Das kapitalistische Schwungrad
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Jeff Bezos kann mit Fug und Recht von sich behaupten, dass er die Konsumgewohnheiten der Menschen radikal verändert hat. Vor genau 25 Jahren schaltete er seine Amazon-Webseite für den Buchhandel frei.
Sie waren Nerds, die Leute, die vor einem Vierteljahrhundert anfingen, eine neue computerisierte Welt zu schaffen: von IT faszinierte Spinner. Auch Jeff Bezos war ein Nerd, allerdings faszinierte den Informatiker von der Wall Street weniger die Computersoftware als Mechanismen. Ihn faszinierte die Mechanik von Abläufen sowohl beim Verkaufen von Waren als auch den Abläufen in den Köpfen der Menschen. Er beschloss, beides zu einer einzigartigen Synergie zusammenzuführen.
1994 hatte der 30-jährige Bezos beschlossen, mit diesen wundersamen, neuen, kurzen Wegen des Internets eine Verkaufsplattform zu schaffen; dass er dann mit Büchern anfing lag daran, dass deren Verkauf am einfachsten zu bewerkstelligen war.
Er ging von New York nach Seattle, weil dort die Steuern für sein Projekt am günstigsten waren. Und er mietete ein Haus mit einer Garage an, weil Garagen als Startup-Standorte gerade unheimlich cool waren – und weil er die Lieferwagen mit den Büchern direkt über die Einfahrt an sein Büro heranfahren lassen konnte.
Nach zwei Jahren an der Börse
Dann ging alles ganz unglaublich schnell. Am 16. Juli 1995 wurde das erste Buch an einen Onlinekunden abgeschickt, bereits im zweiten Monat nahm Amazon pro Woche etwa 20.000 Dollar ein, und zwei Jahre später ging der Buchversender an die Börse.
Nach dem Platzen der Dotcom-Blase zog Bezos seine Firma wieder aus der Beinahe-Pleite, indem er seine höchst effizient durchorganisierte Verkaufsplattform auch anderen Händlern öffnete – gegen eine vergleichsweise geringe Gebühr. Aber der Namensschilderkünstler aus Jackson, Missouri, konnte plötzlich nicht nur an die Passanten vor seinem Laden verkaufen, sondern weltweit.
Und dann war das Schwungrad in der Mechanik von Amazon nicht mehr aufzuhalten. Ein DVD-Verleih wurde angeschlossen, und als die Streaming-Technologie aufkam, war Amazon ebenfalls ganz vorn mit Filmen wie auch mit Musik.
Das elektronische Lesegerät Kindle war ein geniales Synergie-Produkt des ursprünglichen Buchhändlers. Weil ein Computer, der mit einem spricht wie in "Star Wars", ziemlich cool wäre, trieb auch Amazon die Spracherkennung voran und entwickelte die virtuelle Assistentin Alexa. Die gigantischen Rechenanlagen, die Amazons Infrastruktur benötigte, wurde auch vermietet – an private Nutzer der Amazon-Cloud wie auch an Netflix und die CIA.
Akkuschrauber und Ausbeutung
Inzwischen handelt die Firma mit allem: Biogemüse und Gartenmobiliar, mit Fahrradschlössern und Akkuschraubern, Tablets und Jamie-Oliver-Bratpfannen – und mit Überwachungsanlagen und Gesichtserkennung für mehrere Polizeibehörden, vermutlich auch für die amerikanische Einwanderungsbehörde an der mexikanischen Grenze. Zumindest hat Bezos sich sehr darum bemüht, und die amerikanische Technology Review nannte Amazon letztes Jahr bereits "Amerikas neuesten Militärgiganten".
Dass auf dem Weg zum größten Verkäufer der Welt selbstverständlich Skandale und Schlagzeilen auftauchten mit Stichworten wie Leiharbeit, schlechte Bezahlung, Ausbeutung – das war für Bezos eher eine zu vernachlässigende Nebensache. Allmählich aber hat Amazon und hat Jeff Bezos, trotz seines ansteckenden Lachens, dass ihn für viele so lange sympathisch gemacht hatte, ein veritables Imageproblem.
Aber dass das irgendwann auftauchen würde, muss dem Amazon-Gründer von Anfang an klar gewesen sein. Als er die Firma aufmachte, hatte er als Namen auch "Relentless" in Erwägung gezogen. Das heißt "unaufhaltsam" - aber auch "unbarmherzig".