Wie die Polizei soziale Netzwerke nutzte
Vor einem Jahr versetzte der Amoklauf eines 18-jährigen Schülers München in Panik. Diese wurde durch Falschmeldungen in den sozialen Netzwerken weiter geschürt. Wir fragen den Münchner Polizeisprecher Marcus da Gloria Martins, wie die Polizei dagegen ansteuern kann.
Am 22. Juli 2016 tötete der 18-jährige Schüler David S. neun Menschen. Vier weitere verletzte er durch Schüsse. Die Polizei war im Großeinsatz - auch weil Falschmeldungen in den sozialen Medien zusätzlich für Panik in der Bevölkerung sorgten.
Bemerkenswert an diesem Tag war aber auch die Art und Weise, wie die Münchner Polizei und insbesondere ihr Pressesprecher Marcus da Gloria Martins mit dem Ereignis umgingen. Für seine gleichzeitig transparente und umsichtige Information von Medien und Öffentlichkeit wurde da Gloria Martins später mehrfach ausgezeichnet. Entscheidend dabei sei die Nutzung der sozialen Medien gewesen, betonte da Gloria Martins im Deutschlandfunk Kultur.
Aus der Silvesternacht gelernt
"Wir hatten ja unser Erweckungserlebnis, um es mal so zu bezeichnen, in der Terrornacht Silvester 2015/16, wo wir als einzige Großstadt bislang in Deutschland so was ähnliches wie einen Terroralarm auslösen mussten." Dabei sei deutlich geworden, dass die klassischen, althergebrachten Kommunikationsmittel von Behörden "im Akutfall tatsächlich einfach nicht mehr State of the Art sind", so der Pressesprecher der Münchner Polizei.
"Daraus haben wir gelernt und waren dadurch auch in der Lage, in der OEZ-Nacht [OEZ = das Einkaufszentrum, in dem sich der Amoklauf abspielte] tatsächlich mit dem Kanal Social Media – nicht nur, aber auch mit dem Kanal Social Media – sehr schnell zu sein. Das ist das wirklich Neue", betonte da Gloria Martins.
"Wir waren also näher, viel näher am aktuellen Kommunikationszeitgeschehen, sei es denn jetzt in der Nachrichtenwelt als auch informell über Bürger, als wir das je zuvor waren. Und das hat uns natürlich auch ein Stück weit in die Lage versetzt, immer mal wieder auch so ein Korrektiv hinauszusenden, wenn wir festgestellt haben, dass ein Gerücht besonders dominant war."
Problem Messenger-Dienste
Die intensive Nachbereitung des Kommunikationsgeschehens am 22. Juli 2016 durch die Polizei habe aber auch offengelegt, dass neben den Sozialen Netzwerken wie Facebook, Twitter, Instagram und Co. Messenger-Dienste eine mindestens genauso wichtige Rolle bei der Verbreitung von Gerüchten und Falschmeldungen spielten: "Und das ist eine ganz fatale Mischung und sorgt dafür, dass diese Informationen über diesen sehr informellen Verbreitungskanal des Messenger, wo es auch kein Screening und kein Monitoring für Behörden gibt – wir kriegen das also alles nicht mit –, für eine absolut kaskadenartige Verbreitung auch von Falschinformationen."
(uko)
Das Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Der Sonderpreis des Bundesverbandes deutscher Pressesprecher oder die Gold Awards des Fachmagazins "PR Report" – Marcus da Gloria Martins und sein Team sind vielfach ausgezeichnet worden für die Arbeit in einer dramatischen Nacht. Am 22. Juli 2016 tötet ein 18-jähriger Schüler neun Menschen in der bayerischen Landeshauptstadt, über Stunden war unklar, welchen Hintergrund die Tat hat und ob es womöglich mehrere Täter sind, die noch an anderen Orten zuschlagen wollen. Einer, der offenbar in dieser Situation die Nerven behalten hat, war eben Marcus da Gloria Martins als Sprecher der Münchner Polizei. Guten Morgen!
Marcus da Gloria Martins: Ich grüße Sie, guten Morgen, Frau Welty!
Welty: Wenn Sie jetzt an diesen Abend, an diese Nacht zurückblicken, welche Erinnerung hat sich im Laufe des Jahres verdichtet, welcher Moment ist nach wie vor der präsenteste?
da Gloria Martins: Das ist sicherlich der Anruf, also sprich, wenn man das erste Mal den Telefonhörer in die Hand nimmt und dann an der Stimme des Gesprächspartners am anderen Ende dann hört, dass da offensichtlich was ganz Großes sich seinen Weg bahnt. Und das andere, was sich bei mir auch sehr eingebrannt hat: Ich bin ja relativ spät erst in den Einsatzrand dazugekommen und bin in diese Situation reingekommen, wo der öffentliche Personennahverkehr schon stillgelegt wurde, und hatte dann hier rund um den Sendlinger Torplatz so diesen visuellen Eindruck von diesen ganzen Menschen, die aus diesem Untergrund hochkommen und tatsächlich als Massenphänomen die totale Ratlosigkeit und Verunsicherung ins Gesicht geschrieben hatten. Das ist so ein Bild, das assoziiert man nicht mit einer deutschen Großstadt.
Informationen über soziale Netzwerke und Messenger
Welty: Es bestand ja immer wieder die Gefahr, dass eine Panik ausbricht – wie sind Sie dieser Gefahr begegnet?
da Gloria Martins: Ich vermeide den Begriff Panik. Was wir in der Innenstadt hatten, war sicherlich in regional begrenzten Zonen tatsächlich so etwas Ähnliches wie eine große Verunsicherung mit Anleihen an panikhaftes Verhalten. Da denke ich insbesondere hier so an die Geschichten rund ums Hofbrauhaus, wo die Leute durch geschlossene Fenster gesprungen sind. Aber interessanterweise ist es so, zwei Straßen weiter war wieder alles ruhig. Also, das sind so Inselphänomene gewesen.
Die Frage ist natürlich nur: Wann kriegen Sie als Polizei davon mit, wie bekommen Sie davon mit und wie belastbar sind diese Informationen? Insbesondere wenn Sie keine Konsistenz in diesem Verhaltensbild haben, können Sie da ganz schlecht mit einer Breitbandtherapie in der Kommunikation drauf zugreifen und eine Strategie fahren.
Wir haben uns immer die Frage gestellt, woran lag es eigentlich, dass diese Verunsicherung um sich gegriffen hat, und sind da natürlich relativ schnell zu dem Ergebnis gekommen, das war eine Gemengelage aus natürlich einer sehr aufwühlenden Nachrichtenlage und auf der anderen Seite einer mindestens genauso aufwühlenden, aber in Teilen halt sehr unseriösen Informationslage, die in der persönlichen Nachrichtenbeschaffung des Einzelnen lag, also sprich über die sozialen Netzwerke und über die Kommunikation via Messenger.
"Erweckungserlebnis" Silvesternacht
Welty: Und was haben Sie dann entschieden anders zu machen?
da Gloria Martins: Wir hatten ja unser Erweckungserlebnis, um es mal so zu bezeichnen, in der Terrornacht Silvester 2015/16, wo wir als einzige Großstadt bislang in Deutschland so was ähnliches wie einen Terroralarm auslösen mussten. Und wenn Sie das an einem Silvesterabend um 21:15 Uhr machen müssen, dann fällt Ihnen schnell auf, dass so klassische, althergebrachte Kommunikationsmittel und -wege einer Behörde und einer Sicherheitsbehörde im Akutfall tatsächlich einfach nicht mehr State of the Art sind, wenn sie nicht elektronisch und wenn sie vor allen Dingen nicht auch die Wege der sozialen Netzwerke nutzt.
Daraus haben wir gelernt und waren dadurch auch in der Lage, in der OEZ-Nacht tatsächlich mit dem Kanal Social Media – nicht nur, aber auch mit dem Kanal Social Media – sehr schnell zu sein. Das ist das wirklich Neue. Wir waren also näher, viel näher am aktuellen Kommunikationszeitgeschehen, sei es denn jetzt in der Nachrichtenwelt als auch informell über Bürger, als wir das je zuvor waren. Und das hat uns natürlich auch ein Stück weit in die Lage versetzt, immer mal wieder auch so ein Korrektiv hinauszusenden, wenn wir festgestellt haben, dass ein Gerücht besonders dominant war.
Echtzeitkommunikation in allen Lebenslagen
Welty: OEZ war das Einkaufszentrum oder ist das Einkaufszentrum, wo die eigentliche Tat sich abgespielt hat, das sollten wir vielleicht noch mal erläutern für alle Nicht-Münchner. Es hat ja viele Gerüchte gegeben in dieser Nacht über Facebook, über Twitter, aber eben auch viele Informationen und Richtigstellungen. Wenn Sie jetzt so eine Art Bilanz ziehen wollen, empfinden Sie Social Media eher als Fluch oder eher als Segen?
da Gloria Martins: Ein Jahr später, nach einer sehr, sehr intensiven Nachbereitung seitens der Münchner Polizei, kann man die Frage nicht mit einem klaren Ja, Nein beantworten, sondern man muss feststellen, worüber reden wir eigentlich, wenn wir von Social Media sprechen. Damit sind klassisch gemeint Facebook, Twitter, Instagram und Co., was wir allerdings in diesem Zusammenhang tatsächlich als mindestens ebenso schwerwiegend und auch mächtig in der Beeinflussung unserer Bevölkerung wahrgenommen haben, sind die alltäglich genutzten Messenger-Dienste.
Das hat den Hintergrund, dass einfach jeder mittlerweile so einen Dienst benutzt und es mittlerweile für uns Alltag geworden ist, diese schnelle Echtzeitkommunikation in allen Lebenslagen zu nutzen. Wir nutzen es natürlich dann besonders intensiv, wenn um uns herum schlimme Dinge passieren, und dann passiert etwas, das fatal ist: Erstens, ich kenne die Absender von Informationen, weil sie tatsächlich Teilnehmer meiner Regelkommunikation sind, die wohnen in meinem Adressbuch quasi. Und zum anderen: Wenn wir schlimme Bilder haben – und das sind dann gerne Schnipsel aus irgendwelchen Online-Inhalten oder irgendwelche Fotos und Videos, die im Netz kursieren – und die dann von einem vertrauenswürdigen Absender geteilt werden, dann hab ich zum einen einmal das verstörende Bild, das mich emotional trifft, plus den vertrauenswürdigen Absender.
Kaskadenartige Verbreitung von Falschmeldungen
Und das ist eine ganz fatale Mischung und sorgt dafür, dass diese Informationen über diesen sehr informellen Verbreitungskanal des Messenger, wo es auch kein Screening und kein Monitoring für Behörden gibt – wir kriegen das also alles nicht mit –, für eine absolut kaskadenartige Verbreitung auch von Falschinformationen. Was wir dann in den sozialen Netzwerken später gesehen haben, war tatsächlich letzten Endes das Fieberthermometer dazu. Es gibt ein schönes Beispiel: Der Phantomtatort null, also der erste Phantomtatort dieser Art, war der Stachus, der war um 18:55 Uhr. Das erste Mal im Social Media aufgetreten ist der Stachus um 19:14 Uhr. Daran können Sie schon sehen, es gibt nicht nur Social Media klassisch als Informationsquelle, sondern etwas Neues, womit wir uns bislang überhaupt noch nicht befasst haben, drunter und viel unsichtbarer und wohnt tatsächlich regelmäßig in unserer Hosentasche, nämlich unser Smartphone.
Welty: Ist das die Erfahrung, die Sie gerne weitergeben möchten?
da Gloria Martins: Erfahrungen weitergeben bedingt ja auch immer so die Hoffnung, dass diese Erfahrung irgendwo auf fruchtbaren Boden fällt. Und wenn man sich jetzt mal anschaut, über welches Phänomen wir reden, nämlich Kommunikationskompetenz, dann ist es ein wahnsinnig großes Thema und eine riesengroße Überschrift, die eigentlich weite, weite Teile unserer Gesellschaft betrifft.
Meine Kinder wachsen schon mit einem anderen Informationsbewusstsein auf als ich, und jetzt fühle ich mich mit 44 nicht unbedingt zu eher einer reiferen Kommunikationsgruppe gehörend, sondern halte mich da durchaus auch für themenaffin, und trotzdem müssen wir feststellen, dass genau meine Alterskohorte und auch noch einige davor jene sind, die halt anfällig sind für, na ja, dem zu schnellen Teilen, dem unreflektierten Weiterleiten von Sensationsinformationen, einfach weil es in einer Situation geschieht, wo wir als Mensch tatsächlich auch vielleicht ein Stück weit mental in einer Ausnahmesituation sind und halt nicht das Augenmaß walten lassen, das wir, sag ich mal, unter Umständen sonst hätten.
Welty: Sprecher der Polizei in München und seit einem Jahr bundesweit bekannt: Marcus da Gloria Martins. Haben Sie herzlichen Dank für dieses Gespräch!
da Gloria Martins: Danke für Ihr Interesse!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.