Charles C. Mann: Amerika vor Kolumbus. Die Geschichte eines unentdeckten Kontinents.
Aus dem Englischen von Bernd Rullköter
Rowohlt Verlag, Reinbek 2016
718 Seiten, 29,95 Euro
Das Ende des romantischen Wilden
Ein fast leerer Kontinent, eine neue, unverdorbene Welt – das war Amerika angeblich vor der Entdeckung durch Kolumbus. Die wenigen Menschen, die vor allem im Süden des Kontinents lebten, taten das weitgehend im Einklang mit der Natur. So schuf der europäische Blick einen Mythos, den der amerikanische Wissenschaftsjournalist Charles C. Mann nun faktenreich zertrümmert.
Charles C. Mann schreibt dabei keine Universalgeschichte Amerikas vor Kolumbus, sondern konzentriert sich auf drei Bereiche dieser Historie: die indianische Demographie, die indianischen Ursprünge und die indianische Ökologie. Er erforscht also, wie viele Menschen damals auf dem Doppelkontinent lebten, wann sich die Ureinwohner dort niederließen und wie sie auf die Natur einwirkten.
Leer und unberührt war das Land nicht, als die europäischen Eroberer kamen, so der Autor. Dessen Analyse zeigt, dass die Bevölkerungszahl in beiden Teilen des Kontinents wesentlich höher war, als man gemeinhin annimmt. 90 bis 112 Millionen Menschen lebten dort (in Europa waren es zur gleichen Zeit etwa 60 Millionen), und Reisende berichteten von großen Städten nahe des Amazonas und seiner Seitenarme. Heute sind dort nur noch winzige Dörfer zu finden, wie Archäologen für die heute fast menschenleere Region Beni im Norden Boliviens bestätigen können. Doch die Europäer brachten Pocken und andere Seuchen mit und rotteten so große Teile der Urbevölkerung schnell aus. Manche Forscher glauben, dass 95 Prozent der Indianer die europäischen Infektionskrankheiten nicht überlebten. Und diese Krankheiten drangen schneller vor als die Eroberer. Die Gesellschaften, auf die die Europäer trafen, waren also von Epidemien heimgesucht und befanden sich in panikartiger Auflösung und kulturellem Niedergang.
Wie es das romantische Klischee will
Ursprünglich waren die indianischen Gemeinschaften nicht nur größer, sie waren auch älter und kultivierter als man gemeinhin annimmt. Wahrscheinlich wurde der Doppelkontinent schon vor 30 000 Jahren besiedelt. So entwickelten sich höchst komplexe Kulturen: Die Indianer domestizierten Baumwolle und Mais, besaßen Schriftsysteme, nutzten Kalender und mathematische Berechnungen. Und nicht nur die Inka und die Azteken bauten Städte, nahe dem heutige St. Louis gab es zwischen 950 und 1250 eine Siedlung mit 15.000 Einwohnern.
Solche Gesellschaften konnten kaum, wie es das romantische Klischee will, im Einklang mit der Natur leben. Die Indianer gestalteten beispielsweise mit Brandrodungen ihre Umwelt. Was wir heute als amerikanische Wildnis betrachten war das Ergebnis der Verwilderung nach dem Niedergang der Indianerkulturen. Dass es vor 250 Jahren, zur Zeit der frühen Siedler, Millionen von (heute ausgestorbenen) Wandertauben in Nordamerika gab, lag beispielsweise daran, dass diese nicht von den Indianergemeinschaften systematisch als Schädlinge dezimiert wurden.
Charles C. Mann sprach mit Forschern und referiert Studien, er schreibt durchaus unterhaltsam und seine Argumentation ist immer nachvollziehbar. Auch wenn man manche Schlussfolgerung nicht teilt, etwa die, dass die Siedler ihre Vorliebe für beschränkte Herrschaft und hohe persönlicher Autonomie (Gründungsmythen Nordamerikas) von den Indianern übernommen hätten, schmälert das nicht den Wert seines glänzend argumentierendes Werks. Denn es ändert unseren Blick auf die Geschichte.