gekommen ist, wie hoch man seine Kultur entwickelt hat. Es ist also massiv unser Problem."
Und so gibt es auch kein Sinti- oder Roma-Problem. Das Problem sind irrationale Ängste und heimliche Bewunderungen der Mehrheitsgesellschaft. Insofern zwingt uns Klaus-Michael Bogdal zu einem Blick in den Spiegel, der keineswegs schmeichelhaft ist, sondern beunruhigend: Denn solange wir um des vermeintlichen Selbsterhaltes willen auf die Konstruktion von Fremden angewiesen sind, die Sinti und Roma ausgrenzen, anstatt ihr europäisches Bürgerrecht anzuerkennen, tragen wir nicht nur zur Entzivilisierung dieser vermeintlichen Fremden bei, sondern auch zur Entzivilisierung von uns selbst.
So wie sie auch heute noch mit den Romvölkern umgehen, sie in Rumänien und der Slowakei ins Elend treiben, in Ungarn verfolgen oder aus Deutschland in den Kosovo abschieben, wie jüngst wieder 70 Roma, verraten die europäischen Gesellschaften permanent ihr eigenes Ideal von der Würde des Menschen. Angesichts dessen kann man nur hoffen, dass Klaus Michael Bogdals Buch eine breite Leserschaft findet – auch unter Politikern – und dass die 600 Jahre nicht noch mal um 100 oder gar 150 verlängert werden.
Klaus-Michael Bogdal: Europa erfindet die Zigeuner.
Eine Geschichte von Faszination und Verachtung
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011
So die 16jährige Schülerin Ramona, nachdem sie gemeinsam mit anderen Jugendlichen im August 1992 in Rostock-Lichtenhagen Benzinbomben in ein Ausländerheim geschleudert hatte, das voller Menschen gewesen war.
Es war vor allem das mit kalter Leichtigkeit dahingesagte Wörtchen "egal", das den Bielefelder Literaturwissenschaftler Klaus-Michael Bogdal veranlasste, dem Furor der Verachtung auf den Grund zu gehen, der sich hinter der Haltung der Schülerin verbirgt – und nicht nur bei ihr. Das Ergebnis seiner Recherche liegt jetzt vor. Außerordentlich detailliert und für ein Sachbuch ungewöhnlich spannend beschreibt er, wie die Romvölker seit ihrer Ankunft vor 600 Jahren in den europäischen Gesellschaften aufgenommen werden. Klaus-Michael Bogdal:
"Das ist ein Exempel dafür, wie man eine Gruppe durch Ausschluss einschließt in die Gesellschaft. Also man kann ja nicht sagen, dass man sie 600 Jahre ausschließt. Sondern man ordnet ihr einen Platz zu. Aber das ist immer eine Platzierung am untersten Ende der Gesellschaft, eine Position ohne Recht und Würde."
Dieser Prozess der Marginalisierung und Entehrung lässt sich bereits in den Stadtchroniken nachlesen, die als erste über die neuen Einwanderer berichten. In der Bairischen Chronik des Aventinus heißt es zum Beispiel:
"Zur selben Zeit beginnt jenes sehr diebische Volk (oder: Menschengeschlecht), ein Gemisch und Auswurf verschiedener Völker (wir nennen sie Zigeni) unsere Gebiete zu durchstreifen."
Sie werden als "diebisch" bezeichnet – sogar als "Auswurf", ohne dass dieses Imago der Wirklichkeit entspräche: In den Gerichtsakten der damaligen Zeit tauchen sie kaum auf; so schlimm kann es also nicht gewesen sein mit ihrem verbrecherischen Naturell.
Diesen komplexen Prozess, wie Europa die Zigeuner erfindet und sie zu Fremden macht, hat Klaus-Michael Bogdal nicht nur anhand von Chroniken, Rechtsepisteln oder ethnographischen Abhandlungen untersucht, sondern vor allem auch an zahlreichen Beispielen aus der Literatur.
Selbst geachtete Kulturträger wie Goethe, Shakespeare oder Strindberg schreckten nicht davor zurück, um des dramatischen Effekts willen mit den von ihnen erdichteten Zigeunerfiguren an der Stigmatisierung mitzuwirken. Da wird bei Cervantes die junge Adlige Preciosa von Zigeunern geraubt, obwohl solche Fälle nicht aktenkundig sind; und Mérimée stellt den Mord an Carmen, dem Inbegriff der "schönen Zigeunerin", im nachhinein als "sinnvolle Säuberung" dar:
"Sehr jung mögen die spanischen Zigeunerinnen für angenehm häßlich gelten, sind sie aber erst einmal Mütter, werden sie widerlich. Die Unsauberkeit beider Geschlechter ist unglaublich, und wer die Haare einer Zigeunermatrone nicht gesehen hat, kann sich unmöglich einen Begriff davon machen, selbst wenn er sich die gröbsten, fettigsten und staubigsten Pferdehaare vorstellt."
Eine Geschichte von Faszination und Verachtung lautet der Untertitel von Bogdals Studie. Doch wird schnell klar, dass die Faszination nur so lange anhält, wie der Abstand zur realen Lebenswelt der Romvölker eingehalten wird. Kommt man sich zu nahe, schlägt die Faszination in Verachtung um. Dies wird unter anderem offenkundig, wenn sich im 17. Jahrhundert die Damen des Hofes als verführerische Zigeunerinnen verkleiden, während Romfrauen an der Landesgrenze ohne Prozess erhängt werden. Klaus-Michael Bogdal:
"Adorno hat von der Dialektik der Aufklärung geredet, aber jetzt kann man das mal handfest und konkret zeigen, wie an einem ganz schizophrenen Nebeneinander die europäischen Gesellschaften hochtechnisierte Kulturen entwickeln und gleichzeitig doch auf eine sehr archaische Weise mit einer Minderheit umgehen, die ich als Dezivilisation und Entzivilisierung bezeichne. Und das ist sie, weil sie ja in letzter Konsequenz zum Holocaust führt."
Vor dem Holocaust hat die Literatur im Verein mit pseudowissenschaftlichen Abhandlungen ihren Phantasien freien Lauf gelassen, wie Sinti und Roma zu behandeln und zu beseitigen seien, solange bis nichts mehr von all dem, als Verbrechen empfunden wurde. Diese "Erfindungen", wie sie Klaus-Michael Bogdal bezeichnet, haben sich nach dem Genozid mitnichten als Schimären aufgelöst. Es gibt eine erschreckend lange Reihe jener, die unfähig waren, von den bewährten Zigeunerklischees Abschied zu nehmen. In der deutschsprachigen Literatur reicht sie von Günter Grass über Christa Wolf bis zu Herta Müller.
Bogdal versteht Antiziganismus nicht als eine weitere Variante des üblichen Täter-Opfer-Schemas, sondern als konstitutiven Bestandteil der europäischen Geschichte: Als sich die ersten Nationalstaaten bilden, lässt sich keine Gruppe so wenig wie die Zigeuner mit einem oder mehreren Siedlungsräumen verbinden, weshalb sie der verarmten, nicht sesshaft gewordenen Unterschicht zugeordnet werden.
Von der sozialen Ortlosigkeit ist es dann nur ein kleiner Schritt zur Entrechtung, denn die Anerkennung als Rechtssubjekt wird an eine geographische Herkunft geknüpft, die wiederum den Zigeunern abgesprochen wird. Später zählt man sie zu den verachteten, außereuropäischen Völkern wie den "Hottentotten", die sich angeblich jeglicher Zivilisierung widersetzen.
Selbst berühmte Vertreter des Humanismus und der Aufklärung wie Herder, Pestalozzi oder Kant empfehlen deshalb Zwangsarbeit und andere rigide Maßnahmen zur "Austreibung der Wildheit" und Vertreibung der "Wilden" selbst.
Nicht einmal die Entdeckung, dass die Romvölker aus Indien stammen und über eine eigene Sprache, dem Romanes (sprich Romanäss), verfügen, kann diese Ordnung des scheinbaren Wissens über Zigeuner ins Wanken bringen: Schnell wird die Verwandtschaft des Romanes mit dem Sanskrit als Fortbestand verwahrloster Formen indischer Dialekte herunter gespielt.
Sie waren - und sind - unerwünscht; und dennoch kamen sie wie gerufen. Wie sonst wäre die Vehemenz und Beständigkeit zu erklären, mit der die "Erfindung" der Zigeuner vonstatten ging und noch immer betrieben wird? Klaus-Michael Bogdal:
"Man misst sich an ihnen. Sie sind sozusagen alles das, was die europäischen Gesellschaften nicht sein wollen. Und dann kann man auch sehen, wie weit man selbst als Gesellschaft gekommen ist, wie hoch man seine Kultur entwickelt hat. Es ist also massiv unser Problem."
Und so gibt es auch kein Sinti- oder Roma-Problem. Das Problem sind irrationale Ängste und heimliche Bewunderungen der Mehrheitsgesellschaft. Insofern zwingt uns Klaus-Michael Bogdal zu einem Blick in den Spiegel, der keineswegs schmeichelhaft ist, sondern beunruhigend: Denn solange wir um des vermeintlichen Selbsterhaltes willen auf die Konstruktion von Fremden angewiesen sind, die Sinti und Roma ausgrenzen, anstatt ihr europäisches Bürgerrecht anzuerkennen, tragen wir nicht nur zur Entzivilisierung dieser vermeintlichen Fremden bei, sondern auch zur Entzivilisierung von uns selbst.
So wie sie auch heute noch mit den Romvölkern umgehen, sie in Rumänien und der Slowakei ins Elend treiben, in Ungarn verfolgen oder aus Deutschland in den Kosovo abschieben, wie jüngst wieder 70 Roma, verraten die europäischen Gesellschaften permanent ihr eigenes Ideal von der Würde des Menschen. Angesichts dessen kann man nur hoffen, dass Klaus Michael Bogdals Buch eine breite Leserschaft findet – auch unter Politikern – und dass die 600 Jahre nicht noch mal um 100 oder gar 150 verlängert werden.
Klaus-Michael Bogdal: Europa erfindet die Zigeuner.
Eine Geschichte von Faszination und Verachtung
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011