Ambivalente Sicht auf Europa

Rezensiert von Jörg Plath |
Worüber der Friedenspreisträger des letzten Jahres auch schreibt, ob über Politik, Kindheit, Literatur, Film, Architektur oder das verheerende Erdbeben in Istanbul 1999 - immer nähert sich Orhan Pamuk seinem Thema auf sehr persönliche Weise. In "Der Blick aus meinem Fenster" erzählt er vom Beginn der Sehnsucht nach und der Abscheu vor Europa. Diese Ambivalenz ist einer der roten Fäden dieses Buches.
Niemand erwarte in "Der Blick aus meinem Fenster", dem neuen Buch von Orhan Pamuk, Neues zu dem Aufsehen erregenden Prozess gegen den türkischen Schriftsteller wegen angeblicher "Verunglimpfung des Türkentums". Lediglich sein Artikel, den eine deutsche Zeitung kurz vor Beginn des inzwischen eingestellten Verfahrens veröffentlichte, ist noch einmal abgedruckt. Er findet sich in dem Kapitel "Die Politik lenkt zu sehr ab", und diese Überschrift beschreibt Pamuks Haltung ganz gut:

Er ist, obwohl er nicht zu den in seinem Land tabuisierten Themen des Völkermords an den Armeniern und des Krieges gegen die Kurden schweigt, nur wider Willen ein politischer Autor. Statt einzugreifen, beobachtet Pamuk lieber und erzählt davon auf eine genaue, alles in seiner Eigenart würdigenden Weise. Es sind Betrachtungen, die das neue Buch neben einer autobiographisch gefärbten Erzählung versammelt.

Worüber der Friedenspreisträger des letzten Jahres auch schreibt, ob über Politik, Kindheit, Literatur, Film, Architektur oder das verheerende Erdbeben in Istanbul 1999 – immer nähert er sich seinem Thema auf sehr persönliche Weise. Die Erinnerungen an die Kindheit gipfeln in einer Liebeserklärung an den Vater, einen großzügigen und gut aussehenden Hallodri, der das ererbte Vermögen nach Kräften verschleudert und eines Tages Hals über Kopf nach Paris verschwindet. Mit dem Vater erzählt Pamuk vom Beginn der Sehnsucht nach und der Abscheu vor Europa. Diese Ambivalenz ist einer der roten Fäden dieses Buches.

Den zweiten roten Faden bildet das seltsame Paar Einsamkeit und Schuldgefühl. Pamuk verspürt beides bei einem Besuch in Teheran, als sein Fahrer - wie einst er selbst in Istanbul - gegen die Verkehrsregeln verstößt. Und er muss an Humbert Humbert in Vladimir Nabokovs "Lolita" denken, der sein Auto gegen Ende des Buches nicht etwa aus Protest auf die linke Straßenseite lenkt sondern: als ein Mensch, der alle menschlichen Regeln gebrochen hat und daher so einsam wie voller Schuldgefühle ist. Denselben Empfindungen begegnet Pamuk in den Romanen von Patricia Highsmith, und in seiner Jugend verspürte er sie beim Essen eines Hotdogs in einem Istanbuler Imbiss. Denn wer draußen isst, lebt modern. Er entzieht sich dem Heim, der Mutter, der Intimität der Familie. Also ist er einsam und verspürt beim Gedanken an die Verwandten Schuldgefühle.

Orhan Pamuk schätzt Fjodor Dostojewski wegen seiner Hassliebe zu Europa über alles: Der Russe habe die Verwestlichung mit der westlichen Kunst schlechthin, dem Roman, bekämpft. Ganz ähnlich ergeht es ihm selbst: Pamuk ist ein mit allen Wassern modernen Erzählens gewaschener Fabulierer und greift in seinen Büchern "Die weiße Festung", "Das schwarze Buch", "Das neue Leben", "Rot ist mein Name" oder zuletzt "Schnee" immer wieder zentrale Probleme des Landes auf: die Stellung des von Kemal Atatürk radikal und abrupt modernisierten Landes zwischen Tradition und Moderne sowie Ost und West, die Frage der türkischen Identität und die grassierende Paranoia einer umfassenden Verschwörung gegen die Türken. Das sei ein großartiges Material für die literarische Phantasie, meint Pamuk dankbar. Nur muss er immer wieder desillusioniert bemerken, dass die Romane, in denen er sich ironisch mit der Paranoia auseinandersetzt, als deren Bestätigungen gelesen werden …


In "Der Blick aus meinem Fenster" führt Pamuk viele Überlegungen aus seinen Romanen weiter. Es fehlt die Beschäftigung mit dem mystischen Islam, dem Sufismus. Vielmehr zeigt das Buch Pamuks ständige, oft schwierige Auseinandersetzung mit Europa und seiner Kultur. Das erlaubt dem deutschen Leser einen seltenen Blick von außen auf die eigene Zivilisation - und auf die ihr inne wohnende Gewalt.


Orhan Pamuk: Der Blick aus meinem Fenster. Betrachtungen
Aus dem Türkischen von Cornelius Bischoff, Ingrid Iren, Gerhard Meier, Christoph K. Neumann und Wolfgang Riemann.
Hanser Verlag, München 2006, 260 Seiten