US-amerikanische Intellektuelle Susan Sontag

So groß, dass es drei Bücher braucht

11:33 Minuten
Historische Aufnahme der amerikanischen Schriftstellerin und Philosophion Susan Sontag in ihrem Arbeitszimmer, November 1972.
Essayistin und Schriftstellerin Susan Sontag: Ihre Bücher formten den intellektuellen Diskurs in den USA nachhaltig. © Getty / Jean-Regis Rouston / Roger Viollet
Susanne Mayer im Gespräch mit Andrea Gerk |
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Susan Sontag hat den Zeitgeist mit einem großen Gespür erfasst. Die New Yorker Schriftstellerin, Kritikerin und Filmemacherin, die wie ein Star gefeiert wurde, prägt die Geisteswissenschaften bis heute. Jetzt erscheinen gleich mehrere Bücher über sie.
Andrea Gerk: 2004 starb die New Yorker Schriftstellerin, Kritikerin und Filmemacherin Susan Sontag mit 73 Jahren. In diesem Herbst erscheinen gleich drei Bücher über ihr Leben und Werk, eines davon mit Erzählungen von Sontag selbst.
Desweiteren erscheinen die Erinnerungen der amerikanischen Autorin Sigrid Nunez, die lange Zeit Sontags Assistentin war, und eine Biografie von Benjamin Moser, der für sein monumentales Werk den Pulitzerpreis bekommen hat. Die Literaturkritikerin Susanne Mayer hat seine Biografie bei uns im Programm vorgestellt. Frau Mayer, welches der drei Bücher haben Sie denn eigentlich mit dem größten Vergnügen gelesen?
Susanne Mayer: Ehrlich gesagt diesen kleinen, schmalen Erzählband. Diese Erzählungen zeigen plötzlich eine Susan Sontag, die so leichtfüßig sein konnte. Die sind so spielerisch. Anders als in ihren Romanen wagt sie da etwas, offensichtlich mit dem Gefühl, nichts groß zu wagen.
Sie scheint da plötzlich auf so einer Linie zu sein, wo sie denkt: Jetzt mache ich einfach mal irgendwas. Alles andere, was Susan Sontag sonst gemacht hat, war so mit Anstrengung verbunden – diese ganzen Leselisten ablesen, diese ganzen schwierigen Leute erklären, diese ganzen wichtigen, modernen Filme erklären. Doch bei diesen Erzählungen lacht man, da freut man sich dran. Ich sage mal: Nach diesem 1.000-Seiten-Moser war das wie eine kleine Erholung.

Die hochgebildete Frau aus der Provinz

Gerk: Was Sie jetzt über diese Erzählungen sagen, ist ja tatsächlich nicht das, was Sontag so berühmt gemacht hat. Was war es, das Susan Sontag mit 30 schlagartig zu so einer so berühmten Intellektuellen gemacht hat?
Mayer: Sie ist da auf dieser Bühne von New York aufgeschlagen. Moser spielt das ein bisschen runter, aber da war schon eine Menge los. Da war Punk los, da war Andy Warhol unterwegs. Und sie ist da reingekommen. Sie war eine hochgebildete Frau aus der Provinz, vollgestopft mit allen Theorietexten und allen Texten der Moderne. Und sie hatte wohl ein Gespür dafür, dass es einen Umbruch gab.
Porträtaufnahme von Susan Sontag, geschätzt im Jahr 1995
Susan Sontag: Binnen kurzer Zeit reüssierte sie als eine der führenden Intellektuellen der USA.© imago images / Leemage / Sophie Bassouls
Dann hat sie diesen sehr interessanten kleinen Essay über Camp geschrieben, der eigentlich das Gegenteil von dem sagte, was sie die ganze Zeit machte. Dieser Essay sagte im Prinzip: Die Zeit der Hochkultur und des Tiefschürfenden ist jetzt vorbei. Wir sind jetzt bei der glitzernden Oberfläche, mit anderen Worten: bei den großen Glitterqueens von New York, bei Warhol, bei den ganzen Clubs.
Sie hat im Prinzip – und das wird ihr auch zum Vorwurf gemacht – eine große aufblühende Schwulenkultur beschrieben, ohne sie zu benennen. Das war vielleicht auch ein kleiner Punkt in diesem großen Erfolg: Dass sie diese zwar beschrieben hat, aber sie ist nicht offensiv nach vorne ans Netz damit gegangen.
Aber sie hatte ihre Zeit tatsächlich mit einem großen Gespür erfasst. Und dann ist das gleich aufgegriffen worden – in der "New York Times" und Magazinen. Das war auch die Zeit, als die Magazinkultur richtig aufblühte. Die Amerikaner sind da ja sehr viel weiter gewesen und haben auch intellektuelle Frauen groß in Magazinen gedruckt. Ich sage nur Joan Didion, die ganze Sequenzen geschrieben hat. Dafür war Susan Sontag natürlich geradezu wunderbar ausgestattet, weil sie auch ganz großartig aussah.

Alles, alles, alles über Sontag

Gerk: Aber Susan Sontag hatte tatsächlich ein interessantes Leben. Benjamin Moser hat jetzt ein riesiges, dickes Buch darüber geschrieben. Lohnt es sich, diese 900 Seiten zu lesen?
Mayer: Es ist jetzt nicht schwer zu lesen. Das ist sozusagen alles, alles, alles über Sontag. Und ich glaube, Moser ist in einer ähnlichen Weise besessen wie Susan Sontag selbst. Es ist alles mögliche Material da. Das Buch heißt ja auch nicht Susan Sontag, sondern "Sontag". Es heißt auch nicht "eine Biografie der großen Intellektuellen", sondern "Die Biografie". Er hat eigentlich einen fast monströsen, riesigen Anspruch.
Es ist zwar schon interessant zu lesen, was Richard Burton über Susan Sontag gesagt hat oder Joseph Brodsky sich geäußert hat, der eine Zeit lang ihr Partner war. Aber ich glaube, die Sache, über die man sehr streiten kann, ist: Moser bändigt dieses riesige Material, indem er da mit einem psychoanalytischen Ansatz rangeht. Er sagt: Dies ist eine Person, die das kleine Mädchen aus der Provinz war, deren Vater ganz früh verloren ging, der in China war und dort an TB gestorben ist. Die Mutter war sehr kalt und dann hat sie für sich eine Persona erschaffen, "die Susan Sontag", in Anführungsstrichen.
Dieses Muster zieht Moser gnadenlos durch. Er schreibt, sie war die Form, die sie dann zerbrochen hat. Ich glaube, da irrt er. Weil,wie schon erwähnt: Es gab Susan Sontag. Es gab auch Angela Davis, die glamouröse Philosophieprofessorin aus Berkeley.
Gerk: Wenn er so viel Material hat und so viele verschiedene Aspekte beleuchtet – wie kriegt er das denn in den Griff?
Mayer: Er geht ganz normal chronologisch vor. Es beginnt mit ihrer Jugend und endet mit ihrem Tod. Er hat auch eine Menge zu erklären. Es ist diese glamouröse, kluge Gestalt, aber einige von diesen Texten lesen sich einfach unglaublich bemüht. Warum sind sie so bemüht? Sie war die bewunderte Gestalt, von der alle möglichen Leute berichten, dass sie unerträglich war, dass sie Leute gedemütigt hat, dass sie böse war, dass sie Menschen heruntergeputzt hat. Und dann kann Moser wieder auftreten und sagen: Das ist so, weil sie im Herzen immer noch die kleine Susan war und sich aufspielen musste.

Sontag ist auch in Zeiten von Corona aktuell

Gerk: Also besteht die Gefahr des Voyeurismus?
Mayer: Ich finde schon. Viele Leute sagen ja auch: Um zu verstehen, warum Susan Sontag die große Susan Sontag war, reicht es im Prinzip, diese frühen Essays zu lesen. Auch "Against Interpretation" etwa, eine Variante von "Notes on Camp" und ebenfalls eine Absage an die tiefschürfende Hochkultur.
Sie hat gespürt, dass jetzt eine neue Ära der Oberflächenfaszination kommt. Susan Sontag hat das Medium Fotografie, das damals wirklich nach vorne gespielt wurde, nicht betrachtet unter dem wichtigen Gesichtspunkt, dass es auch für Frauen sehr wichtig war – es war ja ein nicht so teures Medium, so eine Kamera konnte man sich leisten. Auch in Europa haben viele Frauen in den 60er- und 70er-Jahren mit der Fotografie angefangen.+
Stattdessen hat Sontag dieses Medium einer Kulturkritik unterzogen, die sie später korrigiert hat. Anfangs war ihr Standpunkt kritisch. Später, in ihrem Buch "Das Leiden anderer betrachten", hat sie sehr zu Herzen gehend dafür plädiert, dass man auch die Schreckensbilder - heute würde man sagen: etwa aus Aleppo - anschauen muss, weil es die Opfer gewollt hätten, dass man ihr Elend sieht und zur Kenntnis nimmt.
Das waren zusammen ihren Texten über Krankheit sicher ihre wichtigsten Werke. Ich denke auch, über Krankheit können wir heute eigentlich nur mit Susan Sontag nachdenken, die selber Jahrzehnte gegen verschiedene Krebserkrankungen gekämpft hat. Sontag hat sich sehr dagegen ausgesprochen, diesen Prozess des Krankwerdens durch furchterregende Metaphern zu überlagern.
Wenn man nun heute betrachtet, wie Christian Drosten und Karl Lauterbach sozusagen den Ton vorgeben, wie man über COVID-19 redet, dann hat das auch ein bisschen was von Susan Sontag. Das würde reichen, um zu verstehen, warum sie so berühmt ist. Alles andere finde ich, lenkt eher ein bisschen ab und ist voyeuristisch.

Es ist egal, ob sie nett war

Gerk: Wenn Sie jetzt diese beiden Bücher über Susan Sontag anschauen, würden Sie sagen, dass sich Ihr Bild von dieser Person, von ihr als große Intellektuelle dadurch verändert hat oder sogar beschädigt wird?
Mayer: Nunez' Buch habe ich schon 2011 gelesen, als es im Original rauskam, weil ich etwas über Sontag geschrieben habe. Ich war sehr erschrocken, auch über diesen Furor, mit dem sie sich sozusagen über diese Figur hermacht und wirklich sehr intime Einzelheiten aus dem Zusammenleben erzählt.
Nunez war befreundet mit David Rieff, Sontags Sohn, und sie schildert so viele Szenen aus dem Häuslichen. Es hat sich bei mir dann wirklich ein Gefühl eingestellt, dass ich gesagt habe: Nein, das möchte ich nicht wissen, das geht mir jetzt zu weit. Letztlich muss ich auch als Literaturkritikerin sagen: Ob jemand nett ist oder nicht, ist einfach vollkommen egal, wenn man die Texte eigentlich liest und sich fragt: Stimmt das jetzt oder stimmt das nicht? Ist das ein guter Text oder ein schlechter Text? Ist es stilistisch gelungen oder nicht? Das ist zwar ein bisschen bitter, aber eigentlich ist egal, ob jemand nett ist oder nicht. Es kommt darauf an, ob er gut denken und gut formulieren kann.
Gerk: Das konnte Susan Sontag ja zweifellos. Also eher mal wieder sie selbst lesen, höre ich da so ein bisschen raus.
Mayer: Ja, das würde ich jetzt, in diesen Tagen, auf jeden Fall jedem empfehlen: "Das Leiden anderer betrachten" noch mal zu lesen oder "Krankheit als Metapher".
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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