Amnesty-Jahresbericht

"Die Welt schaute zu, als Millionen litten"

Kurdische Flüchtlinge in der Türkei.
Kurdische Flüchtlinge in der Türkei. Derzeit gebe es die größte Flüchtlingskatastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg, beklagt Amnesty, © AFP / Bulent Kilic
Von Jochen Spengler, Studio London |
2014 war kein gutes Jahr für die Menschenrechte, wie der Jahresbericht von amnesty international zeigt. Die Organisation wirft Staaten und der UNO vor, die Menschen nicht ausreichend vor Terrormilizen und Angriffen zu schützen.
Amnesty International registrierte 2014 in 160 Staaten Verletzungen der Menschenrechte, davon in 35 durch bewaffnete Gruppen. Kriegsverbrechen wurden in 18 Ländern begangen, drei Viertel aller Regierungen haben die Meinungsfreiheit eingeschränkt. In einem nachdrücklichen Video fasst die Menschenrechtsorganisation ihre Bilanz zusammen:
"62 Regierungen haben politische Gefangene, vier Millionen Menschen sind wegen des Konflikts in Syrien geflohen, 95 Prozent davon in die Nachbarstaaten, 78 Länder kriminalisieren gleichgeschlechtliche Partnerschaften, 82 Prozent aller Staaten, das macht 131, folterten oder misshandelten Menschen."
Es steht derzeit nicht gut um die Menschenrechte. Und das dringlichste Problem ist für Amnesty, dass immer mehr Zivilisten betroffen sind, durch Banden wie IS oder Boko Haram, aber auch durch Sicherheits- und Streitkräfte. Millionen seien getötet, verletzt oder im Stich gelassen worden. 50 Millionen Flüchtlinge weltweit bedeuteten die höchste Anzahl seit dem Zweiten Weltkrieg.
"Die Welt schaute zu, als Millionen litten. Wir wissen, es ist die Pflicht der Regierungen und der internationalen Staatengemeinschaft, Zivilisten zu schützen und zu unterstützen. Insbesondere in Konflikten. Doch bislang war ihre Reaktion jämmerlich, wir meinen beschämend."
Drei konkrete Forderungen
Amnestys Generaldirektor Salil Chetty stellte den Jahresbericht 2014 in London vor - er ist eine wichtige Bilanz des Schreckens und zugleich ein Dokument der Hilflosigkeit. Denn wie die Regierungen konkret Zivilisten schützen können, dafür liefert auch Amnesty kein Rezept. Die drei konkreten Forderungen, mit denen die Menschenrechtsorganisation die Staaten aufruft, endlich ihrer Verantwortung nachzukommen, erscheinen vielleicht wünschenswert, aber nicht sonderlich realistisch: So sollen zum Beispiel die fünf ständigen Mitglieder des UNO-Sicherheitsrats in Fällen von Genozid und Gräuel freiwillig auf ihr Vetorecht verzichten und damit Beschlüsse ermöglichen.
"Wir glauben, wenn in allen großen Konflikten der letzten Jahre, ob Syrien oder Gaza oder die Ukraine und Nigeria, der Sicherheitsrat rechtzeitig gehandelt und auf Organisationen wie Amnesty gehört hätte, dass wir heute in einer vollkommen anderen Lage wären ."
Als zweites Übel brandmarkt die Organisation die Lieferung von Waffen in Konfliktgebiete, wo sie von Staaten und bewaffneten Gruppen gegen Zivilisten eingesetzt würden. Ein generelles Waffenembargo fordere man nicht, stellt Generalsekretär Chetty klar, wohl aber die Anwendung der goldenen Regel des im letzten Jahr in Kraft getretenen globalen Waffenhandelsvertrags. Danach muss in jedem Einzelfall geprüft werden, ob Waffen in die Hände von Verbrechern oder Terroristen fallen können.
"Wir sind erfreut, dass die deutsche Regierung den Vertrag ratifiziert hat, sind aber ein wenig besorgt, dass ihre Waffenexporte Saudi-Arabien einschließen. Keine Lieferung, wenn Waffen missbraucht werden können für Kriegsverbrechen oder Menschenrechtsverstöße. Deswegen fordern wir in Fällen wie in Syrien und jetzt in der Ukraine, dass die goldene Regel vor jeder Waffenlieferung angewendet wird."
Regeln für Explosivwaffen
Drittens verlangt Amnesty von der Weltgemeinschaft neue Regeln, um den Gebrauch von Explosivwaffen wie Luftbomben oder Raketen in Wohngebieten zu untersagen. Zugleich warnt die Organisation die Regierungen davor, auf die Bedrohung der Sicherheit mit drakonischen Gegenmaßnahmen zu antworten, die ihrerseits gegen die Menschenrechte verstießen, wie es in Afghanistan, Nigeria, Russland und der Türkei zu beobachten sei.
Die einzige Lösung, Konflikte zu beenden sowie Sicherheit und Stabilität zu gewährleisten, liege "im Schutz der Menschenrechte. Sie liege darin, die Ursachen der Konflikte zu bekämpfen: Diskriminierung und Ungleichheit. Und zugleich die Straffreiheit für Verbrechen sowie den Mangel an Gerechtigkeit und Verantwortlichkeit zu beseitigen."
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